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Prometheus
Sie schmierte sich den schwarzen Kajal um die Augen, blinzelte, grinste und ignorierte die Tatsache, dass ihre Wimpertusche Flecken auf ihren blassen Wangen hinterlassen hatte.
Er grinste ebenso wie sie und ließ sich über den Boden gleiten. Seine Füße bewegten sich fließend, als würde er über den weichen sandigen Meeresgrund laufen. Etwas an ihm erweckte in ihr den Eindruck, dass er jeden Moment verschwinden könnte, sein muskulöser nackter Körper sich jeden Augenblick in Luft auflösen.
Das Feuer um sie herum brannte immer stärker, die Flammen berührten ihre Haut, ließen ein unerklärliches kühles Kribbeln in ihren Herzen aufsteigen und leuchteten in einem tiefen Blutrot, genau der Farbe, in der sie nun ihre dünnen Lippen anmalte, während der Lippenstift in ihrer Hand zerfloss.
Sein Lächeln wurde immer breiter und ließ das Feuer einen kalten Schauer über seine unversehrte Haut jagen, während sein Blut kochte und die Augäpfel aus den Augenhöhlen traten.
Ihre ausgewaschene Jeans löste sich langsam von ihren Beinen, während das Feuer immer weiter nach oben kroch und ihren weißen Körper offenbarte, trainierte Muskeln, die anzuspannen sie nicht für nötig hielt, ihre straffe flache Brust und die für eine Frau so ungewöhnlich breiten Schultern.
Sie bewegte sich nicht, schloß nur die Augen und spürte, wie das Feuer ihre kurzen blonden Haare nach hinten strich und, nachdem es sie zum letzten Mal gestreichelt hatte, weiterzog, als hätte es ein klares Ziel, das diesen kurzen schmerzhaften Abschied erforderte.
Er sank auf den Boden und sein Herz setzte aus, als seinen Lippen ein Laut entwich, der nach Luft schrie, Luft, die zu atmen er gewohnt war.
Sie machte einen Schritt nach vorn, beugte sich langsam hinunter und drehte seinen leblosen Körper um, der im roten Schein des Feuers glühte. Für einen Moment blieb ihr Blick an seinem kantigen Gesicht haften, an dem breiten Hals und den weit aufgerissenen Augen, deren Grün sie seelenlos anstarrte und herausforderte.
Dann stieg sie über seine leicht angewinkelten toten Beine und setzte sich auf seinen Bauch. Ihre rechte Hand bewegte sich wie von selbst zu seiner Brust, presste die Handfläche auf die dünne Haut über seinem Herz und ihr Körper zuckte mehrmals, während ihr Kopf wie in Trance nach hinten sank.
Das Feuer flackerte um sie herum, während sein Körper sich unter ihrem überraschend hohen Gewicht aufbäumte und die Beiden ineinander versanken. Das Stahlgrau ihrer Augen wurde weiß und seine Nasenlöcher weiteten sich, als er die Kraft aufsog, die aus ihrer Hand in ihn hineinfloss. Der Rauch umhüllte sie, verwischte ihre Konturen und kroch in sie hinein, bis auch sie nach vorn fiel und mit dem Gesicht auf seiner harten Schulter landete, die Arme neben sich herbaumelnd und weder tot noch lebendig.
Doch als er die Augen aufschlug, war da nur ein unerträgliches Blau, leuchtender, ja, blauer als alles, was er je zuvor gesehen hatte. Und als er sich aufsetzte, fand er sich auf einer Bank wieder, angezogen und sie neben ihm, mit dem ihm so vertrauten Lächeln auf den roten Lippen.
Sie leckte sich über den rechten Zeigefinger und wischte den Fleck weg, den ihre Wimpertusche zuvor hinterlassen hatte.
Athene. Sagte er.
Sie werden uns finden. Sagte sie. Angst? Nicht Angst, nicht sie.
Angst? Fragte er.
Sie lächelte und strich ihr weißes T-Shirt glatt. Als ob sie je so gewesen wäre.
Sie. Er.
Er. Sie.
Was ist, wenn sie uns finden? Fragte er.
Sie antwortete nicht, packte seine Hand und zog ihn hoch, zerrte ihn durch den Weg zwischen den türkisen Bäumen, deren Äste sich zu ihnen hinunterbeugten, sie weiterscheuchten.
Du musst. Du weißt, dass du musst.
Büchse. Nicken. Er.
Es drehte sich alles um sie herum und sie hielt immer noch seine Hand, sie brauchten sich, mehr als alles Andere in dieser Welt.
Was würde er tun ohne die Wärme ihrer Hand?
Lauf. Sagte sie.
Er ließ los und sein Arm schien seine ganze Kraft zu verlieren, als er losrannte, Bäume, Laub unter seinen Füßen, Erde und Stein und Asphalt, ein Weg, über den er raste. Seine Turnschuhe knallten immer wieder auf den Boden. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Als ob sie nicht in den Himmel emporstieg, als ob er nicht spürte, dass sie hoch über ihm schwebte, dass sie ihre grauen Flügel ausgebreitet hatte, dass jeder sie sehen konnte, aber niemand hinsah. Nur ein Kind, es spürte seine eigenen kleinen Flügel, rieß sich von seiner Mutter los und rannte ihr nach.
Konnte nicht. Büchse.
Ampel, rot, seine Füße wollten nicht loslassen, krallten sich fest, Turnschuhe störten, er streifte sie ab, barfuß.
Barfuß. Eine Spur von Blut. Schreie des Kindes. Er wusste, wofür. Wusste, warum das Kind schrie und wie viele es waren, die nicht schrien.
Glasscherben, Steine, leichter Schmerz, leicht zu ignorieren, er rannte, immer schneller, weil er nicht wusste, wohin, weil er keine Zeit mehr hatte, weil er sich tot fühlte und das Rennen Leben hieß, weil er die Luft an sich vorbeirauschen spürte, während der einzige Grund, weshalb sein Herz noch klopfte, sie blieb, ihre Hand, die fehlte. Er spürte ihre Abwesenheit, spürte sie tausendmal schmerzhafter als seine aufgerissenen Füße.
Aber auch die Andere spürte er, die, die nicht dazugehörte, die sich nicht bewegte, die wartete, auf sie, doch er würde es sein, der kam, an ihrer Stelle.
Eine Straße weiter, an einem Häuserblock vorbei, hoch auf die Brücke, fast hinaufgeflogen.
Er blieb stehen, blickte hinauf in den Himmel und sprang.
Niemand, der das gesehen hatte, was er sah, war noch am Leben. Konnte am Leben sein.
Ein Regen aus Lichtern. Jeder Tropfen eine andere Farbe, glitzernd vor dem schwarzen Hintergrund. Der Regen blieb in der Luft hängen, dann fiel er mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit auf den Boden, auf die unmöglich schwarze Dunkelheit. Jeder Tropfen zersprang in tausende Weitere, alles glitzerte, schwarz und vollkommen unwirklich.
Er trat auf die Tropfen, blickte auf und fand sich mitten auf der Autobahn wieder, nur dass alle Autos mitten in der Bewegung erstarrt waren. Nichts rührte sich, nur sein Herz klopfte voller Panik und das lange blonde Haar der Anderen wiegte sich im leichten Wind.
Sie stand zwischen zwei Autos und blickte auf die schwarze kleine Büchse, die sie in den Händen hielt. Sie sah schwach aus, verletzlich und so hübsch, dass er den starken Drang verspürte, sie fortzubringen, an einen Ort, wo sie in Sicherheit wäre… Er machte ganz langsam einen Schritt nach vorne, als fürchtete er, er könnte die Welt wieder aufwecken, wenn er eine unvorsichtige Bewegung machte.
Die Andere sah auf, traurig und allein gelassen, eine leere Einsamkeit in den großen Augen. Ein kurzes weißes Sommerkleid, Flip Flops und das kleine schwarze Kästchen in ihren zarten Händen, das sie von sich fernhielt, als wäre es ein fettes triefendes Insekt.
Er machte einen weiteren Schritt, rannte los, umgeben von der schreienden Dunkelheit, auf sie zu, den Blick auf die Büchse geheftet, um ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen, weil es zu perfekt war, um sich nicht darin zu verlieren.
Und dann war er da, entriss ihr die Büchse und spürte, wie die Leere sich ausbreitete, wie die Einsamkeit in sein Herz kroch, sich dort einnistete und seine Gedanken vergiftete. Die Liebe, die er gespürt hatte, löste sich auf und das Klopfen in seiner Brust wurde ihm schmerzlich bewusst. Es wurde erst unerträglich schnell und laut, dann wieder langsamer und erstarb schließlich… Er starb, er wusste es und sie war nicht da, er war allein und die Büchse in seinen Händen fühlte sich plötzlich unheimlich schwer an.
Er spürte, wie seine Beine nachgaben, roch den Qualm, spürte die Hitze des Feuers, das ihn umgab, ein rotes Feuer in der Dunkelheit.
Und dann, in dem einen Augenblick, in dem es ihm schwarz vor Augen wurde, hörte er eine Stimme.
Ihre Stimme.
Er hörte nicht, was sie sagte, verstand keins ihrer Worte, aber irgendwie, auf eine unerklärliche Art und Weise, fand er die Kraft in seinen Fingern, die Kraft, den Deckel anzuheben.
Die Welt explodierte.
Die Tropfen flogen zurück in den Himmel, schwarz wurde blau, blau wurde golden und golden wurde Licht.
Die Autos fuhren weiter, als wären sie nie stehengeblieben, eine Autobahn, er und sie und die Andere, irgendwo zwischen den rasenden Farben.
Die Büchse stand auf dem Asphalt, ein schwarzes Kästchen auf dem weißen Trennstreifen zwischen den Fahrbahnen und einem durchsichtigen Himmel.
Du hast gegen die Regeln verstoßen. Es war nicht sie, die es sagte, es war eine Stimme ohne Tonlage, ohne Klang und ohne einen erkennbaren Ursprung.
Er lächelte.
Das ist ja nichts Neues. Sagte sie und stand genau vor ihm und blickte ihm in die Augen und er fand sie schön. Und dann drehte sich die Welt noch einmal um.
Nur dass er nun bemerkte, dass nicht die Welt sich verändert hatte, sondern er selbst, sein Innerstes strahlte in dem selben Licht wie der Himmel und das Licht brannte und erlosch und es war vorbei und es hatte sich nichts geändert.
Die Autos fuhren weiter und die Fahrer streckten ihre Köpfe aus den Fenstern, um den Verrückten sehen zu können, der mitten auf der Autobahn stand und lebte.
Warum? Fragte er.
Sie öffnete leicht den Mund und malte die Konturen ihrer Lippen mit ihrem roten Lippenstift nach. Dann lächelte sie wieder.
Du wolltest es wissen.
Nur deshalb? Fragte er. Und riss die Augen auf.
Nur? Wiederholte sie. Und wurde ernst. Es gibt immer noch etwas, was sie nicht haben.
Auch das werde ich euch nehmen! Er schrie schon fast, sah einen Polizeiwagen, hörte die Sirene, leise, verschwommen, als käme sie aus einer anderen Welt.
Sie verschwand.
Er blieb. Allein.
Er wusste.