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Power - Der Professor
75 cm Abstand sind nicht viel, in einer Welt, wo jeder Mensch theoretisch 230 m² für sich alleine hat. Trotzdem gab es um ihn herum ziemlich genau 390 Personen die sich diese Selbstverständlichkeit nicht gönnten. Der ICE T-2 war voll. Um genau zu sein überfüllt, denn die Stehplätze im Waggon 22 waren ebenfalls ohne Ausnahme doppelt belegt. Am Anfang hatte er sich geärgert, dass er fast den kompletten Zug ablaufen musste, um zu seinem Waggon zu gelangen. Durch mehrere Wendungen in Sackbahnhöfen gehörte er nun zu den letzten Wägen, die treu ihrem Leittier durch die Dämmerung folgten.
Es gab einen unsichtbaren Ring um jeden Menschen der westlichen Hemisphäre der ziemlich genau 75 cm groß war. Drang eine Person in diesen Kreis ein, so konnte das die unterschiedlichsten Folgen haben. Nun war er kein Psychologe und so bezeichnete er das dadurch folgende Phänomen simpel und einfach als Stress. Das drückte seiner Meinung nach am besten aus, was er zu fühlen glaubte. Die Atmosphäre war spannungsgeladen, ein unheilvolles Knistern erfüllte den Raum und verpestete die Luft. Den Luxus erster Klasse zu fahren konnte er sich nicht gönnen, dafür nahmen andere Dinge einen zu großen Platz in seinem Universum der Geldausgaben ein.
Eine Gruppe stand dicht gedrängt in dem Abschnitt zwischen den Waggons. Er zählte sieben, nein acht Leute. Das war Rekord! Normalerweise passten dort nur unter Zwang vier Leute hin, doch heute war scheinbar alles etwas anders als sonst. Anomalie.
Er blickte zurück auf sein Blatt Papier, was schon seit mehreren Stunden sein Begleiter war. Die Welt wurde kleiner und kleiner, während er sich auf die vier Zeilen Text konzentrierte, die sein Leben verändern könnten. Text! Unpassenderweise hätte man das Formelgekrakel nicht bezeichnen können.
In seinem Kopf begannen tausende kleine Zahnräder die Information umzusetzen und zu dem Sammelsurium hinzuzufügen, was er, Dr. Milanov in mühsamer Kleinarbeit in den letzten Wochen zusammengetragen hatte. Während er die Formel aufmerksam studierte, stahlen sich andere Gedanken in seinen Kopf.
Kerze.
Konzentration!
Flamme.
Es ging nicht. Er hob den Kopf und sah sich um, warf einen kurzen Blick auf die Uhr. 22:51, noch vier Minuten. Er spürte, dass es noch vier Minuten waren, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, wie es funktionieren würde. So erging es bei ihm häufig. Jan Milanov war, was andere Leute Genie nannten. Manch neidvoller Blick hatte ihn auf seiner Laufbahn begleitet, doch meistens scherte er sich nicht darum. Solange es fremde Blicke waren, konnten sie ihm nichts. Sein genialer Geist arbeitete relativ autark und meistens ohne sein bewusstes Zutun. So lange wie heute hatte er bisher jedoch nur selten gebraucht. Vielleicht war diese Fülle, die fehlenden 75 Zentimeter und die angespannte Atmosphäre schuld daran. Entspannung. Ruhig.
Die Formel enthielt den Schlüssel für eine hochgradige Steigerung der Effektivität von Solarzellen. Während er dieses Fazit formulierte, wurde ihm wieder bewusst, wie banal einfach alles war. Nur der Schlüssel hätte schwieriger zu finden nicht sein können. Czochralski hatte 1916 durch ein Missgeschick herausgefunden, wie Einkristalle zu züchten wären. Seitdem stellte man mit Begeisterung aus Silizium Einkristalle her, um in einem weiteren Schritt monokristalline Solarzellen zu produzieren. Solarsilizium wurde im Siemens-Verfahren gewonnen. Durch einen Zusatz von Antimon Teilchen an bestimmten Stellen im Atomgitter des Solarsiliziums sollten nun dieser gesteigerte Wirkungsgrad hervorgerufen werden. Ähnlich wie Licht, was eine Lupe fällt, sollte die korrekte Anordnung der Partikel einfallende Sonnenstrahlen bündeln.
Das Problem war nicht das Zusetzen von Antimon, was bereits ein bewährtes Mittel bei der Herstellung von Halbleitersilizium war, sondern vielmehr die Ausrichtung des Atoms und die exakte Position im Gitter. Die galt es zu berechnen und hing von vielen Umgebungsfaktoren ab.
Die Relevanten waren auf dem Wisch vor ihm eingezeichnet. 21 Stück an der Zahl. Einsteins Relativitätstheorie. Newtonsches Wirkungsquantum. Wenn er wollte, konnte er so ziemlich jede Formel aus diesem Ungetüm extrahieren, die er wollte. Eine Weltformel war es nun wirklich nicht, berührte aber alle möglichen Teilbereiche der Physik. Vielleicht könnte er mal einen seiner Studenten ranlassen. Studenten sollten ihn nicht umsonst mit dem Ruf eines Sadisten belegen. Aber das hatte noch Zeit. Noch 178 Sekunden.
Er kannte diese Art von Entdeckungen. Er wusste mit einem untrüglichen Instinkt, wann er ein Problem gelöst haben würde, hatte er erst einmal eine gewisse Schwelle überschritten. Nie wusste er, ob er diese Schwelle je erreichen würde - bis dahin schwamm er in einem Meer von Unsicherheit. In diesen Momenten zog er sich zurück und ließ keine Menschenseele an sich heran. Seine Unsicherheit bezog sich dann meistens nicht nur auf die vor ihm liegende Aufgabe, sondern auf alles. Jedes Atmen, außer sein eigenes, stachelte die Unsicherheit an. Jedes Wort war Kritik. Druck. Schmerz.
Zum Glück hatte er dieses Stadium bereits hinter sich gelassen und war auf die Zielgerade gelangt. Schweiß perlte auf seiner Stirn, als sein Gehirn nun seit Ewigkeiten, wie es ihm schien, auf Hochtouren lief. Selbst ein trainierter Muskel gibt irgendwann seinen Geist auf. Er wischte diesen belästigenden Gedanken mit einem ärgerlichen Schnauben fort, was ihm ein Stirnrunzeln seiner Mitreisenden einbrachte. Seine Gedanken waren aber schon wieder fort, schwebten von Atom zu Atom.
Eines Begriff er schlagartig: die Anordnung der Atome im Gitter musste so sein, dass die senkrechte Achse des Monokristalls mit der des Atoms korrelierte. Die Formel für diesen Teil war gelöst, blieben noch drei Zeilen übrig - und 42 Sekunden.
Von einer Sekunde auf die andere fielen die Lichter aus und es wurde stockdunkel im Abteil. Mist! Nicht, dass er die Formel tatsächlich noch gebraucht hätte, er hatte sie längst im Kopf, aber es würde schwer werden, die Lösung zu vermerken, solange es noch dunkel war.
DIE LÖSUNG! Es fiel ihm siedendheiß ein, dass er zum schreiben auch einen Stift benötigen würde. Und er hatte keinen dabei! Das wusste er mit untrüglicher Sicherheit. Als er heute morgen in den Zug stieg, wurde er von der Schaffnerin angesprochen.
"Entschuldigung, Ihren Fahrschein bitte."
Jan grub in seinen Taschen nach der Fahrkarte, konnte sie jedoch nicht auf Anhieb finden. Bei der Suche bemerkte er, dass er seinen blauen Kugelschreiber auf dem Schreibtisch im Büro hatte liegen lassen. Nun, er würde auch noch nach dem Wochenende dort auf ihn warten. Währenddessen hatte die junge Schaffnerin die anderen Personen in seiner näheren Umgebung kontrolliert und kehrte erwartungsvoll zu ihm zurück. Jan bewunderte seine Kreativität im Verstecken von Dingen in seinen Taschen. Zerknirscht verdrehte er die Augen und dabei fiel sein Blick auf seine Ledertasche. Klar, dort hatte er heute morgen sein Ticket hastig hineingestopft. Er zog das zerknitterte Ticket hervor und reichte es verschämt an die Schaffnerin weiter. Diese musste vor dem Lesen den Fahrschein entknittern und konnte auch dann nicht wirklich etwas erkennen. Vorwurfsvoll schaute sie Jan an, knipste aber ohne weiteren Kommentar das Ticket ab und setzte ihre Erkundungsrunde durch den Zug fort.
Das Licht ging flackernd wieder an. Wie auch immer, diese Überlegung und daraus resultierende Feststellung, dass er keinen Stift hatte, brachte ihn kurz aus der Fassung. Eigentlich immer konnte er sich Ergebnisse merken, das Aufschreiben war für ihn nicht viel mehr als eine sinnlose Fingerübung. Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht so leicht los und es verstrichen weitere Sekunden in denen er nichts tat als dazusitzen und Gedanken an seinen Kuli zu verschwenden.
Es machte fast hörbar Klick, als eines der verbleibenden Puzzleteile in eine freie Lücke der bevorstehenden Lösung rutschte. Er war sozusagen nur noch einen Geistesblitz von seiner Entdeckung entfernt. Die Zugbeleuchtung erlosch erneut und in diesem Augenblick fuhr der Zug in einen Tunnel. Was vorhin noch dämmrig war, wurde jetzt stockduster. Er konnte nichts mehr sehen, nicht einmal mehr den weißen Fleck vor ihm, der einmal ein Blatt gewesen war. Er spürte, wie sich das letzte Teilchen in seinem Hirn anschickte auf seinen Platz zu rücken und bekam rote Flecken auf den Wangen vor Aufregung. Sein Gehirn schrie auf wie ein Karate Krieger im Sprung und schlagartig lag ihm die Formel zur Berechnung der Lage der Atome auf der Zunge. Sie war länger als er gehofft hatte. Vielleicht mehr als er sich behalten konnte. Er kaute sie von hinten nach vorne und von vorne nach hinten durch, merkte sich Kürzel, fasste sie zusammen, wälzte sie in seinem Kopf von links nach rechts, bis er sie durch und durch zu kennen glaubte.
In diesem Augenblick eilte der ICE bei 264 km/h aus dem Tunnel heraus in die dunkler werdende Winterdämmerung hinein. Das einzige, was hell leuchtete, war das rasende Geschoss einer Panzerhaubitze, welches sich mit der brutalen Gewalt eines vom Himmel fallenden Kometen in die Trasse 250 Meter vor dem herannahenden ICE bohrte. Die Explosion riss mehrere Meter Schienen und Betonbohlen in die Luft, eine Grube von etwas über 2 Metern Tiefe und Breite wurde in einem Bruchteil einer Sekunde ausgehoben. 3 Sekunden nach der genialen Erkenntnis von Dr. Jan Milanov entgleiste der vordere Teil des ICE T-2. Im nächsten Augenblick schien die Welt unterzugehen.
22:55:04 Uhr. Der Bahnführer hatte gerade noch Zeit die Augen aufzureißen. Sein Atem stockte, seine Muskeln kontrahierten sich in wenigen Bruchteilen von Sekunden. Der ganze Körper bereitete sich auf die bevorstehende Katastrophe vor. Was dann geschah, spottet jeder Beschreibung. Der ICE Triebkopf passierte die Lücke nahezu unbeschadet, senkte sich leicht vorne ab. Die an der Spitze des Triebwagens befindlichen Räder kollidierten vier Zentimeter unterhalb des Schienenanfangs auf der anderen Seite der Grube die Bruchstelle der Gleise. Beide Räder rissen einfach ab. Die Schnauze senkte sich funken sprühend auf die Betonschwellen, schob diese vor sich her. Wie ein archaisches Monster fetzte er eine Schneise in die Trasse. Zu diesem Zeitpunkt schleuderte es den Bahnführer aufgrund der abbremsenden Wirkung mit fürchterlicher Gewalt gegen sein Steuerpult. Zahlreiche Schalter und Hebel rissen seine Brust auf, während sein Schädelbasisknochen brach, als dieser das Pult heftig touchierte. Bewusstlos und blutüberströmt blieb er über dem Pult hängen.
Der Rest des Zuges schob mit aller Gewalt nach, die Verbindung zwischen ersten und zweiten Waggon hob sich in der Mitte an. Machte aus dem Vorwärtsfräsen des Triebzuges ein Tauchen in tiefere Sedimente, wo er auf festen Widerstand stieß. Die Verbindung riss, als der Triebwagen sich nahezu senkrecht aufstellte und wurde von dem zweiten Waggon unter sich zermalmt, der seitlich vom Triebwagen abrutschte und die vier Meter in den Graben im freien Fall zurücklegte.
Das Chaos im personenbesetzten Waggon war unbeschreiblich. Die Fenster barsten, während sich das Metall ausbeulte. Der Sturz in den Graben knickte den Waggon wie einen Strohhalm in der Mitte, Sitze, Glasscherben und Körper flogen wild durch die Gegend, trafen andere Körper und rissen diese mit sich. Die Menschen auf den Stehplätzen wurden in die Höhe katapultiert, brachen mit brutaler Gewalt in die Decke des ICE ein, Köpfe wurden zermalmt, Hälse gebrochen. Dieser apokalyptische Vorgang wiederholte sich in nahezu allen Waggons, die sich quer stellten, überschlugen, sich gegenseitig zerdrückten oder durch ihr Eigengewicht zusammenfalteten wie ein Tetra Pak.
Jan Milanov bekam von all dem nicht viel mit. Als sein Waggon 2 Sekunden nach dem Entgleisen des Triebfahrzeuges ebenfalls in das Chaos verwickelt wurde, schleuderte es ihn mit dem Kiefer zuerst gegen seinen Vordersitz. Der Aufprall war so heftig, dass es den Sitz vor ihm aus der Verankerung riss. Ihm wurde schwarz vor Augen, sein Kiefer war zerschmettert. Schmerz empfand er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Waggon mit der Nummer 22 rutschte mit immer noch nahezu 160 Stundenkilometern auf den Krater zu, den das Geschoss verursacht hatte. Dabei kollidierte er mit einem quer stehenden Zugteil eines anderen Waggons und zerteilte ihn mit einem wütenden Hieb in der Mitte und büßte dabei rund ein Drittel seiner Länge ein, legte sich auf die Seite und rutschte so weiter auf den Graben zu. Kurz bevor er den Krater erreichte, wurde er seitlich getroffen und geriet ins Rotieren. Der vordere Waggonteil wurde aufgeschlitzt wie eine Konservendose, während sich der Waggon blitzartig um 180 Grad drehte. Das geknautschte vordere Drittel des Zugteiles rammte mit erbarmungsloser Wucht die Kante der Grube, der Waggon wickelte sich um die Trasse, klappte dabei auseinander, als wäre in der Mitte ein Scharnier angebracht worden. Der Waggon rutschte noch einige Meter weiter, blieb dann liegen. Seit dem Beschuss der Artillerie waren bisher gerade neun Sekunden vergangen, eine gespenstische Ruhe breitete sich über dem Areal aus.