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Prüfungsvorbereitung
Prüfungsvorbereitung
13.00 Uhr, Zeit für die Mittagspause. Ich mache mir eine 5-Minuten-Terrine warm, lasse sie etwas ziehen und dann mir schmecken. Es ist derzeit niemand im Hause, da eine Betriebsveranstaltung im Hauptsaal stattfindet. Ich wurde nicht eingeladen, sondern habe die ehrenvolle Aufgabe, auf das Telefon aufzupassen. Es klingelt nicht.
Still löffele ich meine Suppe. Alles hat sich innerhalb der letzten zwei Monate verändert. Die Firma, die EDV-Programme maßgerecht für andere Firmen zuschneidet, steht kurz vor der Pleite. Dem früheren Abteilungsleiter wurde ans Herz gelegt, seinen Hut zu nehmen. Ihm wurde alles zur Last gelegt, was andere ebenso verbockt hatten. Aber es können ja nicht alle auf einmal gehen. In den nächsten Wochen wird die Führungsliga bestimmt einen würdigen Nachfolger finden.
In der Firma war ich als Sekretärin für Herrn Kuhlmann tätig, unseren ausgeschiedenen Abteilungsleiter. Mit Herrn Kuhlmann habe ich meinen Chef verloren und damit auch meinen Arbeitsplatz. Zumindest sehe ich das so, obwohl ich nach wie vor bleiben darf. Niemand hat mir eine Kündigung überreicht.
Ich persönlich stelle mir keine rosigen Zukunftsaussichten vor. Was jetzt kommt, wird etwas Neues, etwas Fremdes sein. Oder besser ausgedrückt, jemand Fremdes wird seinen Platz übernehmen.
Auf wen oder was soll ich also warten? Warum nicht das Schicksal selbst in die Hand nehmen? Derzeit stehe ich kurz vor dem Abschluss meiner Fortbildung zur Ausbilderin in der IT-Branche. Wie der Name schon sagt: fort wie fort, ich möchte mich neu orientieren, wie es so schön heißt. In einer Woche findet meine Prüfung statt. Mit einem mündlichen Vortrag muss ich meinen künftigen Auszubildenden ihr neues Handwerkszeug vermitteln. Die Folien, die ich für die Vorführung brauche, liegen bereits fix und fertig kopiert vor mir. Es wird Zeit für eine Präsentationsprobe. Die Schwierigkeit ist, ich habe noch nie vor Publikum gesprochen und muss nun ins kalte Wasser springen. Irgendwann ist immer das erste Mal, oder?
Die beste Zeit dafür ist heute, der Flur und die Räume der Firma sind menschenleer. Auf geht's. Ich hole aus dem Archiv unseren tragbaren aufklappbaren Overheadprojektor. Für das Ereignis wähle ich das ehemalige Zimmer von Herrn Kuhlmann aus, dann kann ich hinter mir die Tür schließen. Nur zur Sicherheit, falls doch jemand kommt, denn ich will in Ruhe üben.
Das Aufbauen des Projektors geht leicht, und schnell habe ich die richtige Position für das OHP-Licht gefunden. Sehr gut! Mein erster Vortrag vor Publikum! Was bin ich aufgeregt!
Ich stelle mir Herrn Kuhlmann vor, wie er in seinem Bürostuhl sitzt. So wie ich ihn damals vor 11 Jahren kennengelernt habe, als er die Firma ins Leben gerufen hat. Er ist groß, hat einen gut versorgten Bauch, ein Arm ist in die Hüften gestemmt, während er sich mit überschlagenen Beinen lachend zurücklehnt. Dabei sieht man seine Gummistiefel. Ich sah Herrn Kuhlmann immer mit dunkelgrünen hohen Stiefeln vor mir, wie ein Bauer sie trägt, der bereit ist, auf einen Mähdrescher aufzuspringen und sofort loszufahren. Tatkräftig und energisch. Nicht, dass Herr Kuhlmann jemals in Gummistiefeln im Büro erschienen wäre! Aber es hätte zu ihm gepasst.
Ich sehe einen weiteren Herrn Kuhlmann. Dieser lehnt sich nach vorn, stützt die Unterarme auf den Tisch und hält mit beiden Händen einen Kugelschreiber fest. Seine Hände zittern dabei fast unmerklich über einem leeren Schreibblock. Wie damals vor einem Jahr, als herauskam, dass falsch gewirtschaftet wurde und plötzlich Lücken im Portemonnaie klafften, wo eigentlich keine sein sollten. Ratlos blickt er auf seine Unterlage und scheint nach Erklärungen zu suchen, aber der Block ist nach wie vor leer. Er merkt wohl, dass ich warte und hebt nun den Kopf. Aufmerksam und erwartungsvoll blickt er mich an. Sogar ein aufmunterndes Lächeln fliegt über sein Gesicht.
Noch ein dritter Herr Kuhlmann ist anwesend, er beugt sich ebenfalls über seinen Schreibtisch und sieht sehr ernst aus. 20 kg hat er innerhalb kürzester Zeit abgenommen. Angeblich fühle er sich jetzt besser, sagte er, kein überflüssiger Ballast hinge an ihm. Um seinen linken Mundwinkel hat sich eine tiefe Falte eingegraben, seine Stirn zieren mittlerweile drei gewellte Linien. Vor zwei Monaten übernahm er die volle Verantwortung für die entstandene Misere, nannte jedoch keine weiteren Beteiligten. Warum auch immer.
Er lächelt nicht, schaut aber trotz krausgezogener Stirn freundlich. Oder es kommt mir nur so vor, weil ich es selten anders kannte. Ein Stift wackelt in seiner Hand hin und her. Ich finde, er sollte das Schreibgerät endlich ruhig halten, das macht einen ganz nervös.
Da sitzt sie also, meine Prüfungskommission. Ich konzentriere mich auf den ersten, den ruhigen, aber lachenden Herrn Kuhlmann und fange mit meinem Vortrag an.
Es liegt nicht an den Herren Kuhlmann, dass ich fünfmal von vorn beginne. Ich bekomme einfach keine flüssigen Sätze zustande. Liegt das an meinem Vortrag? Habe ich was vergessen oder nicht berücksichtigt? Er liest sich jedenfalls sehr locker und fließend.
Nervös schaue ich von meinem Skript auf. Die drei Prüfer warten auf einleuchtende Erklärungen. Schlüssige Zusammenhänge. Nachvollziehbare Argumente. Sie wollen wissen, warum ich es genau so vortrage und nicht anders.
Das ist schwieriger als gedacht. Vor Publikum fühlt sich auf einmal alles ganz anders an. Irgendwie entrückter, was vorher so greifbar und logisch erschien.
Schließlich will ich als künftige Ausbilderin meine Schützlinge auf ihre neuen Aufgaben vorbereiten, ihnen beibringen, wie man den Job richtig anpackt. Ich sollte auf Fragen vorbereitet sein, die plötzlich auftauchen könnten, meinen Bereich und das dazugehörige Zahlenwerk umfassend kennen, damit keine Widersprüche auftreten. Ansonsten könnte es peinlich werden - und ich durchfallen.
Meine Stimme überschlägt sich vor Aufregung. Also gemach, gemach. Einatmen. Ausatmen. Einatm..., schlechter Zeitpunkt, um loszusprechen. Nochmal. Sprechen nach dem Ausatmen. Endlich, ich breche den Damm - und rede einfach bis zum Ende. Es sind jedoch 17 Minuten. Zu lang! Die Prüfungsordnung erlaubt maximal eine Viertelstunde. Ich überlege, wo ich kürzen kann. Drei Sätze streiche ich. Stimmt der Sinn noch? Doch. Schade, ich hätte so gerne mehr gesagt. Also, alles auf Anfang, ich trage noch einmal vor. Passt es jetzt in den Zeitrahmen? Nach einigen weiteren Versuchen schaffe ich es in den gewünschten 15 Minuten. Ich bin zufrieden für heute.
Die Herren Kuhlmann sind allerdings schon vorzeitig gegangen. Waren sie meine vielen Versuche überdrüssig, war ich nicht glaubhaft genug und konnte sie nicht überzeugen? Immerhin habe ich ein abschließendes Schulterklopfen bekommen: Sie kriegen das schon hin! Wir können Ihnen hier nicht mehr weiter helfen, viel Glück auf all Ihren Wegen. - Danke, die Herren und ebenfalls alles Gute.
Ich packe den Overheadprojektor ein, besser gesagt, ich versuche es. Er ließ sich so mühelos aufklappen, also sollte das umgekehrt genauso funktionieren. Ich schaue mir die Schrauben genauer an. An irgendwelchen habe ich doch vorhin gedreht! Fassungslos stelle ich fest, dass sich gar nichts mehr bewegt.
"Kannst Du mir bitte ein bisschen behilflich sein!", schnauze ich den Projektor an. Gleich darauf schieße ich in den Flur vor, um zu sehen, ob das jemand gehört hat. Nein, es ist genauso still wie die Stunden zuvor. Es riecht nur ein wenig nach meiner Suppe.
Zurück in Herrn Kuhlmanns Zimmer reiße ich mich zusammen. Ganz vorsichtig drehe ich an einer roten Schraube, die so aussieht, als ob sie dafür vorgesehen wäre. Endlich bewegt sich das Kopfteil, allerdings so schnell, dass es mit einem geräuschvollen Klack auf die Glasplatte knallt. Autsch! Ich taste das Glas ab, ob nichts angebrochen ist. Alles ok. Ich atme auf.
So, und nun wie weiter? Das Gerät macht jetzt eine Verbeugung vor mir. Das ist ja schon ein Fortschritt. Wenn ich es unter die Haube bekommen will, muss es sich noch ein wenig mehr falten lassen. Wie überwindet man diese Tücken? Ich probiere es mit gutem Zureden - diesmal leise: "Können wir nicht gemeinsam nach einer Lösung suchen? Es ist auch in Deinem Interesse, wenn Du wieder gut verpackt im Regal stehst!"
Tatsächlich finde ich die wichtigen Schrauben, um das zusammenklappbare Oberteil unversehrt auf die Platte aufzulegen. Am Schluss stülpe ich die Haube über und lasse die Verschlüsse einrasten. Es ist inzwischen 15.32 Uhr.
Stolz schleppe ich den Projektor ins Archiv zurück. Mein Vortrag wird der Hammer werden! Die Herren Kuhlmann könnten noch was von mir lernen.