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Psalter
Psalter
Später als in den vergangenen Tagen spannt der Sohn des Hyperion die vier Gäule an, sein Tagewerk zu verrichten und den Akkord zu erfüllen. Das Gespann nimmt einen kürzern Weg als gestern noch vom Orient zum Okzident, dass man umso früher den verdienten Feierabend im Goldenen Kahn des Onkel Ocean begießen und genießen kann. Muss da noch erwähnt werden, dass dieser Teufelskerl von Wagenlenker wie nebenbei die Hypothese widerlegt, wer morgens länger schlafe, bleibe abends länger wach?
Gilbhard dagegen ist derzeit alles andere als gülden und eher ein vorgezogner Nebelmond.
Die Vorhänge des hohen Fensters in dem alten Haus sind zugezogen. Inmitten des karg möblierten Zimmers ist ein Bett aufgestellt. An den Längsseiten des Bettes sitzen im Dämmerlicht die Venus von Milo und ein Sitzriese von Dichterfürst und Graubart. Die drei sind etwa eines Alters und bilden eine Gemeinschaft von Achtundsechzigern. Dreißig Jahre haben die beiden, die da sitzen, sich nicht mehr gesehn. Niemals hat einer der beiden dem andern seine Liebe gestanden. Und nun auch noch das! Zwischen den beiden liegt in ihrem letzten Hemde die Schwester des Mannes, von dem man nicht weiß, ob die Dackelbeine zu kurz geraten oder der füllige Körper zu lang? Bis vor Kurzem galt der Leichnam dem alten Herrn alles - vom Mutterersatz bis zur Wirtschafterin.
In der Tür aber steht der Hausarzt, will eigentlich gehen. Doch die Szenerie hält ihn bei der Tür.
Da hält jeder eine Hand des andern, dass ein Dreieck mit der Hypotenuse durch die Lebenden überm Totenlager entsteht. Plötzlich bricht der Mann am Bett das Schweigen. Erwarteten wir etwas Eigenes, so verblüfft er die Lebendigen, als er die Zeilen spricht, die der Schwager der Venus - sein väterlicher Freund - sechzig Jahre zuvor als blutjunger Spund gedichtet hat: „O lieb, solang du lieben kannst!“, wobei jeder sich im Aug des andern spiegelt, ohne dass es einer erkennen könnte. „O lieb, solang du lieben magst! Die Stunde kommt …“, dass die Venus der Andern Hände fahren lässt und leise schluchzt. Feucht sind die Augen der Frau, als der Mann die Strophe zu Ende bringt: „Wo du an Gräbern stehst und klagst!“
Die Milos wirkt nun wieder gefasst und fällt in die Rezitation ein: „Und sorge, dass dein Herze glüht und Liebe hegt und Liebe trägt, solang ihm noch ein ander Herz in Liebe warm entgegenschlägt!“
Natürlich weiß die Venus, wem die Worte gelten. ’s ist zum Heulen!, ist doch die gewesene Schwester die Jüngste der drei gewesen. Aber noch kann sich die Frau zusammennehmen, während der Mann sich behutsam vortastet: „Und wer dir seine Brust erschließt, o tu ihm, was du kannst, zulieb!“, worauf die Frau leise mitspricht: „Und mach ihm jede Stunde froh, und mach ihm keine Stunde trüb!“
Nun spricht allein die Frau: „Und hüte deine Zunge wohl“, dass die Stimme strauchelt: „Bald ist ein böses Wort gesagt!“, und sie zittert und schreit nun wie entsetzt: „O Gott, es war nicht bös gemeint.“
Der andre aber gehe und klage – was der eben nicht tut. Stattdessen wiederholt er tastend, als suche er nach den Worten, den Refrain: „O lieb, solang du lieben kannst …“
Ein wenig zittert nun auch er: „Dann kniest du nieder an der Gruft und birgst die Augen, trüb und nass - sie sehn den andern nimmermehr - ins lange, feuchte Kirchhofsgras.“
Da meldet sich ruhig von der Tür her der Hausarzt: „Wenn der Herr die Gefangenen Seelen erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.“
Überrascht überlässt der Mann der Frau das Wort. Sie haucht die Worte: „Und sprichst: O schau auf mich herab, der hier an deinem Grabe weint! Vergib, dass ich gekränkt dich hab! O Gott, …!“, schreit die Frau auf, bevor ihre Stimme versagt und sie in Tränen zu ersticken droht. Nun zittert auch der ganze Mann, als er fortfährt: „O Gott, es war nicht bös gemeint!“, dass die Frau nun hysterisch aufschreit: „Sagen das nicht alle?! – Alle sagen das, auch der größte Lump und Lügner! – Ich kann das nicht! – Wills nicht! Kann und will’s nicht sagen, muss einfach nur heulen … Zum Heulen ist’s!“
Und wieder meldet sich der Hausarzt: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“
Wieder gefasst fährt der Graubart fort: „Er aber sieht und hört dich nicht. Kommt nicht, dass du ihn froh umfängst; der Mund, der oft dich küsste, spricht …“, dass sie dazwischen fährt: „Nie wieder: Ich vergab dir längst!“, während er ruhig weiter spricht: „Ich tat's, vergab dir lange schon, doch manche heiße Träne fiel um dich und um dein herbes Wort –
doch still - sie ruht, sie ist am Ziel!“
Und’s wird, als sprächen alle vier den Refrain: „O lieb, solang du lieben kannst! O lieb, solang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst!“
Als sie nun das Ende erreicht haben, bilden die drei am Bett wieder mit ihren Armen ein gleichseitig’ Dreieck und plötzlich vermeint die Venus, dass sein Handdruck fester werde, als er fragt: „Möchtest du meine Schwester sein?“