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Psalter

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12.04.2007
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Psalter

Psalter

Später als in den vergangenen Tagen spannt der Sohn des Hyperion die vier Gäule an, sein Tagewerk zu verrichten und den Akkord zu erfüllen. Das Gespann nimmt einen kürzern Weg als gestern noch vom Orient zum Okzident, dass man umso früher den verdienten Feierabend im Goldenen Kahn des Onkel Ocean begießen und genießen kann. Muss da noch erwähnt werden, dass dieser Teufelskerl von Wagenlenker wie nebenbei die Hypothese widerlegt, wer morgens länger schlafe, bleibe abends länger wach?

Gilbhard dagegen ist derzeit alles andere als gülden und eher ein vorgezogner Nebelmond.

Die Vorhänge des hohen Fensters in dem alten Haus sind zugezogen. Inmitten des karg möblierten Zimmers ist ein Bett aufgestellt. An den Längsseiten des Bettes sitzen im Dämmerlicht die Venus von Milo und ein Sitzriese von Dichterfürst und Graubart. Die drei sind etwa eines Alters und bilden eine Gemeinschaft von Achtundsechzigern. Dreißig Jahre haben die beiden, die da sitzen, sich nicht mehr gesehn. Niemals hat einer der beiden dem andern seine Liebe gestanden. Und nun auch noch das! Zwischen den beiden liegt in ihrem letzten Hemde die Schwester des Mannes, von dem man nicht weiß, ob die Dackelbeine zu kurz geraten oder der füllige Körper zu lang? Bis vor Kurzem galt der Leichnam dem alten Herrn alles - vom Mutterersatz bis zur Wirtschafterin.

In der Tür aber steht der Hausarzt, will eigentlich gehen. Doch die Szenerie hält ihn bei der Tür.

Da hält jeder eine Hand des andern, dass ein Dreieck mit der Hypotenuse durch die Lebenden überm Totenlager entsteht. Plötzlich bricht der Mann am Bett das Schweigen. Erwarteten wir etwas Eigenes, so verblüfft er die Lebendigen, als er die Zeilen spricht, die der Schwager der Venus - sein väterlicher Freund - sechzig Jahre zuvor als blutjunger Spund gedichtet hat: „O lieb, solang du lieben kannst!“, wobei jeder sich im Aug des andern spiegelt, ohne dass es einer erkennen könnte. „O lieb, solang du lieben magst! Die Stunde kommt …“, dass die Venus der Andern Hände fahren lässt und leise schluchzt. Feucht sind die Augen der Frau, als der Mann die Strophe zu Ende bringt: „Wo du an Gräbern stehst und klagst!“
Die Milos wirkt nun wieder gefasst und fällt in die Rezitation ein: „Und sorge, dass dein Herze glüht und Liebe hegt und Liebe trägt, solang ihm noch ein ander Herz in Liebe warm entgegenschlägt!“

Natürlich weiß die Venus, wem die Worte gelten. ’s ist zum Heulen!, ist doch die gewesene Schwester die Jüngste der drei gewesen. Aber noch kann sich die Frau zusammennehmen, während der Mann sich behutsam vortastet: „Und wer dir seine Brust erschließt, o tu ihm, was du kannst, zulieb!“, worauf die Frau leise mitspricht: „Und mach ihm jede Stunde froh, und mach ihm keine Stunde trüb!“
Nun spricht allein die Frau: „Und hüte deine Zunge wohl“, dass die Stimme strauchelt: „Bald ist ein böses Wort gesagt!“, und sie zittert und schreit nun wie entsetzt: „O Gott, es war nicht bös gemeint.“
Der andre aber gehe und klage – was der eben nicht tut. Stattdessen wiederholt er tastend, als suche er nach den Worten, den Refrain: „O lieb, solang du lieben kannst …“
Ein wenig zittert nun auch er: „Dann kniest du nieder an der Gruft und birgst die Augen, trüb und nass - sie sehn den andern nimmermehr - ins lange, feuchte Kirchhofsgras.“

Da meldet sich ruhig von der Tür her der Hausarzt: „Wenn der Herr die Gefangenen Seelen erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.“

Überrascht überlässt der Mann der Frau das Wort. Sie haucht die Worte: „Und sprichst: O schau auf mich herab, der hier an deinem Grabe weint! Vergib, dass ich gekränkt dich hab! O Gott, …!“, schreit die Frau auf, bevor ihre Stimme versagt und sie in Tränen zu ersticken droht. Nun zittert auch der ganze Mann, als er fortfährt: „O Gott, es war nicht bös gemeint!“, dass die Frau nun hysterisch aufschreit: „Sagen das nicht alle?! – Alle sagen das, auch der größte Lump und Lügner! – Ich kann das nicht! – Wills nicht! Kann und will’s nicht sagen, muss einfach nur heulen … Zum Heulen ist’s!“

Und wieder meldet sich der Hausarzt: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“

Wieder gefasst fährt der Graubart fort: „Er aber sieht und hört dich nicht. Kommt nicht, dass du ihn froh umfängst; der Mund, der oft dich küsste, spricht …“, dass sie dazwischen fährt: „Nie wieder: Ich vergab dir längst!“, während er ruhig weiter spricht: „Ich tat's, vergab dir lange schon, doch manche heiße Träne fiel um dich und um dein herbes Wort –
doch still - sie ruht, sie ist am Ziel!“

Und’s wird, als sprächen alle vier den Refrain: „O lieb, solang du lieben kannst! O lieb, solang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst!“

Als sie nun das Ende erreicht haben, bilden die drei am Bett wieder mit ihren Armen ein gleichseitig’ Dreieck und plötzlich vermeint die Venus, dass sein Handdruck fester werde, als er fragt: „Möchtest du meine Schwester sein?“

 
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Was hat mich zu dieser unzeitgemäßen Betrachtung verleitet? In der Reihenfolge ihres Auftritts:

Der Jungspund Vettel & die alten Säcke von Truck Stop

Die Gottfried Keller Montage

Michael Krausnicks "Wir sind das Volk!" in der Zeit Nr. 24 vom 10.Juni d. J.. S. 22

Freiligraths "O lieb, solang du lieben kannst"

Maximilian Schells Filmporträt "Marlene"

Psalm 126

 

Hallo Friedel

Ein Ausflug an das Totenbett, in Anwesenheit der Venus von Milo, welch köstlich-süffisanter Gedanke nahm da von dir Besitz. Das Ungefällige, durch die gealterte Marlene Dietrich inspiriert, welches zwischen ihr und dem Geliebten daniederliegend, lässt mir das Bild des Blauen Engels in der Erinnerung aufsteigen. Der Klageruf der Elegie bringt mir beinah Ovid vor geistigem Auge wieder nahe. Noch fehlt mir der Klang von Marlenes Stimme, aber das wäre des Guten zu viel.

In Sprache und Raffinesse wohl dieser Zeit enthoben, zwischen Jahrhundert und Jahrtausenden schwankend, doch transkribiert ein immerwährendes Stück von Menschsein.

Der November hat es doch in sich. Aber warum gönntest du der Toten nicht noch ein paar Netzstrümpfe zum kargen Hemd? ;) Nicht allzu leicht, aber gern gelesen.

Gruss

Anakreon


Nur als Nachtrag ein Hinweis. Das Pseudonym von Schell wird einfacher durchschaubar, wenn man Maximilina schlicht Maximilian nennt.

 

Hallo Anakreon,

danke fürs Lesen & kommentieren!

In Sprache und Raffinesse wohl dieser Zeit enthoben, zwischen Jahrhundert und Jahrtausenden schwankend, doch transkribiert ein immerwährendes Stück von Menschsein,
treibt mir so was wie Röte ins Gesicht - obwohl der Urwald in meinem Gesicht ein Geheimnis draus macht.

Aber warum gönntest du der Toten nicht noch ein paar Netzstrümpfe zum kargen Hemd?
Ob Netzstrümpfe oder Wollsocken, das Leichentuch verdeckt's.

Nicht allzu leicht, aber gern gelesen,
was mich freut!

Gruss

Friedel

PS:

Maximilina
da war wieder'n Finger (ich brauch max. drei am keyboard) schneller als ein anderer.

 

Hallo Friedrichard,
wage ich mich auch einmal an einen deiner Texte.

Interessant ist er, wenn auch nicht leicht (aber das dürfte kaum deine Intention gewesen sein). Zugegebener Maßen, mir fehlt das Wissen und die Muße, um die Querverweise und Zitate nachzuvollziehen, folglich kann ich in diese Richtungs nichts beurteilen und muss mich vor Fehlgriffen fürchten.

Demnach bleibt mir nur die eigene Warte für den Kommentar:

Später als in den vergangenen Tagen spannt der Sohn des Hyperion die vier Gäule an, sein Tagewerk zu verrichten und den Akkord zu erfüllen. Das Gespann nimmt einen kürzern Weg als gestern noch vom Orient zum Okzident, dass man umso früher den verdienten Feierabend im Goldenen Kahn des Onkel Ocean begießen und genießen kann. Muss da noch erwähnt werden, dass dieser Teufelskerl von Wagenlenker wie nebenbei die Hypothese widerlegt, wer morgens länger schlafe, bleibe abends länger wach?
Wenn ich nicht irgendwelche Querverweise übersehen habe, was ich nicht ausschließen kann und will, scheint mir der Einstieg als solcher nicht recht passend: Für sich genommen ist er durchaus lesenswert, aber als Anfang verbindet ihn, für mich, zu wenig mit dem Rest der Geschichte - mir erscheint er als Selbstzweck.

Venus von Milo und ein Sitzriese von Dichterfürst und Graubart. Die drei sind etwa eines Alters und bilden eine Gemeinschaft von Achtundsechzigern.
Hier habe ich Bezugsprobleme: Wer sind die drei? Dem weiteren Verlauf entnehme ich die Hypothese: Gemeint sind die Venus, sowie ein Dichter namens Graubart und seine verschiedene Frau. An der betreffenden Stelle aber herrscht Verwirrung. Mein erster Schluss war, Graubart und der Dichterfürst seien verschiedene Personen.

Und nun auch noch das!
Will mir hier stilmäßig nicht passen - für mich klingt es zu umgangssprachlichen für den Rest des Textes. Meiner Meinung nach kann gestrichen werden.

Da hält jeder eine Hand des andern, dass ein Dreieck mit der Hypotenuse durch die Lebenden überm Totenlager entsteht.
Ich bin kein Freund von Mathematik in der Literatur, wenn sie nicht umbedingt für die Handlung nötig ist. Bleibt aber persönliche Vorliebe.

Da meldet sich ruhig von der Tür her der Hausarzt: „Wenn der Herr die Gefangenen Seelen erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.“
Der Arzt hat für mich zu wenig Funktion. Ich sehe kaum Bereicherung des Verhältnisses zwischen Venus und Graubart durch seine Person. Er bleibt der "Psalmeinwerfer".

Mein Textverständnis:
Dein Pärchen lotet nach dem Tod der hindernden Ehefrau die Möglichkeiten ihrer Beziehung aus und verschanzen sich dabei hinter Versen, die stellenweise sowohl auf die Tote als auch sie beide gemünzt werden können. Ein Versteckspiel um zwei Ecken gedacht - ich wusste doch Bildung ist für etwas gut;) Ich hoffe, ich liege nicht völlig daneben.

Gruß,
Kew

 

Grüß Dich Kew,

schön, dass Du mich alten Herrn mal besuchst - ein Wagnis ist's sicherlich nicht, bin ja nicht Prokrustes - womit wir schon mitten drin sind.

Interessant ist er, wenn auch nicht leicht (aber das dürfte kaum deine Intention gewesen sein).
So isset & soweit kenn'n wir uns janz jut.

Zugegebener Maßen, mir fehlt das Wissen und die Muße, um die Querverweise und Zitate nachzuvollziehen, folglich kann ich in diese Richtungs nichts beurteilen und muss mich vor Fehlgriffen fürchten.
Keine Bange, selbst Fehlgriffe könnten Deutungen geben, an die ich selbst nicht gedacht hab. Wenn einer sich verläuft, lernt er auch zwangsläufig andere Wege zu gehen.

Demnach bleibt mir nur die eigene Warte für den Kommentar
: So sollte es immer sein und so ist's gut und vor allem besser, alsjemand Honig in den Bart zu schmieren.

Später als in den vergangenen Tagen ...
Herbst ist, die Tage werden kürzer. Der Sohn des Hyperion ist Helios, Okeanos der Mythologie nach sein Onkel (Sonne & Wasser, wer hätt das nicht gern?) Vettel (der Teufelskerl) ist WM und Truck Stop behauptet, wer morgens länger schläft ...

mir erscheint er als Selbstzweck
So isset, wie alle Belletristik.

Hier habe ich Bezugsprobleme: Wer sind die drei? Dem weiteren Verlauf entnehme ich die Hypothese: Gemeint sind die Venus, sowie ein Dichter namens Graubart und seine verschiedene Frau.
Da hat der Graubart Glück gehabt, nicht zum Graurücken zu werden ... Aber da interpretierstu zu viel rein: die Tote ist genau das, was da steht und die beiden Sitzenden weder krank, noch verhaltensgestört. Nee, die sind ziemlich normal, jeder dem andern bis gerade die große, unerreichbare Liebe ... Für die war der Arzt nicht zuständig, womit das
Und nun auch noch das!
eben nicht gestrichen wird. Und meinstu, ich könnte nicht Umgangssprache pflegen? Nee - ne?

Der Arzt hat für mich zu wenig Funktion.
Der hat gerade seinen Beruf erfüllt und erfüllt ihn immer noch. Selbst ein Zahnarzt hat sich um mehr als die Zähne zu kümmern (Angst/Furcht der Patienten ...)

Ich sehe kaum Bereicherung des Verhältnisses zwischen Venus und Graubart durch seine Person.
Tatsächlich stört er aber nicht. Ist eher unauffällig und - wie gesagt - von der ärztl. Berufung her hervorragend.

Er bleibt der "Psalmeinwerfer".
So stellt es sich dar, ohne so zu sein.

Zu Deiner Interpretation sag ich mal nix. Aber Gottfried Keller & Marie Melos - die Schwägerin von Freiligrath, als auch Marlene Dietrich & Maximilian Schell blieben bisher unerwähnt.

Ich dank Dir - auch für den Versuch Deiner Interpratation.

Gruß

Friedel

 

Salü friedel,

wieder so ein Text, vor dem ich rätselratend sitze und doch nicht vorankomme, da helfen mir auch deine Angaben nicht recht weiter. Lebe ich schon zu lange im Ausland?? Fehlen mir interne Kenntnisse? Nur das Wissen um den Thule-Menschen lässt mich erschauern und in braunen Nebeln tappen.
Und gibt es neben dem Dichterfürsten, unserem Einzigen, noch einen weiteren, den ich nicht kenne? Der eine Einzige hatte doch keinen Bart? :D

Aber nichts desto trotz: Dein Schreibstil ist hier sehr angenehm und konkret zu lesen – ohne die komplizierten Wortschöpfungen früherer Texte. Das fällt auf und ist aus meiner Sicht lobenswert.
Kleinstkram muss sein:

Doch die Szenerie hält in bei der Tür.
hält ihn

Schick mir ne PM und schlüssel mir den Inhalt auf, bitte!

Lieben Gruss,
Gisanne

 

Lebe ich schon zu lange im Ausland?
, aber nee,

liebe Gisanne,

es fehlen auch keine Kenntnisse. Kann man den Text nicht als Kammerspiel lesen - auch ohne die Quellen zu kennen? Stattdessen schaert mich ('n janz klein bissken)

Nur das Wissen um den Thule-Menschen lässt mich erschauern und in braunen Nebeln tappen

Haben wir nicht einen bärtigen Dichterfürsten, der zwar nicht auf'm Olymp hockt sondern zu Seldwyl?

Dein Schreibstil ist hier sehr angenehm und konkret zu lesen
freut mich und
hält ihn
ist korrekt - natülrlich!

Dank Dir!

Gruß

Friedel

 

Mit dem Thule-Menschen meinte ich den

Gilbhard
und natürlich, wie konnte ich das vergessen: Der bärtige ist G. Keller, ja.

Knackpunkte Deiner Geschichte sind die Fährten, auf die Du lockst, sie lenken ab, führen über etliche Hirnwindungen manchmal zum Ziel oder eben doch nicht. Das ist verwirrend, Friedel. Bevor ich mich auf ein 'Kammerspiel' einlassen kann, spring ich vom Stuhl hoch, wälze Bücher um Bezüge zu finden und damit sind dann die geistigen Kulissen allesamt verschoben ...

Aber, meckern nützt ja nix :lol:

Lieben Gruss,
Gisanne

PS: Der Schlusssatz, ja, was bleibt dem armen Dichter übrig, als der Wunsch nach Transformation eines irdischen Begehrens?? :D

 

Auf'n Gilbhard als Thule-Mensch wär ich mein Lebtag nicht gekommen, dass die althochdeutsche - das übrigens viele alemannische Elemente enthält - Monatsbezeichnung direkt aus Niflung käme ...

Ja, das mit den vielen Wegen ist vielen ein Problem,

liebe Gisanne,

aber muss man nicht erwarten, dass der Leser da durch finde, schließlich habe ich noch niemand klagen hören übern Emissionshandel, dass man getrost unterstellen kann, dass dies das ver- & selbstverständlichste von der Welt sei. Nicht immer Wälzer wälzen, wenn ich mal wieder pups (ich sachet ma' so).

Gruß

Friedel

Ach ja: der Satz zum Schlusssatz (welch schönes Wort: zwo Vokale behaupten sich gegen drei Zischlaute!) gefällt mir außerordentlich ...

 

Hallo Seytania,

vielen Dank fürs Lesen & Interpretieren / Kommentieren! Ja, so ist das mit der Liebe des Lebens - hätte man sich früher ausgesprochen ... man wäre aller Wahrscheinlichkeit nach im Sumpf der Gewohnheit untergegangen. Passt sich nicht so gesehen der Schlussatz - schau auf die Funktionen der Schwester! - voll ein ...?

Gruß

Friedel

 
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Hallo Seytania,

da bringstu mich aber auch ans Nachdenken, denn dass es das historische Vorbild der Venus tatsächlich zwo Tage später einholt ... Ästhetischer als das rechtwinklige ist nur noch das gleichseitige Dreieck ...

Ich komm drauf zurück auf historische Vorbilder (sind ja eigentlich schon genannt) & Ästhetik!

Hallo Seytania,

komm erst heute (15.12.10) dazu, ausführlich auf Deinen letzten Beitrag zu antworten.

Deine Lesart des Schlussaktes hat was, tatsächlich aber wäre er im Zusammenhang mit einem Satz mittendrin zu sehen:

Bis vor Kurzem galt der Leichnam [der Schwester] dem alten Herrn alles vom Mutterersatz bis zur Wirtschafterin,
dem der Schlusssatz
„Möchtest du meine Schwester sein?“
in moderner und aktueller Zeit die Liebe zur haushaltsnahen Beschäftigung wandelt. Das wäre also Macho-verhalten und Satire.
Mancher wird’s als zynisch oder obszön empfinden, was freilich eher für „toxische“ Papiere, die es an den Banken zu „entgiften“ gilt – was nix anderes bedeutet, man versucht, sie andern Leuten wieder anzudrehn – gegenüber dem Hunger in der Welt gilt. Aber:

Tatsächlich kommt Deine Deutung zum Zuge, wenn wir die fiktive Geschichte für bare Münze nähmen, was sehr indirekt auch möglich wäre, zugleich aber alles Gerede über „Authentität“ und „Realität“ in literarischen Werken auf den Kopf stellte, sind doch drei der Figuren incl. der verwendeten Daten realen Vorlagen entnommen:
da ist die Venus, real Maria Melos (eine andere Schreibweise einer der Kykladen, * 19. 7.1820 – 8.10. 1888 +, Schwägerin Ferdinand Freiligraths), über den Gottfried Keller (* 19. 7.1819 – 15. 7.1890 +) die „Milos“ kennen und lieben lernte und m. E. im Grünen Heinrich in der Figur der Judith verewigt.
Die Liebe bleibt unerfüllt, denn er leidet – wie sich später herausstellen wird – wie sie still vor sich hin, bis die Freilgraths 1846 nach London ziehn. Über dreißig Jahre später lebt die Liebe dann distanziert und ironisierend (brieflich) wieder auf. Die Melos ist genauso ledig geblieben wie der Keller.
Der reale Tag, der dort beschrieben wird, ist der 6. Oktober 1888, an dem Regula, die Schwester Kellers, gestorben ist.
Wenn Du die Daten vergleichst, sieht man, wie nahe Deine Vermutung eingeschlagen hat!

Gruß

Friedel

 

Gefällt mir sehr gut, deine kleine Geschichte von Liebe und Zeit und vom Ende derselben.

Auch Dir ein gutes neues Jahr (bevor's wieder rum ist!),

liebe niname!,

und entschuldige, dass ich erst so spät antworte - mir war aber die Brille abhandengekommen und was beim Zeitunglesen vielleicht gerade noch über die Armlänge klappen mag, funktioniert am Bildschirm bei einem blinden (und zugegeben: halbtauben) Fisch nicht allzu gut bis überhaupt nicht. So hab ich halt viel gelesen und der Brille geharrt ...

drei Tage habe ich an deiner Geschichte gelesen
ließe in der Tat einiges an Interpretation offen, was das l
- doch immer noch stehe ich dämlich da
selbstverständlich eingrenzt. Du wirst lachen: ich hab kein Abi, gerade mal die diskriminierende "Mittlere" Reife, bin also mittelmäßig unreif (oder roh?), aber dann doch Opfer des zwoten Bildungsweges geworden, der auch ein Holzweg gewesen sein könnte.

Ich seh aber, dass ich abfärb:

Du überschreitest eindeutig meinen Horizont
kann man auch mehrdeutig finden. Aber warum sollten wir nicht Grenzen überschreiten? Bis dahin darf einen auch mal das Bauchgefühl regieren, denn einfach "einfach" zu sein, wär mir zu einfach. Da müsst ich mich schon einfältig geben

Insgesamt eine Herausforderung
und dann doch die Liebe,
wenn Sprache Melodie hat und genoß dieselbe in deiner Geschichte mit Freude
, dass ich mich auch freu ...

Gruß

Friedel

 
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Moin Friedel

Nach dem ersten Absatz musste ich lachen. Diesen Kurzausflug in die Mythologie mit so einer verzwickten Frage zu krönen! Aber danach bist du ja ein wohlwollender Friedrichard, der Text ist fast eingängig. Die Szene hätte für mich auch gut in Freiligraths Zeit spielen können, ich rätsel grad, welchen Mehrwert du darin gefunden hast, aus den rezitierenden Trauergästen 68er zu machen. Um die Zeitlosigkeit der Themen anschaulich zu machen? Liebe und Tod, dicke Fische.

Kubus

PS: Glückwunsch zum erfolgreichen Lyrikschmuggel über die Grenze des Kurzgeschichtenlands.

Zusatznachtrag:

Bis vor Kurzem galt der Leichnam dem alten Herrn alles - vom Mutterersatz bis zur Wirtschafterin.
Eine Zombie-Dame?

 

Grüez dich wol Kubus,

da bin ich nach einem Monat Pause zum Psalter tatsächlich noch einmal überrascht worden. Der Widerstreit von Uraltem (Mühtos), großen Gefühlen (Tragikomödchen) und dem Trivialsten überhaupt (wer spült und wäscht morgen?), dass der Herr seine Meisterschaft nach Außen ausleben kann ist schon mit angedacht ...

der Text ist fast eingängig,
fast?

In der Tat ist's ein Nachzügler zur Gottfried-Keller-Rezension und hat niemals so stattgefunden: reine Fiktion - da war Keller 68, als seine zwo Jahre jüngere Schwester starb - sinnigerweise namens Regula - die ihnzeitlebens allimentiert hat und nach dem Tode der Mutter den Haushalt allein führte.
Auf den Tag genau ein Jahr jünger als Keller: Marie Melos, die Frau seines Lebens und die Schwägerin Freiligraths.
D. h. der Altersdurchschnitt war 67: echte 68-er also! - bei Geburtstagen wird gemeinhin der erste (die Geburt) unterschlagen ... Handwerker kennen das Problem ganz handfest: ein Zaun von zehn Metern Länge jeden Meter mit einem Pflock versehen ergibt wieiviel Pflöcke?

Liebe und Tod, dicke Fische
- ich ergänze: Liebe, Tod & Haushalt, dicke Fische - paniert oder nicht.

Eine Zombie-Dame?
Mitneffen, sondern vor kurzem lebte Regula - im wirklichen Leben eine resolute Frau, die sogar Theodor Storm respekt abnötigte.

Gruß und Dank

Friedel

 

Hallo Friedel.

Aber so, wie das da steht, wäre sie als Leichnam für ihn die Fraumutterwäscherin gewesen! So. Ich würde da so was schreiben wie: bis vor Kurzem galt die jetzt Tote ... Aber das mag übertrieben sein. Stört ja sonst niemanden.

D. h. der Altersdurchschnitt war 67: echte 68-er also! - bei Geburtstagen wird gemeinhin der erste (die Geburt) unterschlagen

Na da schau her. In die damalige Zeit passt mir die Szene besser, auch der Mythologie-Bezug zu Beginn.

Nachtgrüße

Kubus

 

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