Premiere für die Liebe
Premiere für die Liebe
Johanna hatte ihr Glück verloren. Dieser Eindruck beschlich sie jedenfalls an manchen Tagen, wenn sie zurück dachte an das, was einmal war und was in dieser Form nie wiederkommen würde.
Die Trennung von ihrem Mann war dabei gar nicht mal so schlimm gewesen. Sie hatten eine Ehe geführt, die zum Schluss diesen Namen nicht mehr verdiente. Eine Verbindung, unter die man nur den amtlich dokumentierten Schussstrich ziehen konnte .Aber das war Vergangenheit, gehörte einer anderen Zeit, einem anderen Leben an. Es war die Liebe danach, ihre Liebe zu Thomas, um die Johanna Leid trug. Fünf gemeinsame glückliche Jahre ohne Trauschein, fünf Jahre innige Liebe, Geborgenheit, eine gemeinsame Tochter und drei Kinder aus ihrer ersten Ehe. Sie waren ein Herz, eine Seele und eine Liebe gewesen.
Ein Glück für alle Ewigkeit hatte Hanna gedacht, hatte Hanna mit aller Kraft ihres Herzens gewünscht. Immer in Thomas' Armen war der Wunsch gewesen, nie wieder losgelassen zu werden, vereint für alle Zeiten und Ewigkeiten.
"Wenn du mein Herz erfüllst, dann erfüllst du mein Leben", sagte sie zu ihm.
Aber wie selten erfüllen sich solche Wünsche. Drei Jahre lag es zurück, in der Vorweihnachtszeit wie auch jetzt wieder. Vor drei Jahren hatte das Schicksal zugeschlagen, an einem frühen Morgen wie aus heiterem Himmel.
Hanna war gerade im Begriff das Frühstück für die Familie zu machen, als es an der Haustüre klingelte. Draußen stürmte Schneeregen gegen die Fens-terscheiben, machte erst richtig deutlich, wie gemütlich es hier drin war. Der Duft frischen Kaffees erfüllte das Haus, das Radio in der Küche dudelte be-schwingte Morgenmusik und Johanna, die Älteste mit ihren Zwanzig, blockier-te wieder mal das Bad wie jeden Morgen, Petra beklagte sich lautstark und fühlte sich ausgesperrt.
"Heh, ich muss dringend pinkeln!" hörte Hanna Petra rufen. Und Holger rief von unten herauf respektlos wie er immer war: "Dann piss doch in die Dusche, Mädchen!" Und Thomas jun, der jüngste Spross der Familie mit seinen sechs Jahren quietschte vergnügt: "Ja, piss in die Pusche! Piss in die Dusche!"
Ihr seid wieder mal ganz unmöööglich! Wollte Hanna rufen, aber sie schwieg und amüsierte sich nur. Es war Leben im Haus. Man konnte Kinder nicht fortwährend dazu aufrufen, sich gewählt und sittsam auszudrücken. Gestelzte innerfamiliäre Sprache wäre auch kaum passend gewesen. Hanna war froh, dass ihre Kinder sich in Gegenwart Fremder immer wohlerzogen benahmen und sie nicht mit solchen Ausdrücken blamierten.
Hanna war in weihnachtlicher Stimmung und wollte sie sich unter keinen Umständen verderben lassen. Erst seit Thomas in ihr Leben getreten war, ge-noss sie die weihnachtliche Zeit so richtig. Wie schön Weihnachten, das Fest der Liebe sein konnte, hatte erst er sie alle gelehrt. Er ließ es sich nie nehmen, am Heiligen Abend unter dem Tannenbaum die ganze Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vorzulesen: "... es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging..."
Es klingelte erneut. Hanna wurde in die Wirklichkeit zurückgerissen. Hatte Thomas den Hausschlüssel vergessen oder warum klingelte er? Er vergaß doch sonst nie etwas.
Hanna eilte zur Türe und legte sich beim Öffnen schon die Worte zurecht, mit denen sie ihren Mann liebevoll auf beginnende Vergesslichkeit hinweisen wollte.
Aber vor der Türe stand nicht Thomas.!
Da standen zwei Polizisten mit ernsten Gesichtern. Hanna hatte keine Er-fahrungen mit ernst dreinblickenden Gesetzeshütern, aber in diesem Moment wusste sie mit glasklarer Gewissheit, dass Thomas tot war. Sie brauchten nichts zu sagen. In ihrem Kopf war das Bild sofort da. Nur das Wie war die Frage.
Trotzdem bemühte Hanne sich um Fassung, aber sie musste sich am Tür-rahmen festhalten, weil ihre Knie plötzlich weich wurden. Sie sah nicht, dass sie kreidebleich geworden war.
"Frau Krausdorf?!"
"Ja, die bin ich. Was... was ist passiert?"
"Ihr Mann ist..." der eine der beiden suchte nach passenden Worten, aber wie soll man die immer gleich finden in einem solchen Augenblick.
"Ist er... tot?" fragte Hanna, bevor ihre Knie endgültig nachgaben.
Johanna und Petra waren plötzlich hinter ihrer Mutter und fingen sie auf.
Sie nahm nur mit halbem Ohr wahr, was der Polizist sagte. "Ein Unfall auf eisglatter Straße... der LKW-Fahrer hatte die Gewalt über sein Fahrzeug verlo-ren und ist frontal in das Auto Ihres Mannes hineingefahren. Nach unseren Ermittlungen war er auf der Stelle tot."
Der ganze folgende Tag war später wie durch einen Nebel verschleiert in Hannas Erinnerung geblieben. Sie wusste noch dumpf, wie sie im Unfallkran-kenhaus Thomas identifiziert hatte.
"Wie soll ich jetzt leben ohne dich?"
Diese Worte flüsterte Hanne am nächsten Morgen hinüber auf die jetzt leere Seite des Ehebettes. Ihre Augen waren rot und blutunterlaufen nach einer fast schlaflosen Nacht.
Sie hatte tatsächlich mitten in der Nacht ernsthaft mit dem Gedanken ge-spielt, sich mit den Tabletten aus der Hausapotheke zu vergiften, um nicht alleine zurück bleiben zu müssen. Sie tat es nicht, weil ihr rechtzeitig die Ver-antwortung für ihre Kinder bewusst wurde. Allein ihretwegen entschloss sie sich zum Weiterleben.
***
Und nun, drei Jahre später, war wieder Adventszeit. Die Trauer um die ver-lorene Liebe hatte das Haus längst verlassen. Da das Leben weitergeht, wenn man sich entschließt, nicht zu resignieren, beginnen offene Wunden langsam zu heilen, aber die Narben bleiben. Und Narben sind wetterfühlige Kuriositä-ten. Sie melden sich von Zeit zu Zeit, zeigen somit deutlich an: He, hier war ich mal sehr verletzt.
Johanna Krausdorf, mittlerweile 45 geworden machte das Frühstück für sich und Thomas, den Jüngsten, Spross ihres verstorbenen Thomas, der nun mittlerweile neun Jahre alt war.
Ein bisschen leerer war das Haus geworden, eigentlich, wenn man es recht bedachte, sogar erschreckend leer,.
Johanna, ihre Älteste, hatte vor einem Jahr geheiratet, war mit ihrem Mann ans andere Ende der Republik gezogen und hatte ihr vor Kurzem mitgeteilt, dass die im Sommer Oma würde.
Natürlich hatte Hanna erst mal einen Freudentanz aufgeführt, wie werdende Omas das manchmal halt tun, dann hatte sie sich kritisch im großen Schlaf-zimmerspiegel betrachtet und erleichtert festgestellt, dass sie noch kein biss-chen nach Oma aussah.
Omas haben Hängetitten, meinte sie – ihre waren noch gut "in Form". Omas haben Runzeln. Ihr Gesicht war dank vieler systematisch angewendeter Cre-mes und Lotions noch glatt wie ein Kinderpopo, ihre Haut weich und zart. "Ich sehe aber gar nicht aus wie eine Oma, verdammt nochmal", sagte sie lachend, versuchte vergeblich ein graues Haar auf ihrem Kopf zu finden.
Petra arbeitete jetzt im Rot-Kreuz-Krankenhaus in Frankfurt am Alfred-Brehm-Platz als Krankenschwester und hatte dort ihr eigenes Appartement.
Werner hatte sich freiwillig zur Bundeswehr gemeldet, nachdem sieben Be-werbungen nach seiner Ausbildung zum Elektroniker nichts gebracht hatten. Er hatte gerade die Grundausbildung überstanden und würde zunächst mal für sechs Jahre bei den Marinefliegern Dienst tun. Sie würden ihm dort zum Fluggeräte-Elektroniker umschulen, soviel war schon klar.
Das Haus war erschreckend leer geworden. Niemand wurde mehr aufgefor-dert in die Dusche zu pissen. Es war auch leer im Herzen von Hanna. Drei Jahre allein, ohne einen Mann, das war für sie schwer. Nun, sie hatte es ge-packt. Sie hatte ihr Leben gemeistert, auch wenn es manchmal höllisch schwer geworden war. So eingespannt zu sein in Beruf und Haushalt machte es ihr leichter, über Thomas' Verlust hinwegzukommen.
Die leere Seite des Ehebettes, die einsamen Nächte, niemand der sie in den Arm nahm. Das war noch das Schwerste. Hannas Sehnsucht nach Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit war immer sehr stark gewesen.
Petra hatte es in ihrer humorvoll frechen Art im Herbst sehr direkt zum Ausdruck gebracht.
"Mama, such dir einen Mann. Du kannst nicht dauernd allein bleiben. Dazu bist du zu jung, zu leidenschaftlich und zu hübsch. Hol dir einen ins Bett. Ist doch keine Dauerlösung, sich immer nur mit sich selbst zu befassen."
Hanna fühlte sich durchschaut und blickte verlegen nach unten. Nur nicht rot werden, dachte sie. Aber sie musste jetzt was sagen.
"Du meinst also, ich befriedige mich jede Nacht selbst?"
Petra lachte, als sie die Verlegenheit der Mutter erkannte. "Ach? Tust du nicht? Tun Mütter sowas nicht? Ach, Mama, komm. Wir sind beide erwachse-ne Frauen. Du musst ja jetzt dazu keine eidesstattliche Erklärung abgeben. Aber du bist eine sehr gefühlsbetonte Frau. Und du bist noch immer im bes-ten Alter einer Frau. Schwitzt du deine Gefühle durch die Rippen aus oder zermarterst du dich allnächtlich in heldenhafter Selbstbeherrschung? Viel-leicht kasteist du ja deinen Körper um dein Verlangen zu töten, wie die Mön-che im Mittelalter."
Nach einer Weile, als keine der beiden was sagte, legte Petra den Kopf schief und sagte. "Also halten wir fest: Mama lebt nicht in sexueller Abstinenz. Ergo ergibt sich folgende Ausgangslage: Wenn sie nicht wie eine läufige Hündin um die Häuser ziehen will, um Männer ins Bett zu bekommen, dann steht eine neuerliche feste Beziehung dringend an.
Nein, Mama, jetzt mal ganz im Ernst, such dir wieder einen Mann. Hast du denn wirklich keinen Liebhaber?"
Jetzt konnte Johanna wieder lachen. Die Verlegenheit war von ihr abgefal-len. Die befreiende Natürlichkeit Petras steckte an. "Sagen wir mal so, Kind: Ich habe einige seitdem bei mir "Probeliegen" lassen. Mehr war es nicht. Der Richtige versteckt sich noch."
"Wo?"
"Vielleicht im Internet, wer weiß? Könnte sein, dass sich da was anbahnt. Ist aber noch zu früh, um Genaues zu sagen."
Internet, genau das richtige Thema für Petra.
"Du mit deinem Computerfimmel, Mama. Wozu brauchst du so einen Kas-ten? Machst du etwa Online Sex, du Schlimme du?"
"Würde dich das sehr wundern?"
"Och ja, eigentlich schon. Online Sex? Nee, dazu bist du nicht der Typ. Sex ja, aber wenn dann live in natura. Die Online-Typen sind doch alle pervers."
"Und das hört sich nun wieder nach einschlägigen Erfahrungen deinerseits an, Petra."
"Du wirst lachen, die hab ich. Was einem da so alles angetragen wird... un-glaublich. Ich sollte als Dritte in den Bund von zwei Superlesben aufgenom-men werden. Bin mal zum Schein auf so einen Chat eingegangen. Ich habe mich hinterher halb totgelacht.
Aber lass und jetzt mal über diesen denjenigen Deinen sprechen, um den es hier geht. Ist das ernst?"
"Das eben will ich rausfinden, Petra. Wir schreiben uns schon eine Weile und er macht einen hervorragenden Eindruck in seinen Briefen. Er wirkt ge-bildet, hat Niveau, sagt dass er Witwer ist und zwei erwachsene Kinder mit bereits eigenen Familien hat. Und dass er Bildung und gute Manieren hat, sieht man aus den Briefen."
"Und in den hast du dich Knall auf Fall verliebt? Wer ist er, was kann er, wie heißt er, wie alt wie reich?"
Über Reichtum oder Armut sei noch nicht geredet worden, gestand die Ma-ma der Tochter. Sein Name sei Holger, er sei 54 Jahre alt und schon mehrfa-cher Opa. Er sei ein selbstständiger Versicherungskaufmann und viel unter-wegs. Mit 58 plane er sich zur Ruhe zu setzen. Seine Frau starb vor sieben Jahren an Krebs.
Bei einer Tasse frischgebrühtem Kaffee quasselten die beiden weiter.
Petra äußerte unmissverständlich ihre Meinung, dieser alte Knacker wolle doch nur eine Frau zum Bumsen haben.
Johanna lachte nachsichtig. "Du hast nur den Sex im Kopf, Mädchen. Aber ich geb's ja zu, darüber wurde bereits ausgiebig gesprochen. Ja, natürlich will er bumsen. Das wollen wir wohl alle beide. Aber er strebt kein flüchtiges Lie-besabenteuer an sondern eine dauerhafte neue Bindung... sagte er wenigs-tens. Und es klingt überzeugend. Er hat mir ein Foto von sich gescannt, kannste dir anschauen. Sieht gut aus, finde ich."
Das müsse aber nicht echt sein, wurde zu bedenken gegeben. Man könne schließlich ein X- oder sogar ein Y-beliebiges Bild scannen. Und auch die gan-ze Person müsse nicht echt sein. Im Internet treibe sich, wie man ja wisse, ziemlich arges Kroppzeug rum. Vorsicht – und zwar alleräußerste – sei hier geboten. (So die töchterlichen Ermahnungen)
Dies alles (so die mütterlichen Entgegnungen), sei ihr bestens bekannt und es sei auch diverse Male im Kopf hin und her gewälzt worden. Man dürfe ihr, da sie bekanntlich kein unerfahrener Teenager sei, beruhigt zutrauen, dass sie nicht leichtfertig in eine offene Falle renne.
"Der Mann ist echt, Schatz. Auf den Kopf, wie du weißt, bin ich nicht gefal-len. Sein Pech, dass er einen so ganz und gar alltäglichen Namen hat. Lach jetzt nicht, er heißt Holger Massenkuss jr."
Der Sen, sein Vater sei im Altenpflegeheim und gehe auf die Neunzig. Dieser Name, wie du dir denken kannst, ist etwas seltener als Schulze oder Schmitt. War gar nicht schwer, über die "da werden Sie geholfen" herauszufinden, wo er wohnt. Du sagst einfach den Namen und bittest um die Telefonnummer und Adresse. Und den Mann gibt es nur ein einziges Mal in Düsseldorf, denn daher kommt er. Also fast aus der Nachbarschaft.
Ich hab seine Nummer angerufen und mich mit Oh, Entschuldigung, falsch verbunden und leicht verstellter Stimme gemeldet. Es gibt ihn also. Und seine Stimme klingt auch sympathisch
Ich war auch dort, bei seiner Adresse, neulich, als ich in Düsseldorf war. Er wohnt in einem schönen großen Einfamilienhaus, wie er es beschrieben hat in der Wohnsiedlung guter Lage. Der Garten drum herum sieht halbwegs gepflegt aus. Er selbst ist eine stattliche Erscheinung, nicht gerade supersportlich, er hat einen kleinen Bierbauch und ist kaum größer als ich.
Nein, er hat mich nicht gesehen. Ich bin doch nicht blöd. Er darf auch nie erfahren, dass ich hinter ihm her recherchiert habe. Ich werde es ihm später mal beichten, wenn zwischen uns alles klar sein sollte."
"Es scheint dir wirklich ernst zu sein, Mama", stellte Petra sachlich richtig fest, "wenn du schon so geschickt den Sherlok Holmes imitierst. Habt ihr denn schon ein Treffen verabredet?"
"Wir dachten an Weihnachten. Am Heiligen Abend bei ihm. Seine Kinder mit den Familien kommen erst am zweiten Feiertag, er ist also alleine. Er weiß Bescheid über meine Weihnachtsdepressionen, die ich seit Thomas' Tod habe. Er sagte, er würde gerne versuchen, mir den Rahmen zu geben, der mir verlo-ren ging. Ich hoffe, dass ich euch dieses Jahr erstmals alleine lassen kann."
"Werd nur nicht leichtsinnig, Mama. Allein in fremdem Mannes Haus. Wenn der nur nicht hinter der Türe mit einem Schlachtermesser wartet und dich hinmeuchelt."
Davor fürchtete sich Johanna Krausdorf nun nicht allzu sehr. Trotzdem sah sie dem näherrückenden Termin mit etwas gemischten Gefühlen entgegen. Aber, sagte sie sich, das ist wohl immer vorher so, wenn man den ersten Schritt in eine vielleicht neue Beziehung tut. Immerhin hatte Holger es ge-schafft, dass sie in diesem Jahr von den drückenden depressiven Stimmungen weitgehend verschont geblieben war. Fast jeden Tag hatte er ihr kurze sehr liebevolle Mails geschickt, die seiner Freude über die bevorstehende Begeg-nung Ausdruck verliehen.
"Dein Bild in meinem Computer", schrieb er, "sehe ich mir jeden Tag an. Ich präge dich mir ein, lasse dein Bild in meinem Kopf Gestalt annehmen und wenn ich dann im Bett liege und die Augen schließe, sehe ich dich vor mir. Ich sehe dich so vor mir, wie ich dich sehen möchte, deinen wunderschönen, sehr erotischen Körper, den dein Bild ja deutlich vermuten lässt. Ich wünschte mir Röntgenaugen, um durch die Kleider hindurchzusehen..."
Hanna lächelte. So waren sie nun mal, diese Männer. Nackte Körper, davon träumen sie, wollen sehen, was die Kleidung verhüllt. Nun ja, Holger würde es zu sehen bekommen, dessen war sie sicher. Es sei denn, diese Begegnung er-wies sich als der totale Reinfall. Diese Möglichkeit schloss sie zwar im Hinter-kopf nie ganz aus, hielt sie jedoch für wenig wahrscheinlich.
Zwar wusste sie auch, dass sie nicht alle Lebensweisheit für sich gepachtet hatte, aber sie traute sich doch so viel Menschenkenntnis zu, aus den Briefen heraus ein gewisses Bild ableiten zu können. Sie fuhr durchaus nicht ziellos ins Blaue, stürzte sich nicht kopfüber als ausgehungerte Witwe uns nächst-beste Sexabenteuer. Aber sie war sich selbst gegenüber ehrlich genug, zu-zugeben, dass sie sexuell ausgehungert war. Wirklich erfüllende Liebesnächte mit einem Mann hatte sie seit Thomas' Tod nicht mehr erlebt. Die wenigen Versuche waren von einer Erfüllung alle weit entfernt gewesen.
Männer zu finden, denen es nur ums Ficken ging, wäre für eine Frau von Hannas Format wahrlich kein Problem gewesen. Aber wirklich erfüllenden Sex verband sie immer noch mit viel Gefühl und mit Gemeinsamkeit, von Liebe zu reden, so weit wagte sie gar nicht zu gehen.
Komischerweise war es ihr, der sonst eher schüchternen Frau, nicht schwergefallen, online mit Holger über ihre Sexualität zu sprechen. Irgendwie kam in seinen Briefen etwas rüber, das ihre Seele aufleben ließ und ihr Herz ansprach. So wusste er sehr wohl, wie sehr Hanna nach Erfüllung im Sex hungerte. Er wusste ebenfalls, wie sie sich in Eigenhilfe den erforderlichen nötigen Ersatz verschaffte und er erwiderte darauf liebevoll ironisch, wenn ihre Begegnung so verliefe, wie sie beide sich das wünschten, dann könnte sie die-se Gegenstände aus ihrer Nachttischschublade verbannen, wenn sie es nicht vorzöge, sie doch in ihre dann zweifellos stattfindende Sexualität einzubezie-hen.
Er sei, sagte er, für jede Spielerei und Spielart offen. Man werde schon se-hen, wie Fantasie, Wünsche, Bedürfnisse und Wirklichkeit sich miteinander vereinbaren ließen. Das Weitere, so meinte er lebensklug, werde sich ganz si-cher von allein ergeben.
"Hanna", sagte er wörtlich, "ich bin aber ehrlich genug zuzugeben, dass es beim erstenmal mit dir leicht einen Versager geben könnte. Ich meine nicht was die Erektion angeht, da habe ich noch kein Problem, ich denke da eher an die Ausdauer. Ich bin ein wenig aus der Übung."
Johanna Krausdorf musste bei diesem Eingeständnis still in sich hinein grinsen. Das war in ihren Augen eher ein Zeichen männlicher Größe. Welcher Mann gesteht schon gerne Schwächen ein, besonders beim Sex. Das "Wie lan-ge kannst du?" war doch für fast jeden Mann die Frage aller Fragen, beinahe lebensentscheidend wie sie meinten.
Arme Kerle! Wenn ihr wüsstet, wie wir Frauen darüber denken. Es war für Johanna weniger wichtig, wie lange er in ihr verweilen konnte bevor er ejaku-lierte und ob er sie auch zum Höhepunkt bringen könnte. Sie kannte sich selbst ganz gut und hatte da, was ihre eigene Orgasmusfähigkeit betraf, wenig Probleme.
Das Davor, das ganze Drumherum, war ihr sehr viel wichtiger. Natürlich liebte sie es, dieses wunderbare Gefühl, wenn er sich in sie hinein entleerte, aber das bildete schließlich nur den krönenden Abschluss das Finale sozusa-gen.
Was mache ich mir denn bloß für unsinnige Gedanken? Schalt Johanna sich selbst. Bin ich denn heute in einem Pornofilm oder was ist los? Sie schüt-telte den Kopf, denn so fühlte sie sich wirklich annähernd.
Verdammt, ich bin ja richtig stark erregt, dachte sie. Was soll er denken, wenn er später spürt, dass ich so nass bin? Johanna war nervös fast wie ein Schulmädchen vor dem ersten Rendezvouz, nur weniger ängstlich, weil ihr ja niemand mehr wehtun konnte. Ihre Welt war ein wenig durcheinander gera-ten. Die lange Einsamkeit, der Verzicht, das Verlangen nach Liebe, Zärtlichkeit und Berührung, Küsse, Worte, leise in ihr Ohr gehaucht, Hände, die über ih-ren Körper glitten...In Erwartung alles dessen stellten sich diese Gefühle ein.
Ob Holger sie erfüllte? Da stand das große Fragezeichen. Hoffnung, Wunschdenken, sonst war noch nichts, worauf Hanne bauen, woran sie sich klammern konnte.
Frau nimmt Einladung zum ersten Date in die Wohnung des Mannes an! Allein diese Tatsache schon war bei näherem Hinsehen eigentlich der reine Wahnsinn. Damit lieferte sie sich diesem Mann aus. Sicher, sie vertraute ihm, aber tat sie das auch zu Recht?
Zweifel? Angst vor der eigenen Courage? Noch, sagte Johanna sich, noch ist es Zeit umzukehren, aber wenn du das tust, dann läufst du vielleicht dem neuen Glück davon. Halb geistesabwesend und in Gedanken versunken legte sie die letzten Meter durch die Düsseldorfer Innenstadt zurück. Die weihnachtlich erleuchteten Straßen, die Schaufenster, die festliche Musik vom Weihnachtsmarkt.
Heiliger Abend! Der erste, den sie in ihrem Leben nicht zu Hause verbrachte und nicht im Kreis der Familie.
Später Nachmittag, langsam hereinbrechende Dunkelheit. Immer noch Le-ben in den Geschäften. Nur der Schnee fehlte. Die nasse Kälte war nur unan-genehm.
Holger erwartete sie. Sie hatte keine genaue Zeit angegeben, er hatte darauf bestanden, sie abzuholen am Bahnhof. Nein, sie hatte es nicht übers Herz ge-bracht, ihm zu sagen, dass sie aus Duisburg direkt mit der Straßenbahn ge-kommen war. Sie waren sich immer so nah gewesen.
Wie ziellos ging sie weiter und wusste doch ganz genau, wohin sie ihre Schritte lenkte. Sie war jetzt froh, Holger ein wenig ausspioniert zu haben. Das war nicht nur aus Neugier geschehen, sondern ein klein wenig auch zu ihrer eigenen Sicherheit.
Weihnachten kann man nicht mit leeren Händen zu ihm kommen, hatte sie sich gedacht und überlegt, was für eine Art von Geschenk für einen bis dahin noch unbekannten Mann angemessen wäre. Ihre Wahl fiel schließlich auf zwei Manschettenknöpfe und eine Krawattennadel mit Monogramm. Nicht massiv Gold sondern und goldplattiert. Mehr wäre schon wieder für den Anfang un-passend gewesen.
Bei der Planung dieses ersten Zusammentreffens war ihr eine Zeitlang der Gedanke gekommen, Holger zu sich nach Hause einzuladen. Normalerweise kreuzt der Mann ja bei der Frau auf, schmeißt einen Rosenstrauß vor sich her in die Wohnung und bitten auf Knien inständig um Einlass.
Nein, Johanna wollte es ganz bewusst anders herum haben. Und das hatte sie nun davon. Sie fühlte sich windumtost unwohl, stapfte durch das schlech-te Wetter und zitterte weniger vor Kälte als vor Erwartung.
Holger hatte sie unbedingt abholen wollen, sie hatte ihm jedoch nicht er-zählt, dass das nicht nötig sei, weil sie mit der Straßenbahn direkt aus Duis-burg angereist war.
Aber so spielte eben das Leben. Zwei Menschen, die immer schon nah bei-einander gelebt hatten, begegneten sich eines Tages und daraus entstand dann möglicherweise die neue Liebe. In wenigen Minuten, so tröstete Johanna sich, würde ihre bange Ungewissheit ein Ende haben.
***
Holger Massenkuss war aus dem Alter heraus, in dem man sich noch über seinen blöden Nachnamen ärgert. Mit dem Alter kommt die Reife, mit der Reife die Gelassenheit und mit der Gelassenheit die Ruhe. In der Schule war er oft "der Massenküsser" genannt worden, oder auch "Einzelknutscher".
Von der Ruhe und der Gelassenheit des Alters zeigte Holger heute nicht be-sonders viel. Heute war seit sieben Jahren der erste wirklich wichtige Tag in seinem Leben.
Klaras Tod damals hatte ihn nicht aus der Bahn geworfen. Eine Phase de-pressiver Anwandlungen war seitdem auch überstanden worden, nicht zuletzt durch seine berufliche Aktivität. Er hatte sich kopfüber in die Arbeit gestürzt, weil er versuchte zu vergessen. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Kann man dreißig Ehejahre vergessen? Wer das ernstlich behauptet, der kann nie verheiratet gewesen sein.
Klara und er waren nie das Musterehepaar gewesen. Aber sie hatten ge-meinsam alle Krisen gemeistert und unter dem Strich war dann eine soge-nannte "gute Ehe" herausgekommen, was immer man in diese Worte auch hineininterpretieren mochte.
Sein beruflicher Erfolg in den späteren Jahren nach Klaras Tod hatten ihn ein wenig mit Stolz erfüllt. Er war durch glückliche Fügungen und durch eige-nes Streben die Karriereleiter zwei Stufen nach oben geklettert, vom General-agenten über den Gruppenleiter zum Bezirksdirektor der Abteilung "Scha-densregulierung." Heute dirigierte er seine Leute in und aus seinem Büro er "regulierte" durch Unterschrift und in bedeutsamen Fällen durch Aktenein-sicht.
Aber es kam trotz allen Erfolges unweigerlich jener Punkt, an dem Holger sich sagte, dies könne unmöglich alles gewesen sein. Man ist, sagte er sich, wenn man auf die Sechzig zumarschiert, zwar schon alt, aber noch nicht zu alt. Und besonders, wenn er so alleine in seinem Bett lag, spürte er schmerz-lich, dass da auf der anderen Seite jemand fehlte.
Ich bin ein erfolgreicher Mann immer noch in den besten Jahren, aber wenn ich nach Hause komme, fehlt da tatsächlich jemand, der mir die Pantoffeln bereitstellt und mir sagt, Liebling, du hast mir gefehlt.
Er beschloss, sich eine neue Frau zu suchen. Er beschloss, zu überlegen, wie er das am geschicktesten und mit dem geringsten Aufwand anstellen könnte.
Sein beruflicher Erfolg hatte ihn gar nicht bemerken lassen, wie einsam es um ihn herum geworden war. Wenn er spät nach Hause kam, stellte er nicht selten fest, dass die Kühlschrank leer war und das trieb ihn dann öfter als nötig zum Italiener unten an der Ecke, wo er dickmachende Pizzas in sich hi-neinschlang und dem Rotwein erst widerstehen konnte, wenn er ein Glas mehr getrunken hatte als gut für ihn war. Und dann gähnte ihn das stille Haus noch leerer an als sonst. Staub sammelte sich an, überall dort, wo man nicht hingucken konnte, bis sich dann endlich nach längeren vergeblichen Bemühungen endlich eine Frau fand, die an drei Vormittagen der Woche dafür sorgte, dass der Kühlschrank immer gefüllt war und der Staub aus besagten Ecken verschwand. Seitdem waren auch die Vorhänge sauber und die Fenster geputzt.
Wie komme ich zu einer neuen Frau und zwar mit der geringsten Aufwand? fragte er sich. Dann sah er eines Abends, als er sich langweilte eine Sendung im Fernsehen an, die er fast nie anschaute. Magazinsendungen mochte er nicht so sehr. Aber dann brachten sie diesen Bericht von jeder Jamaikanerin, wunderhübsch und ansehnlich, die im Internet diesen deutschen Ingenieur zufällig gefunden hatte. Sie hatten Ausschnitte aus der Hochzeit gezeigt, die in Jamaika stattgefunden hatte und dann auch die beiden kaffeebraunen Kinderlein.
Warum also nicht Internet? Musste ja nicht gerade Jamaika sein. Eine an-sehnliche deutsche Witwe wäre genau das, was er brauchte.
Er hatte sich lange ungeschickt angestellt, nicht genau gewusst wie er su-chen sollte und wo.
"Papa, versuch es doch mal in diesen vielen Chaträumen", hatte sein Sohn im geraten. "Da gibt es alle möglichen Sachen, Singles, Weiber satt, kannst auch Onlinesex machen."
"Als ob ich sowas nötig hätte..." antwortete er damals von oben herab... und versuchte es doch. Aber mit wenig Erfolg. Was sich dort herumtrieb, ob Männ-lein oder Weiblein, war kaum Qualitätsware wie er sie suchte. Er brauchte keine jungen Fickmädchen, die schnell mal einen "gutsituierten" Mann ken-nenlernen wollten.
Und dann stieß er zufällig auf das Profil dieser Frau mit dem Online Namen HANNA EINSAM 45.
Er sprach sie einfach an.
"Hallo, einsame Hanna hier ist der einsame Holger. Darf man dich anspre-chen?"
"Man darf. Was möchtest du denn?"
"Eine Arznei gegen Einsamkeit, keinen Onlinesex. Bin Witwer. Hast du die richtigen Tropfen für mich?"
"Das ließe sich zur Not herausfinden, denke ich. Kommt drauf an, was du erwartest."
"Nun ja, was soll ich sagen, auf jeden Fall suche ich keinen One-Night-Stand. Ich bin zwar als Witwer ein wenig unterversorgt, diesbezüglich. Trotz-dem suche ich nicht die schnelle Nummer."
"Was zum Heiraten etwa?"
"Mädchen, stell nicht so direkte Fragen. Auf jeden Fall eher das, als von ei-nem Bett ins andere zu hüpfen. Was nicht heißt, dass ich Sex nicht mögen tun täte."
"Aha, nicht mögen tun tätest du? Bissu auffe Hilfsschule durchefallt?"
"Aber ganz im Gegentum! Ich hab auffe Akamie studiert. Im Ernst Hanna, dein Humor hat dir soeben einunddreißig volle Pluspunkte auf meinem Konto eingebracht."
"Ich bin aber enttäuscht, dass es nur einunddreißig waren. Hundert und einen halben hätte ich mindestens erwartet."
Es war ein sehr humorvolles Wechselspiel, dieser erste Chat, der sich über fast zwei Stunden hinzog. Dass er den Einstieg in ein neues Leben für sie bei-de bedeuten könnte, soweit wagte Holger an diesem Abend nicht zu denken.
Seine Ruhe und Gereiftheit des gelassenen Alters verließ Holger erst, als klar wurde, dass das erste Zusammentreffen nun bald Wirklichkeit werden würde. Was wussten beide voneinander? Das, was sie sich in ihren Briefen mitgeteilt hatten. Holger musste sich die Frage stellen, wie aufrichtig und ehrlich Jo-hanna gewesen war. Sicher gibt eine Frau nicht alle ihre Geheimnisse einem Mann preis, dem sie noch nie persönlich begegnet ist. Fotos, gut die waren verschiedentlich hin und her gegangen. Am aussagekräftigsten was das Kör-perliche betraf, fand Holger das mit dem knappen Bikini, der beinahe nichts mehr verhüllte. Hanna war ganz zweifellos eine sehr gutaussehende wohlge-formte und attraktive Frau, der man die 45 kaum ansah. Na ja, Vierzig, dafür hätte man sie halten können.
Trotzdem war Hanna ihm noch rätselhaft. Ihre Bilder wirkten einesteils sehr fröhlich, andere aber auch wieder eher nachdenklich. Das gleiche galt für ihre Briefe. Mal sehr froh und humorvoll, dann wieder gefühlvoll-sentimental oder auch mal traurig. Man spürte manchmal zwischen ihren Zeilen die Einsamkeit durch, unter der sie zeitweise litt.
Einsam fühlte Holger sich auch, seit Mechthild gestorben war. Er stellte ihr Bild neben dem Computer auf und rief sich das von Hanna daneben auf den Bildschirm. Er stellte Vergleiche an, erkannte aber recht schnell, dass die bei-den trotz einiger äußerlicher Ähnlichkeiten kaum vergleichbar waren. Na gut, die üppige Oberweite war eine Sache, die Holgers Geschmack weitgehend traf. Aber von einer großen schönen Brust allein würde er niemals eine Beziehung abhängig machen.
Es galt nun herauszufinden, ob Hanna jene Eigenschaften mitbrachte, die für ihn in erster Linie wichtig waren. Wenn dann obendrein noch eine schöne große Brust und ein wohlgeformter erotischer Körper dazukamen, sozusagen als kleines Extra, welcher Mann hätte das nicht begrüßt?
***
Als der Zeitpunkt, an dem Hanna eintreffen sollte, näherrückte, wurde Hol-ger Massenkuss immer aufgeregter. Alle paar Minuten schaute er auf die Uhr, rückte hier noch einmal eine Kerze am Weihnachtsbaum gerade, richtete ein Lamettafädchen aus, das schief hing, ging die Liste all jener Dinge durch, die er als unabdingbar wichtig erkannt und somit geregelt hatte.
"Das Essen, mein lieber Holger", hatte ihm Hanna geschrieben, "lass bitte, bitte meine Sorge sein. Sorge du nur für einen gefüllten Kühlschrank. Ich bin eine recht gute Köchin und ich habe lange keinen Mann mehr bekocht."
"So seid ihr Frauen", schrieb er daraufhin zurück. "Du kommst doch nicht als Köchin hierher, sondern als Gast."
Ich weiß", lautete die Erwiderung. Aber am Heiligen Abend sind kaum Spei-selokale offen und wozu einige Hunderter für ein romantisches Candle-Light-Dinner ausgeben, wenn du es billiger zu Hause haben kannst. Weihnachten ist ein Fest, das ich gerne zu Hause feiern möchte. In diesem Fall in deinem Zuhause, nicht in einem Lokal. Sorge du nur für die Zutaten. Ich will zarte Rinderlende sehen, verschiedene Sorten tiefgefrorenes Gemüse, Kroketten wä-ren nicht schlecht. Dann einen trockenen Martini als Aperitif einen guten Rotwein und Kleinkram, aus dem man eine Vorspeise und einen Dessert zau-bern kann."
Na ja, auch in diesem Fall hatte die Frau ihren Willen durchgesetzt. Es war alles da, inclusive Champagner für den späteren Abend. Das Ehebett war frisch bezogen, obwohl man noch nicht von einer gemeinsamen Nutzung aus-gehen konnte. Er wollte nur vorbereitet sein, sie aber nicht zu irgendwas über-reden, was sie selbst nicht auch wollte.
Selbstverständlich hatte er für Hanna heute Vormittag noch frische Rosen besorgt. Zwei davon lose, um damit den Tisch zu dekorieren. Und da er sich nicht lumpen lassen wollte, dekorierte er den Tisch im Esszimmer so gut, wie er es von Mechthild gelernt hatte. Schampus und Wein waren im Kühl-schrank. Den Wein würde er bestimmt vergessen und nicht rechtzeitig he-rausnehmen, also würde er zum Essen zu kühl sein. Damit ihm das nicht passierte, hängte er eine Serviette als Gedächtnisstütze an den Kühlschrank-griff.
Wie wird das ausgehen? Diese Frage beschäftigte nicht nur Holger, sondern auch Johanna. Sie hatte auf seine erste Bitte nach einem Treffen ein wenig abwehrend reagiert. Er hatte wohl auch etwas zu früh darum gebeten.
"Lass uns das Ganze in Ruhe anpacken", war ihre Antwort auf seine ent-sprechende Frage gewesen. "Wir sind nicht mehr die jungen Teenager die glauben, sie würden etwas verpassen."
"Ja, aber weil das so ist, liebe Hanna, laufen uns auch so langsam unsere besten Jahre weg. Zumindest bei mir, wo ich auf die Sechzig zugehe"
Holger hatte lange hin und her überlegt, wie er diesen Abend und dieses doch etwas ungewöhnlich erste Zusammentreffen gestalten sollte. Wie soll man eine richtige "Choreographie" gestalten von etwas, wovon man die Melodie noch nicht kennt. Die Komposition dieser Ouvertüre sollte ja erst erfolgen.
Er hatte die ersten Noten im Kopf, die passenden Tempi dazu zu finden, musste eine Augenblicksentscheidung sein. Entscheidend war, dass für sie beide am Ende eine harmonische Melodie zustande kam, die in ihrer Vollen-dung in einer perfekten Sinfonie endete.
Er setzte sich ans Klavier, spielte ein paar Läufe, als wolle er etwas auspro-bieren. Es kam eine ganz wohlgelungene Fantasie dabei heraus. Auch so ein Punkt, den er vor Johanna noch verheimlichte. Er war ein sehr guter Klavier-spieler, allerdings weit weit davon entfernt, eine Solistenkarriere auch nur planen zu wollen. Das Schicksal hatte ihm nicht genügen Genie mitgegeben, um einer der ganz großen zu werden. Aber für einen anspruchsvollen Haus-gebrauch reichte es allemal.
Diese Idee war sofort in seinem Kopf entstanden. Eigentlich ein wenig hoch-gegriffen, wenn nicht gar vermessen.
Aber nun war sie vollendet, seine Komposition, die er Johanna widmen woll-te und die auch ihren Namen trug.
Nachdem sie ihm ziemlich am Anfang ihrer Bekanntschaft mal nebenbei mitgeteilt hätte, sie sei ein wenig musikalisch und könne ein wenig singen, war es sein Ziel gewesen, sie damit zu überraschen, dass sie diese Begabung gemeinsam hatten.
Eine Beziehung, die halten soll, wusste er, muss auf einer Basis stehen, die aus möglichst vielen Gemeinsamkeiten betoniert wird. Das Fundament muss haltbar sein, auch gegen Stürme und Erdbeben (Ehebeben).
***
Inzwischen stand Johanna Krausdorf vor Holgers Haus, aber vorerst noch auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Ich hätte mir doch ein Gläschen Mut antrinken sollen, sagte sie sich, aber dann hätte sie bei dem Begrüßungskuss nach Alkohol gestunken und das wä-re dem guten ersten Eindruck, den sie unter allen Umständen machen wollte, abträglich gewesen.
Sie wusste ganz genau, dass sie, sobald sie dieses Haus betrat, unter Um-ständen auch gleich in einen neuen Lebensabschnitt hineinschlittern würde. Das wollte gut überlegt sein.
Da war aber auch die Angst vor dem Ungewissen. Es könnte auch ein gigan-tischer Fehlschlag werden. Er ein unverbesserlicher Machotyp, von sich selbst eingenommen, angeberisch und was sonst noch alles.
Aber es nützte alles nichts. Tief durchatmen, das Herz zum langsamer schlagen zwingen und sich voll uns Abenteuer stürzen. Sie hatte A und auch schon B gesagt. Jetzt war das C dran.
Einige Fenster des Hauses waren erleuchtet. In denen zur Straße hin leuch-teten kleine Lichterketten. Das schien hier übrigens in der ganzen Straße Brauch zu sein. Kein Fenster, das nicht lichtdekoriert gewesen wäre.
Kopf hoch, tief durchatmen, immer schön erst nach links, dann nach rechts schauen, bevor man die Straße überquert. Das hatte man ihr in der Schule beigebracht.
Als sie das Vorgartentor durchschritt, sah sie eine Bewegung hinter der Gardine eines unbeleuchteten Fensters. Sollte Holger bereits ungeduldig ge-wartet haben? Möglicherweise. Männer waren so. Wenn sie es nicht abwarten konnten tigerten sie mit kleinen schnellen Schritten durch die Zimmer und machten alle nervös, wenn welche da waren, die man nervös machen konnte.
Dass ihre Überlegung richtig gewesen war, erkannte sie, als sie die Klingel drücken wollte. Sie kam nicht dazu, diesem Finger den Befehl zu geben, durchzudrücken, denn eben als er den Knopf berührte, öffnete sich die Türe. Wärme und Licht fluteten Johanna entgegen, als sie den entscheidenden Schritt über die Schwelle tat.
Zu spät, um noch zu flüchten. Jetzt war es passiert.
"Herzlich willkommen, Johanna", sagte er mit einer volltönenden Bariton-stimme und als sie einen weiteren Schritt tat, schnellte seine hinter dem Rü-cken gehaltene zweite Hand hervor.
Sie erschrak beinahe und wäre fast in den Rosenstrauß hineingestolpert.
"Rote Rosen für die Rose meines Herzens", sagte er.
Und dann fiel erst einmal die Haustüre hinter ihnen zu. Sie standen nur da, einen Atemzug lang, und schauten einander an.
"Ist es wirklich so schlimm?" fragte Hanna, versuchte zu lächeln und fuhr fort: "Hat es dir die Sprache verschlagen?"
"Entschuldige, Liebes, aber das ist die Überwältigung des ersten Augenbli-ckes. Soeben ist die Wirklichkeit ins Haus getreten und das alle Vorstellungen in meinem Kopf weggefegt. Daher die Überwältigung."
"Aber so hässlich bin ich doch gar nicht."
Dann lachten sie beide. Aber nur kurz. Plötzlich fühlte Johanna, wie kräftige Arme sie umfingen und sie spürte seine Lippen auf ihrem Mund. Es war ein kurzer, aber ein sehr zärtlicher Kuss.
"Du bist wunderschön, Johanna", sagte er leise. "Du bist die Wirklichkeit. In meinem Computer sind nur Fotos. Ich spüre dein Leben, deine Wärme, das alles kann kein Foto vermitteln. Jetzt bist du da, bist Realität geworden"
"Du stellst dich mir auch nicht gerade als hässlicher Gnom dar, Holger. Stattliche Figur, angenehme Stimme, zärtlicher Kuss, zwar kein Teenager mehr, aber charmant wie es den Anschein hat."
"Komm, lass uns nicht hier so zwischen Tür und Angel das Reden anfangen. Leg ab, soviel du willst...."
"Aber heeeh doch!" unterbrach Johanna den Mann. "So viel ich will? Soll ich mich ganz ausziehen? Mal ehrlich, das war doch erst für viel später einge-plant, oder?"
Holger lachte kurz, nahm ihr den Mantel ab, hängte ihn fein säuberlich auf einen Bügel, dann nahm er sie erneut eines Kusses wegen in die Arme.
"Ich hab mich also nicht getäuscht, Hanna. Dein Humor ist wirklich echt. Du bist tatsächlich so direkt, erfrischend und natürlich wie ich dich aus dei-nen Mails eingeschätzt habe."
"Deine Nähe, dein Charme und deine Küsse beflügeln mich eben. Ich bin jedenfalls froh, dass es nicht so gekommen ist, wie ich befürchtete."
"Und wie wäre das verlaufen?" Er geleitete seinen Gast ins Wohnzimmer, in dem Hanna sich raschen Blickes umschaute. Es war wirklich ein "Wohn" -zimmer und keine Möbelausstellung, wie man sie nur zu häufig sah. So eine Art von Wohlfühl-Raum. Holger dirigierte Johanna in den einen der beiden bequemen Sessel der vor dem Bücherregal stand.
"Na ja, wir beide hätten erst mal verlegen dagestanden, nicht gewusst, was wir sagen sollen und uns nur angestarrt. Hätte doch so sein können, oder? Bevor ich hier reinkam, war ich beklemmt. Jetzt nicht mehr. Ich hoffe, du bist in deinen Erwartungen nicht enttäuscht worden."
"Sie wurden eher übertroffen. Ich weiß nicht, ob es dir auch so geht, die ganze Zeit über, wenn man sich schreibt, formt sich ein Bild des anderen im Kopf. Fotos machen es klarer, aber sie machen es nicht vollkommen. Ich bin nie dieser ausschließlich nüchtern denkende Mensch gewesen, für den es au-ßer Beruf und Erfolg nichts sonst gab. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ich bin recht romantisch, manchmal auch sentimental."
"Kannst du weinen?"
Diese Frage hatte Holger Massenkuss nicht erwartet. Sie war an dieser Stelle auch zumindest mal ungewöhnlich. Welche Antwort erwartete sie? Fragte er sich. Sollte er männliche Stärke und Härte demonstrieren oder Gefühle? Er entschloss sich zum Wahrheit.
"Als meine Frau starb, vor sieben Jahren, da habe ich geweint. Es gab auch ein paar andere Gelegenheiten, aber eigentlich bin ich keine Heulsuse. Warum fragst du das?"
Bevor Hanna antwortete, ergriff sie die Initiative und küsste Holger. Das ü-berraschte nun ihn wieder, aber er ergab sich willig in sein Schicksal. "Ich bin gerade dabei, das Bild, das ich von dir im Kopf habe, zu komplettieren oder sagen wir besser zu realisieren. Männer die nicht weinen können, sind oft hartherzig und kalt. Männer, die weinen und das auch zugeben, haben Herz und Verstand. Und einen warmen Charakter."
Während sie sprach, eilten ihre Gedanken natürlich weiter, der augenblick-lichen Situation voraus. Nein, sie war nicht enttäuscht worden in ihren Erwar-tungen. Sie hatten sich im Gegenteil nach dem augenblicklichen Eindruck mit ihren Wünschen weitgehend gedeckt. Dieses Haus war ansprechend, behag-lich, wohnlich, die Atmosphäre lud zum Bleiben und sich heimisch fühlen di-rekt ein. Die Arme Holgers vermittelten Kraft und gab das Gefühl geborgen zu sein und Halt zu geben Sein Mund schmeckte zärtlich beim Küssen, alles an ihm was bisher zutage trat, war angenehm.
Es folgte seinerseits ein weiterer Kuss, diesmal länger und ausgiebiger. Nachher sagte er, als müsse er sich dafür entschuldigen. "Du schmeckst ein-fach nach mehr, Hanna. Und bevor ich es jetzt vergesse: Hau mir bitte eine runter!"
"Ach gar! Sprich Sachen! Erkläre dich!"
"Ganz einfach, weil ich ein Trottel bin , ein unfreundlich ungastlicher unge-hobelter Gastgeber."
"Gucke mal da. Du überraschst mich mit deiner ungerechtfertigten Selbst-kritik. Lass das "Un" einfach weg, dann stimmt's in etwa. Aber erkläre dich lieber trotzdem, nicht dass sich hier nachher Missverständnisse anhäufen, die nicht mehr ausgeräumt werden können.
"Ja, jetzt sitzt du hier, auf dem Trockenen, um es mal so auszudrücken. In der Küche steht frischer Kaffee auf der Warmhalteplatte, extra für dich ge-brüht. Ein praller Teller voll Weihnachtsgebäck steht daneben, zum Anknab-bern gedacht. Und was mache ich Armleuchter. Sitze hier, starre dich an, schwelge in den herrlichsten Visionen, bewundere deine Schönheit, deine fan-tastische Figur und lasse dich darben. Schande über mich!!"
"So erhebe Er sich denn, mein stolzer Recke, recke Er seinen Arm nach dem Kaffee und kredenze Er. Kredenze Er flugs, mich gelüstet! So sei Euch für dies' Mal verzieh'n."
Nein, es kam keinerlei Verlegenheits-Langeweile auf, wie das bei ersten Tref-fen öfter mal ist. Man konnte nicht sagen, dass sofort beim ersten Anblick der Blitz der Liebe fürchterlich eingeschlagen hätte, bei reifen und erwachsenen Menschen tut er das bekanntlich seltener als bei Teenagern. Ein gewisser Funke von nicht zu übersehener Sympathie war allerdings schon überge-sprungen und hatte ein Flämmlein entzündet, das bereits zu flackern begann. Weiche Knie oder Atemnot, soweit war es noch nicht.
Und dann kam der Kaffee samt Hausherr wieder ins Wohnzimmer, erneut begleitet von einem hausherrlichen Kuss.
Als müsse er sich dafür entschuldigen, dass er seine Zunge bereits wieder mit der ihren in Kontakt gebracht hatte, sagte er: "Guck nicht so überrascht, Hanna, wozu heiße ich Massenkuss. Ich muss also, um meinem Namen alle Ehre zu machen, eine Masse Küsse an dich weitergeben. Und du bist es wert. Kein Kuss an dich kann jemals verschwendet sein, immer vorausgesetzt, er kommt von mir. Fremde Mäuler haben sich tunlichst zukünftiglich von dir fernzuhalten. Hiermit erhebe ich Anspruch auf deine sämtlichen Küsse der nächsten dreiundneunzig Jahre. Punktum!"
"Mit hundertachtunddreißig, lieber Holger, und diesmal bin ich mir relativ sicher, werde ich nicht mehr allzu viele Küsse zu verteilen haben."
"Kannst du auch ernsthaft sein, Hanna?"
"Find es raus, Holger. Da ich davon ausgehe, dass wir uns sogar übermor-gen noch mögen, hast du ja dazu genügend Zeit. Nimm's gelassen, Mann. Merkst du es denn nicht? Mit dieser übertriebenen Lockerheit überbrücken wir die Anfangsverlegenheit. Ich bin nämlich anfangsverlegen, nur bemüht das zu kaschieren."
"Du bist so wunderbar und locker. Ehrlich, ich möchte dich mal wirklich verlegen erleben."
"Dazu wirst du, vorausgesetzt wir kennen uns länger als eine Woche, mit Sicherheit Gelegenheit haben."
***
Sie erzählten sich während sie Kaffee tranken zwar nicht gleich gegenseitig ihr ganzes Leben, aber zumindest doch mal so einen ersten groben Abriss. Wenn man sich fremd und doch wieder nicht fremd ist, saugt man alles Wis-sen über den Partner in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Die-ses gegenseitige Erzählen lockert die Atmosphäre weiter auf. Er nahm sie mit auf eine Expedition durchs Haus, ganz so, als würde sie morgen schon mit ihren sieben bis neun Sachen anrücken und hier einziehen
Er wolle seine beiden Söhne, erklärte er, mit ihren Familien erst am zweiten Feiertag empfangen. Bis dahin wolle er sich ganz und gar und ausschließlich Hanna widmen.
"Das heißt, wenn du es nicht vorziehst, vorher schon zu flüchten."
"Ich bin kein Angsthase. So lange du mir keinen Grund gibst zu flüchten, hast du mich auf dem Hals bis ich entweder von selbst weg muss oder von dir höflich aber bestimmt vor die Türe gesetzt werde.
"Und was wäre ein Fluchtgrund? Wenn ich dich heute Abend in mein Bett zerre und die Gewalt antue?"
Hanna lachte und wuschelte sein Haar. "Pass bloß auf, dass ich nicht den Spieß umdrehe und dich vergewaltige. Du hast ja keine Ahnung von meinem Sexuellen Notstand.
Aber nein, Holger, ganz im Ernst, als ich einwilligte, das Weihnachtsfest al-lein mit dir zu verbringen, war mir schon klar, dass es nicht ohne Sex abgehen würde, sofern wir uns nicht auf Anhieb ganz und gar widerlich fänden. Und hätte ich das befürchtet, wäre ich nicht gekommen. Sex ist ein Teil meines Lebens, der in den letzten Jahren ständig zu kurz kam.
Wenn du mich nicht aus deinem Bett wirfst, werden wir diese Nacht zu-sammen verbringen. Es sei denn, du vergrellst mich noch so nachhaltig, dass ich es besser finde, deine Haustüre von draußen zu schließen."
Sie sei sehr direkt und offen, dies gefiele ihm.
Ja, es sei ihr bekannt, dass sie inzwischen erwachsen sei und wisse, wie der Hase zwischen Mann und Frau meistens zu laufen pflegt.
Ja, aber so fremd wie sie sich noch seien...
"Kardinalfrage, Holger: Sind wir uns wirklich noch so fremd? Wir schreiben uns monatelang sehr intensiv und unser persönliches Zusammentreffen war bislang keine Katastrophe.
Wenn du mich festhältst und küsst, dann fühle ich, wie ich es seit mein Mann starb nie mehr empfunden habe. Wir beide haben uns doch in der fes-ten Absicht getroffen, bei gegenseitiger Harmonie eine Beziehung einzugehen. Und von Disharmonie sehe ich nichts. Ich fühle mich nicht fremd bei dir, ich fühle mich schon fast zu Hause."
"Das klang wie eine halbe Liebeserklärung."
"Vielleicht war es auch so gemeint. Ich steure mein Ziel, wenn ich es erst mal klar erkannt habe, meist direkt an und mache keine Umwege.
"Wir sollten dann," meinte Hanna jetzt, "auch keine weiteren Umwege mehr machen und zusehen, dass wir unser Candle-Light-Dinner gebastelt kriegen. Ich will nicht riskieren, dass du morgen früh halb verhungert und abgemagert neben mir liegst."
Johanna hatte sich unauffällig umgesehen. Das Wohnzimmer war tatsäch-lich weihnachtlich geschmückt. Der Christbaum stand in der einen Ecke und war liebevoll dekoriert worden mit – und das registrierte Johanna besonders wohlwollend – echten Kerzen anstatt elektrischer. Auf dem Wohnzimmertisch lag eine Tischdecke mit Weihnachtsdekor, aber keine kitschige mit Rausch-goldengelchen verziert. Überall im Haus tönte aus nicht genau zu lokalisieren-den Lautsprechern leise Weihnachtsmusik
Als ob er genau geahnt hätte, was mir wichtig ist, dachte sie. Sie glaubte nicht an so etwas wie Gedankenübertragung, eher schien hier eine Wesens-einheit vorzuliegen. Die Wellenlänge zwischen ihnen beiden stimmte nahezu perfekt. Zu perfekt eigentlich, um nicht an irgendeiner Ecke noch einen Haken zu vermuten.
Sie erhob sich. "Komm, Holgerknabe – nein, ich sagte nicht Holder Knabe – lass mich nun mal deine Küche begutäugeln. Mal sehen, was wir zaubern können."
Sie öffnete Schranke, Schubladen, Kühlschrank, Gefrierschrank und ent-schuldigte sich damit, herausfinden zu müssen wo hier alles "versteckelt" war. In Wirklichkeit frönte sie nur ihrer angeborenen weiblichen Neugier. Und was sie instinktiv registrierte, war die vorbildliche Ordnung, Übersichtlichkeit und Sauberkeit hier, so ganz und gar nicht einem Witwer-Jungesellenhaus-halt ähnlich. Sie räumte ihre Zutaten, die sie zuerst brauchte, auf die Arbeitsplatte und sagte dann:
"Mann, gesteh endlich!"
"Natürlich, ich gestehe alles. Wärest du vielleicht so zuvorkommend freund-lich, mir mitzuteilen, was ich gestehen soll? Es ist ja nur, damit ich das Rich-tige gestehe."
"Du hast deiner Geliebten für heute frei gegeben meinetwegen."
"Aber sicher, ich frage mich nur wie du das so rasch herausgefunden hast."
"Weil jede Frau sofort sieht, dass dieser Haushalt eben von einer Frau ge-führt wird. Dies ist kein Junggesellenhaushalt. So perfekt kannst du nicht sein."
Das sei er auch nicht, gestand er. Er sei froh, seit einem Jahr nun endlich eine Haushälterin gefunden zu haben, die ihm an drei Vormittagen in der Wo-che die Bude in Ordnung halte. "Vor einem halben Jahr hättest du nicht her-kommen dürfen, das heißt dürfen hättest du schon gedurft, aber nicht genau in die Ecken schauen."
Er stand schräg hinter ihr und schaute ihr bei der Arbeit zu. Dies tat er mit gewisser Faszination. Er bewunderte ihre hausfrauliche Perfektion, aber nicht nur diese, sondern auch ihre sehr wohlgeformten Unterschenkel. Das kleine Stück, das er oberhalb der Knie sehen konnte verhieß ihm das Paradies für die kommende Nacht.
"Darf ich mir mal erlauben, eine einem Kompliment nicht ganz unähnliche Äußerung zu machen?" fragte er.
"Darauf muss ich aber nun auch wirklich ganz dringend bestehen, Mann. Frauen meiner Art leben von sowas."
"Also, wenn man dich hier so hantieren sieht, dann hat es ganz den An-schein, als hättest du früher mal einer Luxushotelküche als Küchenchefin vorgestanden."
Johanna unterbrach ihre zwiebelhackende Tätigkeit, drehte sich zu Holger um, das Messer gesenkt vor sich haltend und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
"Der Umgang mit Lebensmitteln, oder auf gut deutsch gesagt, das Kochen, war schon immer eins meiner Hobbys. Du brauchst nun nicht gleich zu be-fürchten, dass du bei mir tagtäglich einem Candle-Light-Dinner ausgesetzt wirst. Normalerweise koche ich auch normal, dafür aber – sagt man mir nach – nicht gerade schlecht. Du wirst schon noch sehen, was du dir hier eventuell mit mir einhandelst.
***
Er war von allem Anfang an bereit gewesen, dieses Risiko einzugehen. Sie hantierte wirklich wie ein Profi. Da saß jeder Handgriff, es herrschte nie Chaos in den Töpfen und Pfannen. Er roch nichts angebrannt oder verschmort. Zwi-schendrin deckte Holger den Tisch fertig. Darin kannte er sich aus. Er hatte bei seiner Frau viel abgeguckt und er war ein Merker-Typ. Diese Frau Johan-na Krausdorf würde diesem Hause eine Bereicherung, ach was, eine Zierde sein, erkannte er. In ihm reifte so nach und nach der Entschluss, diese Frau, wenn immer möglich, nicht mehr aus seinen Klauen entrinnen zu lassen. Von Minute zu Minute wurde ihm klarer, welch ein Juwel sie war. Das betraf nicht bloß nicht hausfraulichen Fähigkeiten. Die anderen, noch unerprobten, da war er sicher.
Johanna merkte ohne sich umzudrehen, dass Holger dicht hinter ihr stand und sie beobachtete. Sie empfand das nicht als störend oder irritierend, son-dern diese Nähe setzte ihr auf eher sehr angenehme Weise zu.
Andere Männer, mein Lieber," sagte sie so über die Schulter hinweg nach hinten, verziehen sich in einem Fall wie diesem aus der Küche, lassen die Frauen ihre Arbeit machen und vertreiben sich im Wohnzimmer derweil die Zeit mit Rauchen, Fernsehen oder Pornos gucken."
"Ich rauche nicht, Hanna", entgegnete er gelassen. "Fernsehen ausgerechnet jetzt, scheint mir nicht passend und was die Pornos angeht, nun, ich habe welche. Nicht dass ich ganze Regale voll davon horte, aber ein Kostverächter bin ich nicht gerade. Derartige Genüsse lasse ich aber nicht zur Gewohnheit werden, weil sie abstumpfen. In gewissen Situationen sind sie ganz ange-bracht. Sogar meine Frau hat sie hin und wieder belebend gefunden für unser Liebesleben. Alles eine Frage des richtigen Stellenwertes."
"Fpui", (Sie sagte ganz bewusst F p u i und betonte das auch so.) "Ihr Män-ner und die Pornos. So langsam offenbarst du mir deine Schwarze Seele."
"Noch nie welche gesehen? Sei ehrlich."
"Doch, habe ich. Besonders in letzter Zeit. Früher haben sie mich kalt gelas-sen, aber jetzt, erregen sie mich sogar, wenn ich in einer entsprechenden Stimmung bin. Ich gebrauche sie aber auch sparsam.
Komm her, Holger, ich brauche mal kurz deine Hilfe. Stell dich mal hinter mich... ja, ganz dicht, so dass Körperkontakt herrscht. Und jetzt greif mal un-ter meinen Armen hindurch nach vorne..." Sie winkelte ihre Arme etwas ab. "Und dann mach hohle Hände. Ja, gut so. So und jetzt leg sie ganz sanft auf meine Brüste, so, dass ich dich und du mich fühlen kannst."
"Du bist erregt, das spürt man", sagte er und es klang nicht erstaunt. Alles hier lief völlig normal und natürlich ab.
"Du darfst meinen Hals und meine Ohrläppchen küssen. Aber nur eine Mi-nute, nicht länger dann musst du mich weitermachen lassen. Sonst wird das Essen nicht fertig."
Aber es wurde fertig, sogar völlig nach Fahrplan. Um acht Uhr wurde ser-viert, bis kurz nach Neun wurde feingeschmeckt und genossen, ständig unter-brochen von Holgers Beifallsbekundungen.
Es wurde ein Mouton Rothschild serviert. Johanna, keine besonders gute Weinkennerin schmeckte jedoch sofort den Preis. Dies war ein ganz feiner Tropfen. Nein, sie verkniff es sich, nach dem Preis zu fragen. Sie sagte nur:
"Ich hoffe doch, du hast nicht extra meinetwegen den ganzen Keller voll ge-hortet."
"Ei wo werd ich denn? Männer meines Schlages machen keine halben Sa-chen. Ich hab gleich den ganzen Weinberg gekauft. Ich muss dir sagen, liebste Johanna, das Essen war fantastisch. Und jetzt gehen wir zum ernsten Teil des Abends über. Jetzt ist Bescherung..." als er sah, wie sie die Stirn in Falten leg-te, winkte er sofort ab. "...nein, Hanna, jetzt nicht so etwas Banales sagen wie: Aber das wäre doch nicht nötig gewesen. Schon bemerkt? Wir haben Weih-nachten. Das Fest der Liebe sagt man. Und nach meinem Eindruck ist unter uns beiden nicht gerade der pure Hass ausgebrochen."
Jetzt lachte Johanna und küsste Holger flüchtig auf die Stirn. "Ach wirklich? Ich dache, es wäre Ostern. Ich hab schon die ganze Zeit überlegt, wo die Eier versteckt sein könnten. Nein, im Ernst, für teure Geschenke kennen wir uns zu kurz."
Er zauberte aus seinen Taschen ein klitzekleines Kästchen hervor und hielt wes ihr unter die Nase. Beinahe zitternd öffnete Johanna es und zuckte zu-rück. Es enthielt einen Ring mit einem Stein.
Wieder wollte sie etwas sagen und wieder legte er ihr sanft den Zeigefinger auf die Lippen. Dann hauchte er einen Kuss auf ihre Lippen und sagte: "Schweige sie! Sage Sie jetzt nichts. Ehrlich, es ist nur ein ganz kleiner Stein. Und allein schon für das bisher so beglückende Zusammentreffen ist dieses Geschenk angebracht. Was immer später auch noch kommen möge."
"Ich... ich hab auch was für dich", druckste sie."
"Das wäre doch jetzt aber wirklich nicht nötig gewesen", verulkte er sich selbst, reckte übertrieben gierig die Hand aus und sagte: "Her damit!"
Sie gab ihm die Manschettenknöpfe und die Krawattennadel und fügte bei-nahe verlegen hinzu, dass sie leider nicht echt seien, sondern nur Walzgold Doublè.
Der Wert eines Geschenkes, wurde holgerseits referiert, bemesse sich weni-ger nach dem materiellen, sondern eher nach dem ideellen Wert. "Und wenn du nun befürchten solltest, ich könnte mich gleich derart verausgabt haben, dass ich im Januar Sozialhilfe beantragen muss, so kann ich dich beruhigen. Zwar bin ich kein reicher Mann, aber immerhin doch einer der sogenannten Besserverdienenden."
"Was, kein Millionär? Bitte bring mir sofort meinen Mantel!"
Holger nahm Johanna auf die Arme und trug sie mit kräftigen Armen zur Couch. Dort bettete er sie bequem, kniete sich vor sie hin und begann mit sei-nen Händen ihren Körper zu liebkosen.
"Nein, Johanna, noch nicht was du denkst. Das kommt später. Ein bisschen Zärtlichkeit für den Anfang." Er strich sanft über ihre Haare, zog die Konturen ihrer Wangen mit den Fingerspitzen nach, legte seine Hand leicht auf ihre Brust und hauchte einen Kuss auf ihren Mund.
Johanna genoss diese Zärtlichkeiten, sog sie in sich auf, zitterte vor Erwar-tung und gab sich große Mühe es nicht zu zeigen. Seine Küsse schmeckten männlich und eben nicht nach Zigarette. Dass er nicht rauchte, war ihr ein wichtiger Punkt, der zwar niemals angesprochen worden war, aber das Ge-samtbild nun positiv weiter komplettierte. Zwar hätte Hanna eine neue Bezie-hung niemals von Rauchen abhängig gemacht, aber wenn das Problem sich erledigte, bevor es angesprochen werden musste, dann um so besser.
Johanna lag da unter den liebkosenden Händen Holgers und wusste nicht genau, wie sie sich nun fühlen sollte. Aber wie auch immer, ihr war behaglich uns sauwohl zumute. Sie war so lange nicht mehr von einem Mann auf diese Weise berührt worden.
Bin ich wegen gutem Sex hierher gekommen? Fragte sie sich und sie war sich selbst gegenüber ehrlich genug, das zu bejahen. Nicht Sex um jeden Preis natürlich, sondern nur bei gegenseitiger Sympathie. Und was war das hier? Antipathie sicherlich nicht.
"Wenn du bis übermorgen bei mir bleibst, Johanna", sagte er plötzlich über-gangslos, "dann wirst du meine Familie kennen lernen."
Sie nickte und sagte, sie habe nicht vor, davonzulaufen, aber sie dachte: Verdammt noch eins, warum berührt er mich nicht dort, wo ich berührt wer-den möchte? Sich an ihn drängen wollte sie nicht, die Initiative sollte von Hol-ger kommen. Ja, merkte er denn noch immer nicht ihre bedingungslose Be-reitschaft?
Er war auch gerade im Begriff, seine Hand dorthin zu bewegen, wo sie ge-braucht wurde, aber das Schicksal meinte es diesmal noch nicht gnädig mit ihm. Es klingelte an der Haustüre.
Er ließ Johanna los, die sich sofort aufsetzte. Ob er denn noch Besuch er-warte, wollte sie erstaunt wissen.
Dies, sagte er, sei als ein Abend geplant gewesen, nur für sie beide. Irgend-welche Gäste habe er ganz bewusst nicht eingeladen. Wer aber auch immer jetzt da draußen an der Türe sei, werde verscheucht.
Es war sein jüngster Bruder, der Alptraum der Familie. Neun Jahre jünger als er selbst, mehrfach gescheiterte Existenz, Alkoholiker und immer bereit Geld zu schnorren. Der stand, noch nicht total besoffen aber doch merklich angeheitert in der Haustüre, hatte ein zweifelhaftes Weibsbild am Arm.
"Frohe Weihnachten!" sagte er, nicht mehr ganz stimmfest und hielt eine Champagnerflasche hoch. "Lass uns anstoßen, Holli, ich hab auch stoßberei-tes "Material" mitgebracht. Die reicht für uns beide, wo du doch ohne Weib dastehst..."
In diesem Augenblick erschien Johanna in der Türe. Im denkbar ungüns-tigsten Augenblick. "Fred, verschwinde, aber dalli!" sagte Holger energisch.
"Ach nee!" staunte Fred und drängte an Holger vorbei ins Haus. Die "Dame" zerrte er mit. "Lass uns 'n Vierer machen. Oder wir lassen Helga machen. Die besorgt es uns allen dreien."
Genau so sieht die auch aus, durchfuhr es Johanna und stellte sich sogar vor, wie dieses Weib sich über sie hermachte. Nicht gerade ein angenehmer Gedanke. Sie baute sich vor den beiden Eindringlingen auf und war geladen wie eine Kanone.
"Raus hier!!" zischte sie scharf wie eine Giftschlange. Sie war puterrot ange-laufen vor Zorn, ihr Busen bebte und sie drückte Holger an die Seite. "Ver-schwinden Sie hier, aber ganz schnell. Und... und nehmen Sie ihre "Dame" mit. Und wenn Sie nicht verschwinden und noch einmal in meiner Gegenwart dieses Haus betreten, wenn Holger sie bittet zu gehen, dann rufe ich die Polizei und lasse Sie wegen Hausfriedensbruch festsetzen."
Sie bezweifelte zwar, dass sie das wirklich getan hätte, aber Johanna war derart geladen ob solch unerzogener Frechheit eines erwachsenen Menschen, dass sie sich selbst nicht mehr wieder erkannte. Aber das war nicht mal der eigentlich Grund für ihre Wut. Die ganze gute Stimmung, die Harmonie zwi-schen ihnen beiden, war verschwunden. Das wog viel schwerer, weil sie ja nicht wissen konnte, ob sich die Lage nochmal reparieren lassen würde.
Als die Türe dann endlich zu war, warf sie sich zitternd in Holgers Arme und schluchzte. Sie brauchte selbst einen Augenblick um zu begreifen, was sie da eben gemacht hatte.
Holger streichelte ihr Haar und redete beruhigend auf Johanna ein. "Ist ja gut, Liebes, sie sind weg. Du hast sie verscheucht. Und wie! Du warst wie eine Furie. Das hat den guten Fred sichtlich beeindruckt. Ich alleine hätte größere Probleme mit ihm gehabt. Du warst übrigens große Klasse, Schatz. Fast schon wie die perfekte Hausherrin."
"Meinst du, der hätte uns tatsächlich zu einem flotten Vierer mit dieser Nut-te aufgefordert?" fragte Hanna.
"Wenn wir ihn reingelassen hätten, früher oder später sicher. Der ist so ein Erotomane, weißt du. Sex und Alkohol, Orgien, etwas anderes hat er nicht im Kopf."
"Das hat sich so angehört, als habe er dich schon öfter mal zu sowas aufge-fordert – mit Erfolg."
Holger führte Johanna wieder in das Wohnzimmer zurück und meinte: "Wenn ich dir jetzt sagen würde, zweimal habe er das mit Erfolg versucht, was würdest du dazu sagen?"
"Ich weiß nicht, ich denke das wäre mir sowas von egal. Ob zweimal oder zehnmal, spielt keine Rolle. Du bist sieben Jahre lang Witwer, dass du nicht die ganze Zeit enthaltsam gelebt hast, kann ich mir vorstellen.
Ab heute aber, mein Schatz, wenn wir zwei miteinander intim geworden sein werden und uns entschlossen haben, eine feste Beziehung einzugehen, möch-te ich es mir sehr verbeten haben. Du kannst mir alles beichten, was vor mei-ner Zeit war, kannst es auch sein lassen. Das ist unwichtig. Was ab heute ist, das zählt für mich.
Denk nur nicht, ich hätte als Witwe die ganze Zeit keinen Sex gehabt. Wir sind uns also nichts schuldig."
Holger nahm Hanna jetzt zum erstenmal richtig in den Arm und küsste sie sehr lange und leidenschaftlich. Sie bemerkte die Reaktion seines Körper sehr deutlich. Der Druck unten war nicht zu über"fühlen". Aber auch ihr Körper reagierte. Sie spürte die Reaktion und fühlte ihre Nässe.
"Du bist entwaffnend ehrlich, Hanna", sagte er, "und so direkt. Das gefällt mir. Aber wie bekommen wir nun unsere Stimmung wieder auf die Reihe?"
"Machen wir doch mal ganz was Verrücktes. Du hast ein Klavier hier im Wohnzimmer rumstehen. Das lässt mich vermuten, dass du das Spielens mächtig bist. Erfreu mich damit ein wenig."
"Na ja, ich hab das früher mal etwas intensiver betrieben , aber es reichte nie zu etwas Großem."
"Mir reicht der Hausgebrauch völlig. Also, schick dich. Lass mal was hören."
"Na gut, aber nicht "Ihr Kinderlein kommet" Er schlug einen Notenband auf, setzte ihn auf den Notenständer. Johanna sah das Stück und staunte. Es spielte die in Klavier gesetzte Arie aus Händels MESSIAS "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Eins der schönsten kirchenmusikalischen Stücke, das sie kannte. Nein, nicht nur kannte, das sie liebte und das sie auch singen konnte.
Jetzt sollte er sein blaues Wunder erleben. Ahnungslos und hingebungsvoll begann er zu spielen. Die ersten Töne des Vorspiels. Sie war gespannt, ob er die Sopranarie sogar singen würde. Aber das tat er dann doch nicht. Dafür aber sie. Hinter ihm stehend holte sie Atem und begann die Arie zu singen, wie sie es in den Laienaufführungen der Kantorei, der sie seit langem angehörte, schon oft getan hatte.
Als ihre glockenreine Stimme ertönte, stockte er einen Sekundenbruchteil vor Überraschung. Dann spielte er unbeirrt weiter. Und Johanna legte all ihr Gefühl in diese Arie, das sie dafür hatte.
Nachdem der letzte Ton verklungen war, blieb es einen Atemzug lange still. Dann drehte er sich langsam zu ihr um. Täuschte sie sich oder hatte er glän-zende Augen?
"Ich hörte gerade einen Engel singen", sagte er, "aber sehe ich nur dich."
Johanna lächelte. "Was heißt hier "nur mich?" Ich bin ein Engel, das nur zur Klarstellung. Und nun, liebster Holger, bin ich bereit für das große Finale."
Seine Küsse zeigten ihr, dass auch er mehr als bereit war. Seine Hände schienen plötzlich überall zu sein. Er griff fest aber nicht schmerzhaft in ihre Haare, während seine Zunge die ihre suchte. Ihre Hand suchte und fand den bestimmten Reißverschluss und öffnete ihn. Und Holger spürte den Griff ihrer Hand und wusste, was nun erwartet wurde, was sie im Grunde genommen schon lange wollten.
"Komm", sagte er nur und trug sich auf seinen Händen ins Schlafzimmer. Nein, er riss ihr keineswegs überhastet die Kleider vom Leibe wie jemand, der sich nicht mehr beherrschen konnte. Er tat es gefühlvoll, zärtlich unter fort-währenden Liebkosungen. Er berührte Johannas Brüste, küsste sanft ihre Warzen und streifte langsam ein Kleidungsstück nach dem anderen ab.
Und als ob es abgesprochen gewesen wäre, begann nun auch sie ihn zu ent-kleiden. Das ging naturgemäß etwas schneller. Er hatte es gar nicht eilig, die Vereinigung zu vollziehen. Zuerst einmal erforschte er Hannas Körper, nahm sie mit seinen Augen in sich auf und fand, dass alles wunderbar und wohlge-formt war.
Seine Küsse bedeckten ihren Körper, seine Fingerspitzen erzeugten auf ihrer Haut so etwas wie eine elektrische Spannung.
"Johanna, Tochter der Aphrodite, Enkelin der Venus", sagte er "Du bist voll-kommen, du bist schön."
"Ich bin vor allem alt", sagte sie. "ich bin 45 Jahre alt. Aber ich liebe dich, Holger. Komm zu mir, Liebster, lass uns Premiere feiern."
Als er mit einem Seufzer in sie eindrang, als ihre feuchte Wärme ihn umhüll-te, als ihre Körper eins wurden, sagte er:
"Ja, Johanna, mein Engel, wir feiern Premiere. Heute ist Premiere für unsere Liebe."
ENDE