- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Probegang ins Jenseits
Jonathan Seidelbast trat ein, eine Reisetasche in der Hand. Die Atmosphäre in der Eingangshalle des Instituts migratio, ein Lichtraum in Weiss, Gelb und Hellblau gehalten, wirkte auf ihn angenehm. Seine auf dem Weg hierher aufgekommene Unsicherheit verflog.
Ein Herr, ganz in Schwarz gekleidet, wurde eben von der Empfangsdame verabschiedet. In der Hand eine Ledertasche mit erhabenen Insignien auf weissem Grund, ein schwarzer Hut mit zwölf violetten Quasten und Kordeln.
«Monsignore, ich hoffe, der Aufenthalt erfüllte Ihre Erwartungen entsprechend.»
«Ja doch, auch wenn ich erst dachte, ein diabolischer Widersacher hätte seine Hand im Spiel. Doch klärte es sich. Himmlisch, was sich mir offenbarte.» Ein strahlendes Lächeln streifte über sein Gesicht, ehe dies wieder würdevolle Distanziertheit ausdrückte.
Lange Zeit hatte er über das Inserat gegrübelt. Bis dahin war die Sache für ihn kein Thema gewesen. Keinen Gedanken hatte er je daran verschwendet, doch dieser Text brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Ein Probegang ins Jenseits mit Rückkehrgarantie. Die Anzeige kündigte an, Menschen zu helfen, ihnen die Angst vor des Lebens Ende zu nehmen. Der Probegang wurde massgeschneidert angeboten. Individuell die Lebenshaltung, die religiöse Einbindung oder die philosophische Einstellung berücksichtigend. Im angeforderten Prospekt wurde es dann vertieft erläutert. Auch der Institutsname migratio wurde erklärt. Sinnigerweise bedeutete er im Lateinischen unter anderem Übertritt ins Jenseits, obwohl dies keine Kernaufgabe des Instituts sei. Diese wurde ohne weitere Präzisierung mit Forschung angeführt.
Angst, nein das wollte sich Seidelbast nicht eingestehen. Aber die Ungewissheit, was er erwarten durfte, nagte an ihm. Ihm war bewusst, dass in seinem Bekanntenkreis bereits einige Gleichaltrige verstorben waren. Einer durch Unfall und drei durch Krankheit. Einer beinahe, er war fünf Tage im Koma, ehe er wieder erwachte.
Seidelbast hatte zum Thema nichttheologische Auslegungen gesucht und fand eine wissenschaftliche Abhandlung, die erklärte was die Hirnströme bewirken, wenn ein Mensch in den Grenzbereich von Leben und Tod kam. Die populären Nahtod-Erfahrungsbücher einer Krankenschwester, die mit ihren Werken viel Geld verdiente, wurden dabei sehr relativiert und die Sinneseindrücke als neuronale Phänomene der Wahrnehmung entlarvt. Am Institut migratio praktizierte man Wissenschaft und keinen Aberglauben. Ansonsten hätte er sich nicht dafür entschieden, diesen Gang auf sich zu nehmen. Er wollte Klarheit.
Die Empfangsdame in weissem Kittel mit gelben Bordüren begrüsste ihn herzlich und gab ihm erste Informationen über das weitere Vorgehen. «Man wird Sie gleich in Ihr Zimmer begleiten. Herr Doktor Krähemann wird in einer Stunde zu Ihnen kommen, um das Einleitungsgespräch zu führen. Vorab müssen Sie den Fragebogen wahrheitsgetreu ausfüllen. Ich wünsche Ihnen noch einen wunderbaren Aufenthalt hier und im Jenseits.»
Der Fragebogen umfasste zwölf Seiten. Gezielt fragte man nach Krankheiten und Medikamenten, die er einnahm. Ängste, die ihn aktuell oder früher beherrschten sowie allfälliges Suchtverhalten. Dies beschränkte sich nicht auf Stimulanzien. Man forderte eine Selbsteinschätzung seines Charakters und seine Präferenzen musste er offenlegen. Ein weiterer Frageblock galt seiner sozialen Konditionierung, der beruflichen Position und weiteren Bereichen seiner Lebensstruktur. Er schaffte es knapp, dies alles zu beantworten, bis Krähemann erschien.
Der Doktor wirkte sehr souverän und nicht weniger herzlich, als Seidelbast es beim übrigen Personal bereits erfahren hatte. Anstelle eines gewöhnlichen Arztkittels trug er einen weissen Anzug. Unter dem eingestickten Namen drei Balken in Weiss, Gelb und Hellblau. Er nahm im zweiten Fauteuil, Seidelbast gegenüber, Platz. Den Fragebogen schien er gezielt nach bestimmten Antworten durchzusehen, ehe er das Einleitungsgespräch aufnahm.
«Es freut mich sehr, dass Sie Ihre Ängste überwinden, ihre Ungewissheit vor dem Unabänderlichen durch konkretes Wissen ersetzen wollen.»
«Also Angst habe ich keine, es ist mehr Neugierde.»
Krähemann lachte, nicht überheblich, mehr mitfühlend. «Das sagen sie alle. Doch ich habe noch nie jemanden erlebt, der nachträglich nicht doch eingestand, sich vor dem Jenseits gefürchtet zu haben. Dabei machte es keinen Unterschied ob es Fromme oder Ungläubige waren.»
«Ja gut, ein gewisses Unbehagen ist da schon», gestand Seidelbast nun ein. «Aber wieso fürchtet sich ein Frommer, wenn er doch überzeugt ist, dass ihm nur Gutes widerfahren kann?»
Krähemanns Lächeln schien Seidelbast verklärt, über den Dingen stehend.
«Der Übertritt ist nicht einfach eine Ebene, die sich für alle gleich erschliesst. Die Frommen erwarten für sich eine Pforte ins Paradies und für die Bösen strafende Qualen des Fegefeuers. Doch sind die Frommen so gütig, wie sie sich geben? Die Bösen so gemein, wie ihnen angelastet wird?»
«Ich weiss nicht. Man sagt aber, die Wirkung seines Verhaltens falle immer auf einen selbst zurück. Das erscheint mir plausibel, aber eher in diesem Leben.»
Krähemann lächelte milde. «Das Jenseits lässt sich nicht täuschen. In seinem Zugang reflektiert es die Prägung des wirklichen Selbst eines Menschen. Auch das edelste Gemüt wird in seinem Leben schon in Situationen gekommen sein, die brandschwarze Flecken auf seiner vermeintlich blütenweissen Weste hinterliessen. Diese unterdrückten Schuldgefühle werden ihm in der entscheidenden Stunde bewusst. Die Läuterung bietet sich ihm dann während des individuellen Übertritts ins Jenseits. Alle Nuancen seines schlechten Gewissens werden manifest. Erst wenn er seine Fehlleistungen erkennen, als solche akzeptieren und innerlich Abbitte leisten kann, besteht er diesen Prozess. So kann er dann friedvoll befreit die Endlichkeit des letzten Seins annehmen.»
«Dann ist der Ungläubige hier im Vorteil, da er nicht an Himmel oder Hölle glaubt?»
Krähemann schmunzelte. «Glauben Sie, ein Ungläubiger habe keine Vorstellungen, keine Ängste, die ihn in der letzten Stunde albtraumartig heimsuchen? Wenn es nicht Himmel und Hölle sind, dann vielleicht ein schwarzes Loch. Die Beschaffenheit des Universums weist solche schwarzen Löcher auf, und sie wirken nicht weniger unheimlich auf die Menschen. Oder bei einigen philosophisch Denkenden ist es das Nichts. Doch auch ein solches kann belastend wirken, da es nicht greifbar ist.»
Seidelbast dachte angestrengt darüber nach, was er in seinem Leben für andere Nachteiliges begangen hatte. Er war kein schlechter Mensch, nein, davon war er absolut überzeugt. Natürlich war er ebenso wie andere mit diesen oder jenen Schwächen ausgestattet. Ein ungutes Gefühl kam ihm hoch, Erinnerungen an Situationen, in denen er sich zu Handlungen hatte hinreissen lassen, die er bedacht nie getan hätte.
«Sie müssen sich nicht fürchten, dies ist nur ein Probegang. Doch es hilft Ihnen die Wirklichkeit zu erkennen, die Projektionen zu deuten und als Hirngespinste Ihrer Ängste abzutun. So steht Ihnen dann definitiv irgendwann ein befriedetes Jenseits bevor.»
«Wie wird es denn letztlich sein, dieses Jenseits?»
Der Gesichtsausdruck von Krähemann war gütig und beruhigend. «Es wird so, wie Sie es sich zutiefst wünschen. Die Erfahrung dieser Realität gibt Ihnen dann die Gewissheit.»
Seidelbast verfiel nun in ein Nachdenken, welche Form eines Jenseits er sich eigentlich wünschte. Damit hatte er sich gar nicht auseinandergesetzt. Ein besseres Leben in einem Jenseits oder gar eine Wiedergeburt hatte er immer als Aberglauben angesehen. Damit verdienten diejenigen ihr Geld, die das Geschäft mit der Angst betrieben. Nein es musste schon Schluss sein, aber wie?
«Ist es denn nicht gefährlich, der Übertritt ins Jenseits?»
«Natürlich birgt es, wie das Leben selbst auch, gewisse Risiken. Aufgrund des Fragebogens, den Sie hoffentlich wahrheitsgetreu ausfüllten, werden wir die Medikation Ihrer körperlichen und seelischen Konstitution anpassen. Wir hatten noch nie einen Fall, in dem die Dosierung nicht exakt stimmte.»
«Und wenn doch etwas schiefgehen sollte? Etwa jemand nicht mehr zurückkehrt?»
Krähemann lachte. «Sie meinen gleich im Paradies bleiben wollte? Das gab es trotz der dort herrschenden Seligkeit noch nie. Selbst die Frommen kehrten zurück, sich am Leben klammernd, um es ordentlich abzuschliessen, wie sie meinten. Auch nahmen wir dieses Angebot erst nach jahrlanger Forschung und gesicherten Testreihen in unser ordentliches Programm auf. Aber selbst wenn das Unwahrscheinliche eintritt, es zu Komplikationen infolge höherer Gewalt kommt, wäre es lediglich eine versicherungstechnische Frage. Wir nehmen den Schutz und die Unversehrtheit der uns sich anvertrauenden Menschen sehr, sehr ernst.»
Seidelbast wurde bei den letzten Worten von Krähemann etwas mulmig. Wenn er der Erste wäre …
«Aber ..»
«Sie können es etwa mit einer Blindarmoperation vergleichen. Ein kleiner Eingriff, der völlig harmlos ist. Es gibt also keinen Grund zur Beunruhigung.»
«Sie denken also, ich kann es wagen?»
«Ja sicher. Ich werde nun das Medikament holen, das Ihnen diesen Probegang ermöglicht. Ziehen Sie sich inzwischen um und legen Sie sich ins Bett.»
Die Flüssigkeit im Glas hatte die Farbe von Orangensaft. Nur leicht nahm er einen Bittergeschmack wahr. Er musste es in einem Zug leeren und sich wieder hinlegen. Seine Gedanken verflüchtigten sich bald und die Augenlider fielen ihm zu.
Es wurde ein Fall in eine dunkle, unendliche Tiefe. Das schwarze Loch. Hatte er sich das gewünscht? Schlagartig krampfte er sich zusammen, suchte mit den Händen nach einem Halt, um den Absturz aufzuhalten. Doch da war nichts, nur schwarze, nicht greifbare Leere. Er schrie und schrie, während er weiter fiel. Wie weit war er schon abgestürzt? Vom Zeitraum und der Fallgeschwindigkeit her schien es ihm unendlich. Der Druck wurde immer intensiver, seine Körperhülle müsste demnächst platzen.
Mit grellen Farben entfalteten sich übergangslos riesige Blütenbilder, nicht statisch, sondern sich ständig verändernd. Seine Sinne drohten, über diese wilde und erdrückende Fülle der Wahrnehmung zu zerbersten. Die Augen liessen sich nicht schliessen, um dies zu unterbinden. Die Panik, welche ihn schon während des Fallens an den Rand des Erträglichen brachte, vermochte sich unglaublicherweise noch zu verstärken. Es musste Wahnsinn sein, der ihn vereinnahmte. Lianen schlangen sich erdrückend um ihn. Kaum befreit wurde er von andern wieder vereinnahmt.
Die Blüten wandelten sich in dämonische Fratzen. Nicht weniger bunt, aber die Sinne noch durchdringender in ihrer Schrecklichkeit. Aufgerissene Mäuler geiferten nach ihm, Klauen mit messerscharfen Krallen streckten sich ihm entgegen. Meist gelang es ihm, haarscharf auszuweichen. Doch tiefe blutige Kratzer an seinem Körper, die brennende Schmerzen verursachten, zeugten von ihrer lebensbedrohlichen Gefährlichkeit. Er musste in ein Pantheon archaischer Dämonen gefallen sein, die sich ihm in den Weg stellten und ihn verfolgten.
Laserstrahlen in verschiedensten Farbkonzentrationen versuchten, ihn zu treffen. Einer glühender Feuerstrahl streifte seinen Oberarm und liess ihn aufstöhnen. Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus. Erschöpft und schwer verletzt sank er zu Boden. Nur schwerlich gelang es ihm noch, den Farbstrahlen auszuweichen. Schneidend durchdrang ihn ein Regenbogenfarbener, beim Körpereintritt Funken sprühend. Schlagartig endete die Szene.
Nebelschwaden wie das Innere einer Wolke umgaben ihn. Die Luftfeuchtigkeit musste gegen hundert Prozent tendieren. Die Temperatur begann anzusteigen, ein tropisches Klima machten ihm zu schaffen. Sein Atem ging schwer, sein Herz klopfte heftig, er fühlte, wie Schweiss ihm aus allen Poren trieb. Unerträglich, als sei er in einer Sauna mit defektem Heizsystem eingeschlossen. Er versuchte wegzukriechen, dieser bestialischen Hitze zu entrinnen, doch mit jeder seiner langsamen Bewegungen steigerte es sich noch.
Der Nebel lichtete sich, die Temperatur fiel ab, ein Frösteln erfasste seinen Körper. Alsbald zitterte er vor Kälte, um ihn wurde alles Weiss. Er merkte, dass die Fläche unter ihm vereiste. An seinem Körper bildete sich Raureif.
Nur kurz, dass völlige Dunkelheit ihn vereinnahmte, dann stand er in der Strasse zwischen den alten Fabrikgebäuden. Er erinnerte sich an jene Nacht, dessen Weg er seither. Es herrschte eine spärliche Beleuchtung, weil Vandalen immer wieder Lampen zerstörten. Aus Distanz erkannte er, dass Jugendliche einen Nachbarn erwischt hatten. Schleunigst entfernte er sich. Am nächsten Tag erfuhr er, man hatte seinen Nachbarn krankenhausreif geschlagen. Beinahe wäre er verblutet, bis man ihn zwei Stunden später fand.
Wie konnte er sich nur hierher verirren? Er wollte weg, da standen sie direkt vor ihm. Fünf grimmige Jünglinge, Baseballschläger in der einen Hand, die sie auf die andere Handinnenfläche klatschen liessen. «Letztes Mal haben wir dich verpasst, Alter. Wir waren noch beschäftigt und du bist einfach gegangen.»
«Aber …»
Da traf ihn schon die erste Holzkeule, sorgsam vorerst am Kopf streifend, damit er nicht gleich in Ohnmacht fiel. Er wankte, die Hand am Ohr, das halb abgerissen war. Der nächste Schlag traf seinen anderen Oberarm, es knackte. Der dritte Schlag an die Beine liess ihn dann stürzen, mit dem Gesicht hart aufprallend. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten. Die Fusstritte und Schläge gegen seine Rippen und Innereien steigerten die Tortur noch bestialisch, bis er wegdämmerte.
Abrupter hätte die nächste Wendung nicht sein können - ihm gegenüber stand Clara. Es war Jahrzehnte her, seine erste Liebesbeziehung. Sie sah so lieblich aus, wie damals, als sie sich im Dämmerlicht unter der Tribüne versteckten. Er erinnerte sich an ihre kleinen festen Brüste, ihre Scham, als er sie gegen ihren Willen freilegte. Sie hatte sich gesträubt, doch sie schrie nicht, der Leute wegen, die über ihnen auf der Tribüne der alljährlichen Prozession zusahen. Er hatte sie bald mal in die gewünschte Position gedrückt, gegen seine Kraft kam sie nicht an. Nur als er in sie eindrang, ein Wehlaut von ihr, doch dann verhielt sie sich ruhig. Über ihnen auf der Tribüne applaudierten die Leute.
Claras Blick war fest und dunkel, sie schaute ihn durchdringend an. Die Kleider, die sie eben noch trug, lagen nun am Boden verstreut, wie seinerzeit. Über ihnen hörten sie die Leute tuscheln. Sein Blick musterte lüstern ihren Körper, die Brüste liebkosend. Er stutzte, aus ihrer Scheide lösten sich Bluttropfen.
Er nahm ihre Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und lag einen Sekundenbruchteil später am Boden. Erwartungsvoll sah er zu Clara auf.
Sie sass gespreizt auf seinen Beinen, in ihrer rechten Hand ein Skalpell, das sie neben seinem Penis ansetzte. Seine Panik war wieder da, noch intensiver als bisher. Dies war nicht das Jenseits! Clara war nicht eine Jungfrau, wie manche Fromme sie dort erwarten! Mit Präzision umkreiste die Klinge Penis und Hoden, die Carla zu diesem Zweck hochgehoben hielt. Er sah die geteilte Haut, aus der nur leicht Blut austrat, nicht mehr als bei einer Defloration. Der Gedanke erregte ihn trotz seiner wahnsinnigen Angst. Clara schaffte sich mit ihm ein gleichwertiges Blutopfer. Nun wird sie mich besteigen, und mein Glied versöhnlich in ihrer Vulva aufnehmen. Er war unfähig sich zu bewegen, sie zu sich zu ziehen. Claras erhobene Hand mit dem Skalpell setzte erneut an. Diesmal drang sie tief ein, mit zwei glatten halbkreisartigen Schnitten das fest Gefügte trennend, einem Wurzelstock gleich das Gebilde herausziehend. Ihm war schlecht, der Schmerz welcher beim ersten Schnitt ausblieb, traf ihn nun umso heftiger. Doch noch viel schlimmer, das seelische Leiden der Erkenntnis. Triumphierend hielt sie das abschwellende Glied hoch, den Hodensack hängend, einer Skulptur gleich.
Fröhliches Gelächter brandete auf, um die Tafel waren alle versammelt, Verwandte und Freunde. Er erinnerte sich, der fünfundzwanzigste Geburtstag seiner Frau. Sie sah blendend aus, hatte das kleine Schwarze mit dem gewagten Ausschnitt angezogen. Er war stolz auf ihre Attraktivität, eine Frau, nach der sich Männer umdrehten.
Im Garten, wo er kurz Luft schnappen wollte, sah er eine Gestalt neben einem der Bäume stehen. Cornelia, eine jüngere Cousine seiner Frau. Eigentlich wollte sie nicht zum Fest kommen, ihr Freund hatte sich vor zwei Wochen von ihr getrennt. Seine Frau überzeugte sie, dass ihr Abwechslung gut täte. Sie blieb jedoch still und in sich gekehrt, der Traurigkeit erliegend. Als er direkt vor ihr stand, konnte er trotz Dämmerlicht Tränenspuren in ihrem Gesicht erkennen. Wortlos nahm er sie in die Arme. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und schluchzte. Er spürte den warmen Hauch ihrer Atemzüge, ihre Brüste, die sich hoben und senkten. Unfähig zu klaren und der Situation angemessenen Gedanken oder Worte, begann er über ihren Rücken zu streicheln. Im Rückenausschnitt fühlte er ihre nackte Haut. Es dauerte nur einen Moment, bis dies ihm eine Erektion auslöste. Seine Hände begannen nun sanft aber gewagter vorzudringen. Als sie ihren Kopf hob, küsste er ihr die Tränen weg. Sie fester an sich ziehend, suchten seine Lippen ihren Mund. Sie entzog sich nicht, sondern erwiderte sein Verlangen. Behutsam zog er sie hinter eine Hecke, einander mit wenigen Griffen entkleidend. Es war das erste Mal, seit er verheiratet war, dass er mit einer andern Frau intim wurde, ihren wunderbaren Körper küsste und in sie eindrang.
Er lag noch völlig erschöpft auf ihr, als die Gartenbeleuchtung anging. Sie waren zwar ausserhalb der Lichtkreise und verdeckt, doch klangen nun Stimmen auf. Ganz nah auch seine Frau. Um die Hecke tretend, erfasste sie wortlos die Situation. Er lag wie gelähmt da. Sie winkte jemanden zu sich. Es war sein bester Freund, der den Arm um sie legte. Sie zog ihn beiseite, dem Gesichtskreis anderer Gäste entziehend. Zusammen liessen sie sich ins Gras sinken, Jonathan und Cornelia ignorierend und trieben es. Jonathan fühlte sich schockiert, das Schlimmste, was ihm je widerfahren war. Doch dem nicht genug. Kaum war sein bester Freund wieder verschwunden, kam ein anderer Gast, ein älterer Herr, der sich mit ihr einliess. Als ob es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen hätte, kamen nun auch andere Gäste, sich mit seiner Frau einlassend. Er lag da wie ausgespart, Cornelia war verschwunden, aber er musste es mit ansehen, unfähig zu flüchten. Die Erniedrigung die er verspürte, erschütterte ihn zutiefst. Er würde nie mehr er selbst sein.
Ihm war klar, dass sich perfiderweise Fehlhaltungen seines Lebens in einem Umkehrverhältnis an ihm rächten. Seine Seele hätte keinen grösseren Schaden nehmen können, als die Erkenntnisse, was er getan hatte. Das Einzige, das er sich noch wünschte, war alles hinter sich zu lassen und einfach inexistent zu sein. Erstmals formte sich ihm eine Vorstellung, wie das Jenseits beschaffen sein sollte.
Das Tal der Demut schien durchschritten, das Gute offenbarend. Ein Weg führte ihn über eine sommerliche Wiese, die von Trockenheit gezeichnet war. Er schritt hügelan, hinter ihm die Tiefe des Tals. Zwischen einer Baumgruppe zeigte sich eine Kirche. Er erinnerte sich, es war ein Urlaub im Mendrisiotto vor vielen Jahren. Hier stiess er auf die skurrile Geschichte um die Kirche des San Giuseppe. Eine Gedenktafel an der Mauer belegt, dass hier einst drei junge Mädchen aus dem Dorf Somazzo eingemauert wurden. Nach diesem Menschenopfer soll es erstmals nach langer Trockenheit wieder geregnet haben. Wie er später vernahm, pilgern heute noch Gläubige dorthin und bezeugen, dass es nachher regnete. In einem Korb sah Seidelbast handgeschnitzte Mädchenfiguren liegen, die die Gläubigen für rituelle Zwecke verwendeten. In einem Schrein waren drei Skelette sichtbar. Er glaubte nicht an diesen Klamauk, auch regnete es bei seiner Anwesenheit in dieser Zeit nie. Zur Erinnerung entwendete er eine der handgeschnitzten Figuren, als er allein in der Kirche war. Zur Beschwichtigung seines Schuldgefühls warf er einen Obolus in den Kollektentopf, der eigentlich als das Entgelt für Kerzen vorgesehen war. Die Figur verwahrte er seither zu Hause als Objekt naiver Kunst.
Monotoner Singsang umgab ihn plötzlich, Einheimische umringten ihn, ein Ritual ausführend. Vergeblich versuchte er, aus dieser Einkreisung zu entkommen, vielmehr drängten sie ihn in die Kirche hinein. In einer Wand war eine grosse Maueröffnung, auf die man ihn hinbugsierte. Verzweifelt stemmte er sich gegen den Druck der Leute, mit den Händen sich abstützend. Als sein Widerstand brach, fiel er der Länge nach auf den harten Steinboden. Dämmerlicht umgab ihn, als er den Kopf hob. Vor ihm thronten auf Steinstühlen die drei Mädchen, letzte Kleiderfetzen an ihren Skeletten hängend. Ihre Köpfe ihm zugewandt, wie zu einem Willkommensgruss.
Jahrhunderte hatten sie keinen Mann gesehen, die sinnlichen Freuden an solchen Objekten nie erfahren. Ihn graute davor, diesen Raum auf ewig mit ihnen zu teilen. Er würde sterben, jämmerlich verhungern, verdursten.
«Nein! Das kann ich nicht, ich bin kein Märtyrer. Dies ist ein Irrtum.»
Schnell wandte er sich um, doch das Mauerloch war bis auf wenige Steine bereits geschlossen. Die Einheimischen blickten hinein, jeder wollte noch einen letzten Blick ergattern. Er hämmerte mit den Fäusten gegen das neue Mauerwerk. Vergeblich. Die Steine waren fest ineinandergefügt. Eben schloss sich auch noch der letzte Spalt. Der Singsang, ein Totenlied, wie ihm bewusst wurde, war nur noch schwach vernehmbar.
Die Luft wurde stickig, sein Griff an den Hals, daran knetend, brachte keine Linderung. Ich muss flach atmen. Sicher lassen sie mich wieder raus, wenn diese Wahnsinnigen ihr Ritual beendet haben. Seine Atemzüge wurden wieder heftiger, nach Sauerstoff ringend. Er vermeinte zu ersticken, als ob er statt Luft das Gas von Verwesung einatmete. Als er in die Knie sank, meinte er sechs Hände würden ihn halten und auf den Boden betten. Seine suchende Hand spüre, dass diese Fingerglieder skelettiert waren. Ihm wurde schwarz vor Augen, noch dunkler als der finstere Raum ohnehin war. In seiner Angst fantasierte er Fingerknochen, die sanft über sein Gesicht strichen, und eine Mädchenstimme, die ihm mit kaltem Hauch ins Ohr flüsterte: «Keine Angst, wir sind bei dir.»
Der Sauerstoffmangel liess Irrlichter vor seinen Augen auftanzen, immer wieder auch die drei Mädchen mit den tiefen Augenhöhlen schemenhaft beleuchtend. Das Gefühl zu ersticken, brach nun mit voller Wucht über ihn herein. Sich nochmals windend, das Bewusstsein verlierend.
Doch der Tod war ihm noch nicht beschieden, nach aller Tortur öffnete sich ein Lichtraum in den Farben Weiss, Gelb und Hellblau. Es war niemand anwesend. Über einer Tür sah er ein Schild, das den Zugang ins Jenseits anzeigte. Er ging darauf zu, nun fest entschlossen, es hinter sich zu bringen.
Die Tür schloss sich hinter ihm geräuschlos. Seine Sinne wurden vereinnahmt, unfähig, noch einen Gedanken zu fassen, Dinge zu erkennen, selbst sein Aufschrei löste sich tonlos im Nichts auf. Eine Dumpfheit ergriff ihn. Er nahm wahr, wie sein Körper sich zu zersetzen begann, Laub gleich, das sich sukzessive in Erde und Staub wandelt. Es schmerzte nicht, nein, er spürte gar nichts. Sein Bewusstsein zerrieselte. Kein sich dagegen sträubender Gedanke war mehr möglich, es war einzig merkwürdig, diese sich vollziehende Inexistenz.
Seine Lider zuckten, erst nur vereinzelt, dann in kleinem Stakkato, bis sie sich öffneten. Er blickte in das freundliche Gesicht von Dr. Krähemann, der ihn anlächelte.
«Willkommen, zurück aus dem Jenseits. Sie hatten wider Erwarten eine sehr ungewöhnlich lange Expedition unternommen und sich anscheinend gründlich umgesehen.»
Seidelbast kam nun die Erinnerung an die erschütternden Erlebnisse auf. Das erdrückende Blütenmeer, die hässlichen Fratzen. Am schlimmsten aber, die zutiefst in seinem Innern ruhenden Geheimnisse seines Lebens, die sich in hässlichsten Ausartungen reflektierten. Nicht einmal seine Frau ahnte von diesen Eskapaden. Er begann zu zittern wie Espenlaub.
«Hat das Jenseits nicht ihren Erwartungen entsprochen?» Krähemanns Frage klang jovial, als könnte er sich eine negative Antwort gar nicht vorstellen.
Das Jenseits. Seidelbast erinnerte sich, wie er eintrat und in einen leidlosen, unbewussten Zustand verfiel. Der Schock über seinen Lebensrückblick war abgefallen, ein Zustand der Ruhe hatte ihn regeneriert, bevor sich alles auflöste. Er entspannte sich wieder.
«Doch, doch», versicherte er schnell. «Das Jenseits war irgendwie, wie ich es ahnte. Der Übertritt aber war schrecklich, als ob ich zur Läuterung erst verschiedene Fegefeuer der Hölle hätte durchschreiten müssen.
«Ja der Sterbeprozess reflektiert natürlich noch einmal das Leben, das Verdrängte lebt auf, das Unbewusste manifestiert sich. Es sind die Ängste, die Ihnen innewohnen. Anscheinend sind diese bei Ihnen sehr tief greifend, die gebotene Läuterung noch unzureichend vollzogen. Solange dem so ist, weisen sich die unverarbeiteten Anteile in Endlosschlaufen. Aber hierfür haben wir ein gesondertes Programm. Ich empfehle Ihnen dringend, zusätzlich unsere lebensverarbeitenden Sitzungen zu buchen, in denen diese Ängste aufgelöst werden. Sie erlauben dann einen sanften Übergang ins Jenseits, den wir dann erneut mit einem Probegang testen werden.»
«Eigentlich passt mir das erfahrene Jenseits nicht. Ich war unfähig einen Wunsch daran zu knüpfen, es mir vorzustellen, die Zeit dafür war mir zu knapp.»
«Die Form des Jenseits, die sie wählten, lässt sich nicht mehr ändern. Sie haben doch unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen gelesen, dieser Teil oblag Ihrer eigenen Sorgfaltspflicht. Das von Ihnen gewählte Jenseits ist nun in Ihrem Schicksal fixiert, darum kommen Sie nicht herum. Doch die Akzeptanz dessen werden wir Ihnen dann auch noch nahebringen.»
«Wie lange dauert dann diese … ähm lebensverarbeitende Behandlung und … Akzeptanz?»
«Dies hängt natürlich vom Umfang ihrer unverarbeiteten Ängste ab, deren Tiefgründigkeit und ihres Aufarbeitungswillens. Also mindestens drei Jahre, aber ich versichere Ihnen, bis zu Ihrem realen Übertritt ins Jenseits wird sie abgeschlossen sein. Mit etwas Glück schaffen wir dann den Aufbau der Akzeptanz des Jenseits auch noch.»
Die Erinnerung an das Jenseits beschäftigte Seidelbast nun sehr. Er zermarterte sein Hirn, wie sich dieser Fehler doch noch korrigieren liesse.
«Besteht die Möglichkeit, dass Ihre Forschung es doch noch ermöglicht, die Wunschvorstellung in einem zweiten Probegang zu revidieren?»
Mit gütigem Gesichtsausdruck blickte ihn Krähemann an. «Natürlich forschen wir weiter, dies ist unsere Hauptaufgabe. Ich bin auch überzeugt, dass wir diesen weiteren Schritt eines Tages realisieren werden. Doch wann, lässt sich nicht vorhersehen. Aber vielleicht stellen Sie sich als Proband zu Verfügung? Dieser Teil wäre dann für Sie kostenlos.»