Prinzesschen
Jupp hat es eilig. Kaum ist er von der Arbeit daheim, muss er auch schon wieder weiter.
Oder vielmehr: will er wieder weiter. - Er will weiter müssen!
Es ist die Unruhe in einem, das Kribbeln im Bauch. Gibt man diesem Gefühl nicht nach, stellt sich ein anderes ein, eines, etwas versäumt zu haben.
„Hätte ich doch nur …“, denkt man später, vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Dieser ewige Widerstreit von Ratio und Emotionalität – dem Denken und dem Fühlen. Einem Kampf, bei dem wir niemals gewinnen können.
Welch ein Gefühl habe ich, wenn ich mich für etwas entscheide – befriedigt mich die gefundene Lösung? Muss ich den wirklich mit der Beerdigung meines Schulkameraden mitgehen, obwohl ich absolut keine Lust dazu habe? Auf die Hochzeit meiner Verflossenen, trotzdem mich beide eingeladen haben? Zu der Versammlung der Internetsüchtigen?
Entgegen aller Logik kann uns bei einem Vorhaben unwohl sein, und wir machen das, wobei wir ein besseres Gefühl haben.
Wir müssen es einfach machen!
Kennt nicht jeder in sich den Drang, sich selbst zu beschenken, wenn er sich miserabel fühlt, auch oder grad wenn er knapp bei Kasse ist?
Jupp seine Frau hat das Essen fertig. Seine Tochter Nicole vertreibt sich, von der Schule heimgekommen, die Zeit damit, den kleinen Hundemischling Tobi zu ärgern. Mutter und Tochter warten immer auf den Vater, um zusammen mit ihm Mittag zu essen.
Ist nicht auch das in erster Linie eine emotionale Entscheidung?
Die beiden werden auch satt wenn Jupp nicht mit ihnen am Tisch sitzt.
Die Kleine sagt: „Du, Papa, spielen wir nachher was?“
Hermann-Josef Kardenbach, wie Jupp mit bürgerlichem Namen heißt, sagt: „Später, Prinzesschen. Mach erst einmal deine Hausaufgaben.“
Nicole protestiert: „Aber du hast es versprochen, Papa!“
Der Vater sagt: „Machen wir ja auch. Aber nicht jetzt - wenn ich zurückkomme.“
„Wo gehst du denn hin?“
Die Mutter sagt: „Dein Papa geht die Welt verbessern.“
„Stimmt das, Papa?“
Er antwortet nicht darauf. Was soll er auch dazu sagen, weiß er doch zur Genüge worauf das Gespräch hinausläuft. Er begnügt sich damit seine Frau von der Seite her vorwurfsvoll anzuschauen.
Gabi hat „Verheiratete“ gemacht – das sind Kartoffeln und Knödel durcheinander. Eines seiner Leibgerichte. Schweigend genießen sie die Mahlzeit. Danach setzt sich Nicole an den Wohnzimmer-Tisch und übt fleißig im Heft Buchstaben zwischen zwei Zeilen unter zu bringen.
Gabi Kardenbach sagt bei der abschließenden Tasse Kaffee: „Andere Väter nehmen sich Zeit für ihre Kinder!“
Jupp sagt: „Ich kümmere mich schon noch um meine Tochter.“
„Wann? Du hast ja mittlerweile noch nicht einmal an den Wochenenden Zeit! Oder meinst du die fünf Minuten am Mittagstisch? - Ach nein, warte mal, es ist wenn dein Prinzesschen schlaftrunken noch „Nacht, Papi“ murmelt, weil sie schon am Einschlafen ist, wenn du heimkommst!“
„Es war unsere gemeinsame Entscheidung, diese Arbeit anzunehmen - erinnere dich. Ohne Zeitinvestition und ohne Engagement läuft nichts! Ohne uns und unsere Arbeit wäre schon so manch einer arbeitslos. – Und außerdem ich bin der Ernährer dieser Familie, und damit auch verantwortlich für sie.“
Gabi winkt ab, sie sagt: „Kennen wir schon. Wann hast du mal keine Ausrede! Für die anderen bist du immer da, das scheint deinem Ego mächtig zu schmeicheln; und die Familie - immer nur nachher! Warum wolltest du überhaupt Nachwuchs, wenn du keine Zeit für ihn aufbringen willst? Tu was für dein Kind – spiel mit deiner Tochter!“
Jupp rutscht auf seinem Stuhl hin und her und sagt: „Was soll das? Schließlich habe ich diese Aufgabe und die damit verbundenen Verpflichtungen freiwillig übernommen. Soll ich jetzt hingehen und sagen: „Tut mir Leid, meine Frau hat es sich für mich anders überlegt?“
Gabi sagt: „So weit ich mich erinnern kann, war keine Rede davon, nach Feierabend und an den Wochenenden weiter zu arbeiten …“
Jupp lässt seine Tätigkeit nicht in Frage stellen: „Ja - wo wären wir denn, wenn jeder nur sagen würde, lass das mal die anderen machen …? Unsere Arbeit in den Firmen und auf der Straße ist Teil einer Demokratie für die lange gekämpft wurde.“
Gabi sagt: „Das kann man doch aber auch so sehen: Alles andere ist wichtig, nur nicht die Familie. Niemand hat was dagegen, wenn du dich für deine Ideen einsetzt. Aber wann gedenkst du dir Zeit für uns zu nehmen? Wir sind doch auch noch da! - Etwa wenn deine Tochter verheiratet ist und selbst Kinder hat? Willst du dann mit ihr spielen? Mau-Mau? Oder Blinde Kuh?“
Jupp steht auf: „Nun übertreibst du aber …“
In der Türe dreht er sich noch einmal um. Er zögert, sagt dann aber: „Am Samstag gehe ich mit Onkel Konrad zum Angeln. Der Angelsportverein hat zum Abfischen eingeladen.“
Gabi sagt: „Schön, dass ich es auch schon erfahre!“
Jupp murmelt: „Habe es ganz vergessen zu erzählen.“
Gabi sagt: „Wolltest du am Samstag nicht Nicoles Roller flicken?“
„Ja …“
Als Nicole längst schon ihre Aufgaben für die Schule fertig hat, kommt Kardenbachs ihr Auto vorgefahren. Jupp und Schneiders Elmar steigen aus. Beide gehen hinüber zu dem Haus, in dem Elmar wohnt. Nicole sieht es. Darauf hat sie nur gewartet. Schnell läuft sie mit Tobi in den Garten; klettert mit dem Hund auf dem Arm über einen Jägerzaun; läuft strahlend zu ihnen. Jupp hat mittlerweile eine Flasche Bier in der Hand und diskutiert angeregt mit Elmar.
Das Mädchen sagt: „Bist du fertig, Papa? Spielen wir jetzt was zusammen?“
„Später“, sagt der Vater. „Geh mit Tobi gucken was die anderen Kinder treiben. Ich ruf dich dann.“
Nicole trollt sich in Richtung Eisenbahnschienen, dorthin, wo die Kinder der Jabacher Straße auf dem Bahngelände ihren Abenteuerspielplatz gefunden haben; eine stillgelegte Strecke, auf der zwischengelagert wird - und der Hund hinterher.
Elmar und Jupp haben gerade die Strategie für die Betriebsversammlung eines Metall verarbeitenden Werkes in Lebach festgelegt und eine neue Flasche Bier aufgemacht – es sollte nach eigener Bekundung die letzte sein – als dem Schmitt Gerhard sein Peter, gerade mal zwei Jahre älter als Nicole, angelaufen kommt; auch ein Nachbar, wenn auch noch ein ganz junger. Aufgeregt fuchtelt er mit den Händen in der Luft herum.
Elmar sagt: „Ei, Peter, was hast du denn?“
Peter ringt nach Luft und nach Worten, er stammelt: „Dem Jupp … sein Mädchen …“
Jupp sagt: „Was ist mit Nicole?“
„Schnell … es ist was passiert …!“
Peter läuft vor und die anderen hinterher. Vor einem riesigen Haufen Eisenbahn-Schwellen bleibt er stehen.
„Da!“
Aber niemand sieht etwas.
Peter beginnt auf den Haufen zu klettern, die anderen ihm nach, und dann sehen sie das Mädchen und den kleinen Hund. Nicole liegt zwischen den Balken und rührt sich nicht. Tobi läuft in ihrer Nähe aufgeregt auf und ab, kommt nicht zu ihr.
Die Kinder sind über die Balken geklettert, jedes wollte schneller als das andere sein. Ein Bohlen hatte nachgegeben und hat Nicole mitgerissen.
Jemand ruft: „Den Notarzt! Schnell!“
Jupp steht da und weiß nicht was zu tun.
Es ist die Ohnmacht dem gegenüber, was wir das Schicksal nennen. Etwas passiert – wir können es nicht aufhalten; wir können es nicht vorbeugend lenken, nicht beeinflussen, umdirigieren.
Ein, in dieser Intensität noch nie zuvor erlebter, Gefühlssturm lähmt ihn.
Aber die Nachbarn reagieren. Und schon bald sind die ersten Sirenen zu hören. Die Leute reden durcheinander, jeder weiß was; einige tun das Richtige.
Die Leute beginnen die Balken abzutragen, legen das Mädchen frei; Jupp kniet neben ihr, traut sich nicht sie anzufassen. Der Not-Arzt kommt. Hände, die genau wissen was sie tun, untersuchen das Kind. Sie legen behutsam eine Sonde, spritzen ein Mittel, schließen eine Flasche über einen Schlauch an.
Nicole lebt.
Schließlich landet der Rettungshubschrauber und bringt Nicole nach Saarlouis in die Klinik.
Den Jupp nehmen sie auch mit.
Die Nacht ist furchtbar.
Die Ärzte operieren die Verunglückte sofort. Sie hat bei dem Sturz schwere innere Verletzungen abbekommen. Ein Privat-Dozent Dr. noch was versucht anschließend Jupp die Lage zu erläutern, aber der steht nur da und versteht nichts - nur, dass sich sein Prinzesschen in einem sehr kritischen Zustand befindet.
Gabi war einkaufen, und erst als Nicole schon längst aus dem OP war, hat Jupp sie zu Hause erreichen können. Die Nachbarn hatten bereits alles erzählt was passiert ist. Und als Gabi endlich im Krankenhaus ist, fallen sie sich um den Hals und weinen miteinander. Gabi fängt sich zuerst, sie sagt: „Kopf hoch, Alter! Das packen wir schon noch.“
Sie bleiben die ganze Nacht im Krankenhaus.
Es ist auf einmal viel Zeit da. Ein Martyrium zwischen Hoffen, stillen Zwiegesprächen und Selbstvorwürfen; Gedanken, die einen erdrücken: Hätte ich doch nur …“
Sind es nicht diese spontanen Entscheidungen aus dem Bauch raus, nach denen wir uns richten – eine fast schon unbewusste Gefühlswelt, denen wir unsere täglichen Prioritäten unterordnen; die uns sagen wann es an der Zeit für etwas ist?
Sind es nicht sie in Wirklichkeit, die unsere Handlungen bestimmen? Die uns kilometerweit fahren lassen, nur um einen Menschen zu sehen? Die Unruhe in uns auslösen, oder uns in Sicherheit wiegen?
Ist dann alles andere nicht nur Voraussetzung dafür?
Wie sonst kann eine emotionale Komponente die Wertvorstellungen so gravierend verschieben? Eben noch hat man sich Zeit für etwas gewünscht, und dann hat man sie und weiß nichts mehr mit ihr anzufangen!
Eine Schwester versorgt sie mit belegten Broten und Kaffee. Immer wieder stehen sie zusammen im Flur vor der Scheibe, die sie von ihrem Mädchen trennt - von ihrer kleinen Nicole, ihrem Prinzesschen; das auf ihrem Bettchen, umgeben von Apparaten und Schläuchen und Ärzten und Schwestern, liegt.
Rein zu ihr dürfen sie nicht.
Jupp geht in einen angrenzenden Allzweckraum. Dessen Fenstern zeigen nach Norden, dorthin, wo das Unglück seinen Lauf nahm. Er hält sich am Fensterbrett fest. Die frühe Luft lässt die beiden Sendetürme auf dem Hoxberg aus dem Dunst auftauchen. Hatten sie sonst bei Aufenthalten in der Klinik Trost gespendet, allein dadurch, dass sie da waren, kamen sie ihm nun wie zwei riesige Mahnmale vor.
Er öffnet ein Fenster, inhaliert tief die frische Luft.
Gabi kommt zu ihm. Er schaut sie an und weiß, es gibt nichts Neues.
Jupp kann nicht anders, er muss reden.
„Wie sich alles von einem Augenblick zum anderen ändern kann. Du denkst, du hast alle Zeit der Welt, du denkst alles muss eine bestimmte Ordnung haben. Aber nichts stimmt. Du denkst nur, dass alles so ist. In Wirklichkeit lebst du nicht dein Leben, du wirst gelebt. Die Werte verlieren schneller ihre Bedeutung als du sie in ihrem ureigenen Zusammenhang erkennst.“
Er geht durch den Raum. Gabi schaut ihm traurig zu. Ihre Augen sind gerötet. Jupp geht zu ihr. Er stellt sich einen Stuhl zurecht, setzt sich neben sie und nimmt eine Hand von ihr in die seine. Sein Blick hängt gedankenverloren irgendwo im Raum.
Er sagt: „Warum tun wir in unserem Leben immer das Verkehrte? Wir denken immer das Richtige zu denken, aber was herauskommt ist Schmerz!“
Er saugt die kühle Luft ein, die an ihnen vorbei nach draußen, in den Vorraum zu den Fahrstühlen und dem Treppenhaus zieht, atmet ein paar Mal tief ein. Gabi laufen Tränen über das Gesicht. Jupp sagt: „Herrgott noch mal, “ und noch einmal lauter, „Herrgott noch mal, lass dieses kleine Mädchen leben!“
Die Türe öffnet sich; ein bekanntes Geicht, ein Körper in weißem Kittel erscheint. Der Privat-Dozent räuspert sich, bevor er sagt: „Frau Kardenbach, Herr Kardenbach – es tut uns Leid, Ihre Tochter hat es nicht geschafft.“
Gabi sinkt in sich zusammen. Jupp vergräbt das Gesicht in seinen Händen: „Warum? Warum so jung – warum nicht später irgendwann? Wir wollten doch noch zusammen etwas spielen …“