Preis des Verbrechens
Nebelschwaden geisterten wie Vorboten des Unheils durch die kleine abgelegene Seitenstraße. Ed Muller zog nervös an seiner selbstgedrehten Zigarette, deren würzig riechender Qualm sich mit den wabernden Nebelfingern in einem lautlosen Reigen verband.
Muller stand vor einem alten, baufälligen Gebäude, dessen blasse Eingangstür schief in den Angeln hing. Er warf seinen Zigarettenstummel auf das feuchte Kopfsteinpflaster und trat ihn mit dem Schuhabsatz aus, bis auch die letzte Glut verglimmte.
Ed stellte den Kragen seines schmutzigen Trenchcoats hoch, und trat an das winzig wirkende Fenster des alten Hauses. Totenstill war es in der Gasse, und außer dem matten Schein einer verwitterten Straßenlaterne, stockdunkel. Muller versuchte in das hinter der Scheibe liegende Zimmer zu blicken. Nichts. Er konnte nur die wenigen Möbelstücke erkennen, ansonsten war es ruhig. Ein hinterhältiges Lächeln huschte über seine Mundwinkel, dann stellte Ed sich vor die Holztür. Er kramte einige Sekunden in seiner Manteltasche und zog einen kleinen Bund mit verschieden großen Dietrichen hervor. Er suchte sich einen bestimmten aus, und steckte ihn mit einer flinken Bewegung in das rostige Türschloß. Nach wenigen Versuchen schnappte es unter einem leisen Knacken zurück.
Schnell steckte Ed sein Werkzeug weg und schob die Tür einen Spaltbreit auf. Ein muffiger, fremdartiger Geruch wehte ihm entgegen und er verzog für einen Moment angewidert sein markantes Gesicht. Vorsichtig, ohne ein Geräusch zu verursachen, huschte er in das kleine Zimmer. Es war ein, mit allerhand verschiedenem Kram vollgepacktes Zimmer. Totenmasken, die an einer Wand hingen, glotzten ihn aus ihren geschnitzten Augen an. Ed schlich an ausgestopften Tierkörpern vorbei und versuchte an die Rückwand des Zimmers, an der ein dunkler, schäbiger Vorhang hing, zu gelangen.
Nach wenigen Schritten erreichte Muller ihn. Er atmete flach. Eine drückende Spannung hielt ihn gefangen, in seinen Augen glänzte es wild. Mit der rechten Hand schob er den Stoff beiseite und blickte in die dahinter liegende Kammer. Sie war dunkel. Nur von dem faustgroßen, roten Edelstein, der auf einem Samtkissen in der Ecke des Raumes lag, ging ein schwaches Leuchten aus. Ed wischte sich über die Augen. Das war er. Der Stein des Schicksals. Ed hatte darüber in der Zeitung gelesen. Der Stein kam ursprünglich aus Indien, und sollte zukunftsdeutende Kräfte besitzen.
Weiterhin hatte er gelesen, daß der Stein sich im Besitz des alten indischen Trödelhändlers und Wahrsagers befinden sollte, in dessen Laden er sich jetzt befand.
Und er hatte recht.
Mit zwei Schritten war Muller bei dem kostbaren Mineral, hob es vorsichtig mit beiden Händen hoch, so als ob er Angst hatte, Stücke davon zu verlieren. Ed starrte auf den geschliffenen Stein, und bemerkte dabei nicht, daß der Vorhang hinter seinem Rücken zur Seite glitt.
„Sir..“, hörte er eine mit Akzent sprechende Stimme. Sofort war Ed aus seiner Faszination erwacht. Er kreiselte herum und blickte in die starren Augen eines etwa siebzigjährigen Inders.
„Der Stein, Sir“, hörte er die Stimme des Inders, dessen dünne Lippen sich beim Reden kaum bewegten, „der Stein, Sie dürfen ihn nicht mitnehmen!“
Ed lächelte kalt und ließ den Stein in seine Manteltasche gleiten.
„Willst du mich daran hindern, Alter?“, zischte Muller und zog ein unterarmlanges Messer aus der Scheide an seinem Gürtel.
Der Alte wollte zurückweichen, doch Ed war mit einem Satz bei ihm und grub seine linke Hand in dessen Kragen. Mit der Anderen stieß er zu. Einmal, zweimal. Tief bohrte sich der Stahl in den schmächtigen Körper des Inders, der leise aufstöhnte und in der nächsten Sekunde zusammensackte. Hastig wischte Ed das Messer an den Kleidern des Mannes ab, sprang über die Leiche hinweg und rannte durch die offene Ausgangstür. Dann hatte ihn die Dunkelheit verschluckt...
Inspektor Morris wurde früh aus dem Schlaf gerissen. Ein Mord hieß es, und der schon angegraute Inspektor war schon wenige Minuten nach dem Anruf in dem alten Trödelladen aufgetaucht. Die Spurensicherung hatte schon ihre Arbeit getan, und der Tote war schon abtransportiert worden. Ein junger Kollege trat Morris entgegen und schilderte ihm mit knappen aber präzisen Worten die Sachlage.
„Es war ein Einbruch, Sir. Ein Toter. Erstochen.“, sagte der junge Beamte.
„Aha“, Morris zog die Stirn in Falten. „Irgend etwas gestohlen?“
„Ja. Die Frau des Toten erwähnte einen faustgroßen, roten Edelstein, den ihr Mann für seine Wahrsagefähigkeiten benötigte.“
„Aha“, erwiderte Morris erneut. Er hatte bereits eine Idee gefaßt. Ein Raub in dieser Kleinstadt. Damit konnte nur ein Mann etwas zu tun haben, oder etwas darüber wissen. Ed Muller. Muller war bei der Polizei bekannt wie ein bunter Hund.
Der Inspektor beschloß noch in diesem Augenblick, Muller einen Besuch abzustatten.
Ed Muller saß an seinem Küchentisch und wiegte seine Beute in beiden Händen. Der Stein würde ihm ein Vermögen bringen, das wußte er schon jetzt. Er besah sich die sauber geschliffenen Kanten und versuchte zu ergründen woher dieses schwache, pulsierende Leuchten kam, das von dem Stein ausging. Ed starrte auf die glitzernde Oberfläche. Immer stärker wurde das Strahlen, immer intensiver. Muller sah nur noch den Stein. Seine Gedanken wurden ausgelöscht. Ihn interessierte nur noch das Leuchten. Vor seinen Augen tanzten jetzt Millionen kleiner Lichter, wurden stärker, nahmen von ihm Besitz. Leicht stöhnte Ed auf. Ihm wurde schwindlig, ihm war als wuchs der Stein, wurde immer größer, hüllte mit seinem Leuchten seine Hände ein. Eds Mund stand halb offen. Er merkte nicht, wie der Speichel aus seinem Mund floß, sein Kinn entlang lief und letztlich zu Boden tropfte, um langsam einen kleinen Bach zu bilden. Der Stein wuchs. Ed hatte plötzlich das Gefühl, daß vor ihm eine große, leuchtende Steinwand entstand. Seine Hände hielten den Stein schon lange nicht mehr. Muller hob seinen rechten Arm und berührte mit seiner Hand die pulsierende, rötliche Wand. Sie war tatsächlich vorhanden. Kalt. Glatt. Wie der Stein, den er noch eben in den Händen hielt. Ed drehte sich. Überall sah er die Wand. Er trommelte mit aller Gewalt gegen die unüberwindbare Hürde. Wild warf er sich vor, stieß hart seine Schulter an der glatten Mauer. Ed versuchte zu schreien, doch kein Laut entrang sich seinem geöffneten Mund. Immer wieder tobte er, schlug mit den Fäusten, den Füßen. Es geschah nichts. Allmählich verließen ihn die Kräfte. Er senkte seine schweißbedeckte Stirn. Seine Lippen formten sich ein letztes mal zu einem Schrei, doch kein Laut drang hervor...
Inspektor Morris parkte seinen venusroten Rover direkt an der Straße vor der alten Mietwohnung. Er verzog das Gesicht, als er sich aus dem Fahrzeug quälte und ihm der eiskalte Herbstregen ins Gesicht peitschte. Schnell rannte er die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf, aber trotzdem war der Großteil seiner Kleidung bereits durchnäßt. Er blickte kurz auf die Namenstafel und klingelte darauf bei Muller. Es tat sich nichts. Er klingelte erneut und faßte wenige Sekunden später nach der Türklinke. Die Tür war offen. Morris zog sie auf und trat in den muffig riechenden Hausflur. Der Inspektor stiefelte entschlossen die kahlen Steinstufen hinauf und blieb vor der linken Wohnungstür stehen. Ohne einen weiteren Klingelversuch zu unternehmen, griff er nach dem Türknauf. Auch diese Tür war unverschlossen. Er zog sie auf und ging in Mullers Wohnung. Ein schlichter Flur empfing ihn, an dessen Ende sich drei Türen befanden. Zwei waren geschlossen, eine jedoch offen. Morris glaubte einen leichten, rötlichen Schein aus dem dahinterliegenden Raum erkannt zu haben. Zielstrebig ging er auf das Zimmer zu und blickte hinein. Er sah eine Küche. Darin befanden sich nur gewöhnliche Küchengeräte, sowie ein Tisch und ein Stuhl. Der Gegenstand, der sich auf dem Tisch befand, fiel Morris sofort ins Auge. Es war ein faustgroßer, geschliffener Edelstein. Rasch schaute Morris noch in die anderen Räume, doch niemand war im Haus. Schließlich ging er in die Küche zurück. Er zog sein Taschentuch aus der Hosentasche und griff sich den Stein. Kurz blickte er auf seine Oberfläche.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Morris im Inneren des Steins eine Bewegung bemerkt zu haben, dachte aber danach an eine Lichtspiegelung. Er ließ den Stein in seiner Jackentasche verschwinden, und verließ die Wohnung.
Der Mord wurde allerdings niemals aufgeklärt und Ed Muller schien vom Erdboden verschluckt worden zu sein...
Ende