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Problembewältigung
PROBLEMBEWÄLTIGUNG
Draußen fiel dichter Schnee. Die Temperaturen waren kurz davor, die Grenze des Erträglichen zu durchbrechen. Dickson schüttelte es bei dem Gedanken, jetzt frierend auf der Straße stehen zu müssen. Gott sei Dank hatte er das nicht nötig. Gekleidet in einem Anzug, der das Vielfache von Monatsgehältern einiger seiner Angestellten gekostet hatte, sah er aus dem Panoramafenster des Besprechungsraumes im achthundertsten Stock des Dickson Towers. Sein Turm, sein Geschenk an die Menschheit. Irgendwelche arabischen Scheichs hatten vor vielen Jahren eine künstliche Insel vor Dubai erschaffen, die man mit bloßem Auge aus dem Weltraum sehen konnte. Dickson lächelte. Was war diese Insel schon im Vergleich zu seinem Turm? Gar nichts! Eine kleine Fußnote in der Geschichte der modernen Architektur, die nur drei Jahre nach Fertigstellung durch zwei Erdbeben, einen Vulkanausbruch am Meeresgrund sowie einer gewaltigen Flutwelle von der Bildfläche verschwand. Ein zweites Mal ging der ewige Traum von Atlantis unter. Und jeder sah es live auf einem Sender seines Medienkonzerns. Gut, einige hunderttausend Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben, aber... Was interessiert es dich, dachte Dickson. Sein Lächeln verwandelte sich in ein leichtes Grinsen. Gott, waren das traumhafte Wochen gewesen. Die Werbeeinnahmen waren um das Vierfache gestiegen. Ein Bombengeschäft für Dickson. Weitere Milliarden für ihn. Er erinnerte sich an einen inzwischen legendären Spot, der die Araber dermaßen ins Lächerliche gezogen hatte, daß er nach nur einmaligem Senden zurückgenommen werden mußte. Und heute? Er hatte alles und wollte dennoch mehr. Dickson drehte sich um.
"Also gut, meine Herren!“ Er setzte sich auf seinen schlicht wirkenden Holzstuhl, der am Kopfende des riesigen Tisches stand. „Also gut.“ Dickson legte den Kopf etwas quer. „Überraschen Sie mich. Sie werden bezahlt, um den Pöbel bei Laune zu halten.“ Langsam lehnte er sich zurück. „Und bis jetzt hat nichts funktioniert. Weder die Neubelebung der Gladiatorenkämpfe, Dinosaurier, Quizsendungen, Krawallshows, Knast-TV... nichts! Gar nichts! Nicht einmal dieses Football, einst die beliebteste Sportart in Amerika. Und was ist mit Soccer? Hm? Selbst die Wiedereinführung öffentlich zugänglichen Kinocentern hat nichts gebracht. Meine Quoten stagnieren. Verdammt!“ Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Warum schmeiße ich Sie nicht allesamt raus und suche mir fähige Köpfe, hm?“ Drohend sah er die drei am Tisch sitzenden Menschen an.
Am anderen Ende des Tisches räusperte sich ein junger Mann. Er trug ein T-Shirt, das locker über seinen bleichen Jeans hing. „Mr. Dickson....“
„Wer sind Sie?“ unterbrach ihn Dickson barsch.
„Oh... George.“ sagte der junge Mann.
Dickson nickte. „Ach, George. Ja, richtig. Also?“
„Okay.“ George fuhr sich durchs Haar. „Vielleicht ist es so, daß Sie einfach zuviel erwarten, Mr. Dickson. Neun Milliarden Menschen auf der Erde sehen Ihre Programme. Ihnen gehört das einzige verbliebene Medienimperium...“
Dickson schloß die Augen. Na und? Er hatte lediglich sein Recht verwirklicht und die anderen einfach aufgekauft. Er verstand nicht, worauf dieser George hinauswollte. Und warum sitzt der Drecksack nicht mit Anzug in meinem Konferenzraum? „Ja, und? Weiter, George!“ brummte er.
„Okay. Was ich denke, ist, daß der Punkt einfach erreicht ist, an dem es keine Steigerung mehr geben kann.“
„Da stimme ich George zu, Mr. Dickson.“ sagte Steven, ein Mann mit leicht ergrautem Vollbart. „So, wie es jetzt ist, ist es gerade zu...“ Er hielt inne und machte ein ernstes Gesicht. „Es ist gerade zu perfekt! Wir machen allein mit der Werbung täglich ein Plus von... Moment!“ Steven holte umständlich ein kleines Gerät aus seiner Hosentasche.
Dickson sah zu ihm. Gott, dachte er verärgert. Vor ihm saß die Kreativabteilung des mächtigsten Konzerns der Erde. Und allesamt waren sie Vollidioten, so wie zwei von denen aussahen...
„Okay!“ sagte Steven und hob lächelnd das Gerät hoch. Dann zeigte er auf den großen Display an der Wand. „Sie sehen, unsere täglichen Werbeeinnahmen betragen eine immense Summe. Abzüglich sämtlicher Kosten ist es... ist es einfach Wahnsinn, was da überbleibt!“
Dickson stand auf. „Ach, halten Sie die Klappe, Steven!“ Er nickte Richtung Panoramafenster. „Alles da draußen gehört mir. Aber es gibt trotzdem Stillstand. Der Pöbel wird nicht mehr befriedigt. Rekorde hin, Rekorde her. Ich...“ Er wurde unterbrochen.
„Bill, beruhige dich.“ Wim verschränkte seine Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. „Warum findest du dich nicht damit ab, alles erreicht zu haben?“
„Weil es niemals Stillstand geben wird! Geben darf!“ blaffte Dickson seinen Freund an. Den einzigen, den er auf der Welt noch hatte. „Ich bin nicht der Typ, der sich damit abfindet, alles geschafft zu haben, was es zu schaffen geben kann!“
Wim schluckte. „Aber da ist nichts mehr, Bill!“
„Ach, hör bloß auf, Wim!“ Dickson winkte verächtlich ab. „Was ist nur los mit euch?“ Die drei sahen ihn fragend an. „Mein Gott! Früher... Da... Verdammt!“ Dickson schloß die Augen und holte tief Luft. „Raus! Los, raus hier! Verschwindet! Und ich rate euch, morgen mit einer mehr als guten Idee mir unter die Augen zu treten!“
„Mr. Dickson, ich... Wir...“
„Verschwinden Sie, George!“ Dickson sah zuerst ihn und dann die anderen wutentbrannt an. „Und ihr wollt die sein, wofür ich euch bezahle? Raus hier!“ Schweigend verließen Wim, George und Steven das Besprechungszimmer. „Idioten!“ murmelte Dickson und ging wieder zum Panoramafenster. Irgendwie entspannte es ihn, den vielen Schneeflocken zuzusehen, die nach unten fielen. Noch weitere zwei Kilometer standen ihnen bevor, bis sie den völlig verschmutzen Boden der Stadt erreicht hatten.
Es war kurz vor Morgengrauen, als Steven aufgeregt bei Wim anrief, um ihn seine Idee zu erläutern, die ihm beim Sex mit einer asiatischen Prostituierten gekommen war. Wim war sofort einverstanden und verständigte George. Die drei trafen sich am Vormittag in ihrem Büro und arbeiteten Stevens Idee aus. Sie waren sich sicher: So etwas würde selbst Dickson von den Socken hauen.
„Ihr wollt mich verarschen, oder?“ war die erste Antwort von Dickson, als ihm Wim die neueste Strategie anvertraute, um die Augen des Pöbels draußen gebannt auf die Fernseher und Leinwände, allesamt Fabrikate aus einer der unzähligen Unternehmungen des Dickson-Imperiums, zu richten. „Ist das wirklich euer Ernst? Wim?“
„Das größte Feuerwerk aller Zeiten, Bill!“ sagte Wim lächelnd.
Steven stand auf. „Mr. Dickson, also... ähm... Wir stellen uns das so vor...“ Er drückte eine Taste vor ihm auf dem Schreibtisch. Eine holographische Projektion erschien. „Sehen Sie? Wie Wim schon sagte: Das größte Feuerwerk aller Zeiten.“
Je mehr Dickson von der Projektion sah, je mehr er die Einzelheiten erfuhr, um so mehr begeisterte es ihn. „Wow, Leute.“ In diesem Moment war es ihm völlig egal, daß George und Steven wie Penner gekleidet waren und Wim schlechte Anzüge trug. Aber da hatten sich die drei was ausgedacht! „Wow, Leute.“ wiederholte er. „Okay...“ Er setzte sich auf seinen Holzstuhl. „Und wo ist der Haken?“
Die Stadt war für die Unterschicht praktisch unbewohnbar geworden. Wie in vielen tausenden Städten auf der Erde versank sie in Schmutz, Kriminalität und Hoffnungslosigkeit. Die Oberschicht, jene begünstigten Imperien und Machtzentralen, die es geschafft hatten, dem allmählichen Verfall der Zivilisation durch immer neuere Verordnungen aus dem Weg zu gehen, sonnte sich in einem und mehr Kilometer Höhe und kümmerte sich einen Dreck um diejenigen, die ihr Leben so gut es ging bewältigen mußten. Auch wenn es nahezu aussichtslos war. Das einzige, was den Unmut etwas sänftigte, waren die unendlich vielen Monitore, die an jeder Straßenecke aufgestellt worden waren und immer das gleiche verkündeten: Lebe gut! Lebe besser! Lebe jetzt! Aber wie sollte man ein besseres Leben leben, wenn man nichts besaß, um dieses Leben eben leben zu können? Das Volk, der Pöbel, begann unruhig zu werden. Immer öfter mußte die allgegenwärtige Militärpräsenz eingreifen, um Aufstände im Keim zu ersticken. Dickson TV strahlte zunehmend groteskere Sendungen aus, damit der unwürdige Mensch nicht plötzlich seine Würde wiederentdecken konnte... Brutale Reality-Shows; Sportarten, deren Sinn und Unsinn vor langer Zeit verschollen waren; Werbespots, die immer die gleichen Botschaften direkt ins Hirn sendeten; Filme, die eine Realität zeigten, die es so nicht gab, seit Jahrzehnten nicht mehr. Das Volk, der Pöbel, wurde zornig. Und kurz bevor der Tropfen das Faß zum Überlaufen brachte, strahlte Dickson TV eine unglaubliche Livesendung aus, direkt aus dem Dickson Tower. Für zehn Minuten stand die Welt still. Alles starrte gebannt auf Bill Dickson, der sich mit einem freundlichen Lächeln dem Abschaum präsentierte...
Als Dickson fertig war, sah er zu David, der den Daumen hob. Prima, dachte er. Mal sehen. Zwanzig Minuten später kam Wim in sein Arbeitszimmer. „Und?“
„Wow. Du warst gut, Bill!“ sagte Wim anerkennend.
Dickson lächelte zufrieden. „Ich weiß. Aber ohne euch Jungs... Ach, da fällt mir ein...“ Er kratzte sich am Kinn. „Eure Familien sind soweit untergebracht? In den Startzentren?“
„Ja, Bill. Alle Angestellten ab den fünfhundertsten Stock wurden in die Startzentren gebracht.“
„Die Regierungen?“
Wim lachte. „Du meinst, deine willigen Untergebenen?“
„Ja.“ knurrte Dickson. „Also?“
„He, jeder der wichtig ist, befindet sich in den Zentren. Insgesamt vierhunderttausend. Keine Sorge, okay?“
„Gut.“ Dickson nickte. „Ich weiß eigentlich immer noch nicht, warum ich das zulasse. Ist es der Gedanke? Das Bild, was ich vor meinem Auge habe?“
„Es ist die Genialität des Bill Dickson!“ sagte Wim und setzte sich in den Ledersessel. Auf Dicksons Schreibtisch stand eine offene Schachtel mit echten Zigarren. „Darf ich?“
„Hm?“ Er sah Wim fragend an. „Ach so... Nur zu, klar!“
„Danke!“ Wim nahm eine Zigarre und hielt sie sich unter die Nase. „Wow.“
„Ja, kostet extrem viel, Wim.“
„Ach was...“ Wim winkte ab. „Was kostet dich das bevorstehende Feuerwerk?“ Er grinste Dickson an.
Dieser begann zu lachen. „Viel zu viel, wie ich befürchte!“
„Es wird einfach gigantisch werden, Bill.“
„Das hoffe ich doch. Immerhin ist es aber das, was ich wollte. Der Weggang vom Stillstand. Und...“ Er tippte sich auf die Brust. „Der Mars erwartet uns, nicht wahr?“ sagte er verschmitzt.
„Klar, Bill. Und außerdem...“ Wim zündete sich genüßlich die Zigarre an. „Viele Probleme werden gelöst werden. Du weißt, wovon ich rede.“
„Ach, der verdammte Pöbel.“ Dickson winkte ab und stand auf. Der Stillstand auf der Erde ist erreicht, mußte er sich eingestehen. Die auf dem Mars wissen noch nichts von ihrem Glück. Die sollen erstmal abwarten, wenn dein Imperium da auftaucht. „Die Genehmigung der marsianischen Verwaltung liegt vor?“
„Ja.“
„Gut!“ Dickson nahm sich ebenfalls eine Zigarre. „Was für die Zukunft, Wim! Ab sofort erscheinen Steven, George und du in Anzügen, wenn wir was zu besprechen haben.“
„He, ich trage Anzüge!“ sagte Wim entrüstet.
Dickson lachte. „Ich rede von richtigen Anzügen!“
Monate später war Bill Dickson, auf der Erde der mächtigste Mensch, angesichts der Schönheit eines Sonnenaufgangs sechshundert Kilometer über der Erde, sprachlos. „Daß es so schön ist, unglaublich.“ flüsterte er. Das Shuttle, das ihn und viertausend andere zum Mars bringen würde, war startbereit. Zufrieden sah er zum Mond. Na, alter Junge? Dickson lächelte. Fast neun Milliarden Menschen da unten starrten in diesem Augenblick auf die Monitore. Er hatte auf der Erde alles erreicht. Manchmal ärgerte es ihn, daß er nicht selbst auf die Idee gekommen war, ganz woanders es noch einmal zu versuchen. Mit all seinem Geld, seiner Macht... Gott, dachte er, es hat nichts mehr mit dem zu tun, was du ganz am Anfang gemacht hast... Trotzdem. Irgendwie war es was Neues. Auf dem Mars lebten vierundsechzig Millionen Menschen. Und die marsianische Verwaltung galt als harter Brocken, richtete sich streng nach Prinzipien, die für Dickson einfach lächerlich waren. Gott, unglaublich... Er lehnte sich mit dem Kopf gegen das dicke Glas. Du mußt Trisha unbedingt befördern, dachte er. Immerhin hatte sie das mit den Behörden auf dem Mars arrangiert. Denn die hatten noch nie vierhunderttausend Menschen auf einmal aufgenommen... „Gute Nacht, guter alter Mond.“ flüsterte Dickson. Dann ging er zu der Konsole, die neben der Tür angebracht war. Er drückte eine Taste und sagte: „Also gut. Machen wir, daß wir hier wegkommen!“
Am 17. März 2095 sahen fast neun Milliarden Menschen zum Himmel, gespannt darauf, was kommen würde. Am 17. März 2095 gab Bill Dickson in sicherer Entfernung den Befehl zur Zündung. Und dann sahen vierhunderttausend Menschen in Shuttles Richtung Mars und fast neun Milliarden Menschen auf der Erde das größte Feuerwerk aller Zeiten. Als der Mond explodierte, applaudierten die Menschen in den Shuttles, während die Menschen auf der Erde angsterfüllt zum Himmel sahen und das größte Feuerwerk aller Zeiten über sich ergehen lassen mußten...
ENDE
copyright by Poncher (SV)
08.06.2002
[ 08.06.2002, 21:37: Beitrag editiert von: Poncher ]