Poststelle Avers Juf
Poststelle Avers Juf
Das Stempelkissen bebt. Es ist unglaublich, dass sie vor ein paar Jahren erst den kleinen feuchten Schwamm erfunden haben, mit dem man die Briefmarken problemlos an den Briefumschlägen anbringen kann. Einfach kurz anfeuchten und es klebt. Feuchtigkeit ist doch keine Erfindung der Neuzeit, oder? Dazu braucht man eigentlich nur Wasser, eben nur nicht so viel. Früher wurden die Briefmarken mit der eigenen Zunge angeleckt. Mach das mal 600 Mal am Tag! Ich habe gehört, dass Mitarbeiter einer Poststelle in den fünfziger Jahren eine Art Hornhaut auf den Zungen gehabt haben sollen, deren Belag an Mangofleisch erinnert. Nur damals kannten die meisten Menschen hier keine Mangos, deswegen bin ich mir nicht so sicher, ob die Geschichte wirklich stimmt. Jetzt gibt es also die feuchten Schwämmchen, auf die man die Briefmarken tupft. Darüber hinaus ist endlich mal jemand auf die Idee gekommen, Briefmarken als Aufkleber herzustellen. Wahnsinnssache! Der Erfinder des feuchten Schwämmchens muss sich auf Grund dieser bahnbrechenden Erfindung ganz schön geärgert haben. Schwämmchen erfunden, viel zu spät, Patent angemeldet, schon wieder out. Aber mal ehrlich: Wie lange gibt es schon Aufkleber?
Das Stempelkissen bebt weiterhin. Der dritte Kaffee ist bereits gekocht und es ist erst halb zehn. Warum, verdammt nochmal, haben sie das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden beschlossen? Soweit man bei diesem Laden hier überhaupt von einem öffentlichen Gebäude sprechen kann. Ein öffentliches Gebäude ist dazu da, von Menschen besucht zu werden. Das Gesetz sieht somit einen Nichtraucherschutz vor, der ja quasi nur gewährleistet ist, wenn sich auch Nichtraucher in diesem Gebäude aufhalten. Und wie man nur unschwer erkennen kann, sind nur Raucher in diesem Gebäude. Also ich. Und ich muss jetzt zum Rauchen immer rausgehen. Im Sommer ist das noch ganz schön, aber im Winter eine Qual. Vielleicht sollte ich das Rauchen einfach aufgeben. Nur was soll ich, verdammt nochmal, dann die ganze Zeit in diesem Scheißladen machen? Heute zum Beispiel stelle ich viele verschiedene Mandalas mit dem Poststempel her. Ich habe vor, ein kleines Buch zu veröffentlichen, in dem die Kinder Mandalas ausmalen können, während sich ihre heißen allein erziehenden Mütter um die notwendigen Postgeschäfte kümmern. Ich bin dann natürlich der sehr persönliche Berater und Sachbearbeiter, der jeden Wunsch erfüllt. Außer rauchen, das ist ja verboten. Bei Mandalas muss man beachten, dass sich das Muster an einer imaginären Vertikalachse spiegelt. Auf unseren Stempeln ist ein Posthorn zu sehen, das diese Eigenschaft des Mandalas nur schwer realisieren lässt, denn soweit ich weiß, sind Hörner dazu da, um hinein zu blasen. Das Mandalaposthorn müsste dann entweder zwei Hörner oder zwei Mundstücke haben, wodurch der Sinn des Posthorns zwangsläufig ad absurdum geführt wird. Somit verwerfe ich wieder die Mandala-Idee, obwohl ich schon mehrere Entwürfe angefertigt hatte. Aber wer will schon ein Mandala ausmalen, das streng genommen gar kein Mandala ist? Die Kinder würden enttäuscht sein und womöglich zu weinen beginnen. „Der böse Onkel hat die Spiegelfähigkeit an der imaginären Vertikalachse nicht beachtet!“ würden die Kinder schimpfen. Von ihren scharfen allein erziehenden Müttern würde ich dann vermutlich Ohrfeigen bekommen, die mit den Worten „Sie Schuft!“ eindrucksvoll unterlegt würden. Sie Schuft. Aus Freude über dieses mittelalterliche Wort lecke ich nostalgisch eine Briefmarke an. Lecker. Die haben schon einen speziellen Geschmack, der eindeutig Suchtpotential transportiert. Vielleicht sollte man Drogen für Postbeamte herstellen. An opiumhaltigen Briefmarken lecken. Der Absatz an Mangozungensalbe würde sich in der Drogenszene blitzschnell erhöhen und die würde ich dann erfinden und auf den Markt bringen. Ironischerweise hätte die Salbe natürlich Mangogeschmack. Weil es lustig ist. Aber ich werde die Salbe dann nicht mit echten Mangos herstellen, sondern mit Aromen und Geschmacksverstärkern, denn auch sie sollte natürlich süchtig machen. Man will ja verkaufen.
Vielleicht werde ich heute, weil ich die Mandala-Idee ja verworfen habe, an meinem Rekord von gestern arbeiten. Ich stelle mir vor, dass ich in der Poststelle Tokyo arbeite. Ja, DIE Poststelle. Es gibt also nur eine in ganz Tokyo und ich muss so schnell wie möglich so viele Briefe wie möglich frankieren. Wenn ich die Anzahl der Briefe pro Stunde aufschreibe, den Müdigkeitsfaktor einbeziehe (-2%), kann ich die Anzahl der Briefe pro Tag leicht hochrechnen. Dann pro Woche, pro Monat, pro Jahr usw. Wenn man ein geübter Frankierer ist, schafft man das natürlich immer schneller und gestern habe ich ausprobiert, wie schnell ich es schaffe. Heute starte ich einen weiteren Versuch, aber diesmal mit anlecken! Je nachdem, welche Schmerzen ich nachher empfinde, könnte ich einen ersten Entwurf der Bestandteile der Mangozungensalbe zusammenstellen, bevor ich Drogensüchtige kennenlerne, die jemanden kennen, der Drogen herstellt, dem ich dann meine Briefmarken-Idee verkaufen kann. Allerdings wäre ich in dieser Reihenfolge sicherlich der erste und zugleich beste Kunde des Dealers. Wenn man das Gehalt des Dealers auf den Marktpreis der Briefmarkendroge rechnet und man bedenkt, für wie viel Geld ich die Drogen-Idee verkaufen könnte, wäre entweder der Preis für die Idee zu hoch, so dass ich sie nicht loswerden würde, oder ich wäre aufgrund meines Konsums in kürzester Zeit hoch verschuldet. Es sei denn, ich würde ein Patent anmelden. Das wäre dann save. Aber kann man Drogen patentieren lassen? Die Pharmaindustrie zu bestechen wäre wohl auch zu teuer. Also verwerfe ich auch diese Idee wieder.
Nachdem bis zur Mittagspause weder Kunde noch Brief eingetrudelt sind, beschließe ich die Pause zu nutzen, um einen Wecker zu kaufen. So einen alten Wecker, dessen Uhrwerk die Bewegungen des Zeigers mit einem wohligen und gleichzeitig bedrohlichen „Tick-Tack“ unterlegt. Der Gedanke an die fast ausgestorbene Spezies verleitet mich spontan dazu, eine weitere Briefmarke anzulecken. Aber nur eine, sonst begebe ich mich in den Schuldensumpf und ich verdiene so schon echt wenig. Danach gehe ich in die Pause und besorge mir den Wecker im nächsten Ort, der einen Laden hat, der im Idealfall einen Wecker hat, der wiederum dann auch tickt. Natürlich hat das Ziffernblatt ein Dinosaurier-Motiv. Weil es lustig ist. Jetzt denkt ihr alle, dass ich den Wecker brauche, um bei der Arbeit nicht einzuschlafen. Falsch gedacht! Obwohl ihr es aus gutem Grund vermutet habt. Nein, ich habe mir angewöhnt, mir jeden Nachmittag einen Brief oder ein Paket selbst zuzuschicken. Zum einen weil es mich daran erinnert, wie es ist, einen Job auszuüben, zum anderen um mir selbst eine Freude zu machen. Ich mag es, Post zu bekommen. Manchmal schreibe ich mir ein paar nette Zeilen, um mein Ego aufzubauen. Ich habe mir auch schon mal ein Bild gemalt und meinen Namen in Kinderschrift darunter gesetzt. Als Datum habe ich den 28.07.1986 gewählt, um mir den Glauben an Zeitreisen zu erhalten. Letzte Woche habe ich mir jeden Tag die Zutaten meines Abendessens für den nächsten Tag zugeschickt. So musste ich die Einkäufe nicht so weit tragen. Habe ich schon mal erwähnt, dass der Briefträger mich nicht leiden kann? Heute habe ich mir die ultimative Selbstbestätigung ausgedacht, die mir die Illusion von Bedeutsamkeit für immer schenken wird. Ich packe den Wecker in ein Paket und schicke es an meine Adresse. Der Absender bleibt natürlich anonym. Wenn ich dann morgen nach Hause komme, stelle ich mir vor, dass das Ticken in meinem Paket der unverkennbare Hinweis auf eine Briefbombe ist. Jemand möchte mich umbringen. Alle Menschen, die bisher gezielt durch ein Attentat umgebracht wurden, waren von Bedeutung. Von sehr großer Bedeutung sogar. Und mein Name auf dem Paket beweist eindeutig, dass es sich um ein gezielt an mich gerichtetes Attentat handelt. Nicht sowas wie die Bombe am Bahnhof oder am Flughafen. Nein, eine Bombe geliefert in meine Wohnung! In der Zeitung würde stehen, dass ich bei einem Attentat ums Leben gekommen bin. Alle Leute würden rätseln, warum gerade auf mich ein Attentat ausgeübt wurde. „Was hat der denn schon großartig getan?“ werden sie fragen. Oder: „Womit hat er das verdient?“. Sie werden überlegen und überlegen und irgendeine Bedeutung müssen sie mir zwangsläufig zuschreiben, um ihr beschissenes Weltbild bzw. ihr Verständnis des Begriffs „Attentat“ nicht in Frage stellen zu müssen: „Der muss irgendetwas Bewegendes gemacht haben, um solch ein Schicksal zu erleiden. Und wenn nicht, steht sein Name ab heute sinnbildlich für all die bei Attentaten unschuldig ums Leben gekommenen Opfer“. Der Name steht für all die Namenlosen, an die sich niemand mehr erinnert. Die, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Die, die Bestandteil einer Zahl waren. Die, die Nichts waren. So wird man zur Legende.
Am nächsten Tag wartet zu Hause ein Paket auf mich, das bedrohlich tickt. Wenn ich eine Briefmarke hätte, würde ich sie sofort anlecken. Ich habe aber keine, also stelle ich mir vor, wie ich eine anlecke. Ich weiß wie man Bomben baut. Rohrbomben, Molotov Cocktail, Heizöl, Benzin, West-Berlin. Als Jugendlicher wurde ich Mac Gyver genannt, weil ich aus den erstaunlichsten, für Jedermann zugänglichen Bestandteilen explosives Material herstellen konnte. Bumm. Ich halte das Paket in den Händen. Ich mache es vorsichtig auf. Tick-Tack. Tick-Tack. Es ist ein Wecker, oder?