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Postkarte: Australien

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03.01.2003
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Postkarte: Australien

Postkarte: Australien

Es waren noch drei Whisky-Flaschen im Kühlschrank, allesamt nur billige Marken. Er griff sich irgendeine Flasche heraus, schenkte sich ein Glas zur Hälfte ein. Etwas zögerlich. Betrachtete die goldgelbe, schimmernde Verlockung innerhalb der gläsernen Begrenzung. Bis zwei Uhr hatte er heute gewartet, aber jetzt hielt er es nicht mehr aus, einfach nicht mehr aus. Die Kleine hatte den ganzen Morgen über geschrien, er hatte Windeln gewechselt und danach Scheiße an den Fingern gehabt. Er hatte versucht, die Kleine zu beruhigen, aber sie hatte nur immer weiter geweint, immer weiter gekreischt. Irgendwann ein wenig später hatte er, noch immer mit klebriger Scheiße an den Fingern, Peters Postkarte vom Fußboden unterhalb des Briefschlitzes aufgehoben und gelesen und irgendwo abgelegt. Die Kleine hatte wieder zu brüllen begonnen und er hatte sie schließlich geschüttelt, bis sie still geworden war, endlich still.

Er setzte sich vor den Fernseher, schaltete ihn ein, regelte die Lautstärke fast bis ganz nach unten, um die Kleine nicht zu wecken, und stellte danach die Flasche auf den Wohnzimmertisch. Das erste Glas war immer das schlimmste. So wie auch heute. Der Whisky schmeckte ein wenig faulig, aber er leerte das Glas in einem Zug, dann schenkte er sich ein nächstes ein.

Er nahm Peters Postkarte vom Tisch. Auf der Vorderseite abgebildet war ein Sonnenaufgang über der Wüste, mit glühendem rotem Sand und golden durchstochenen Wolken – auf der Rückseite stand ein Text in krakeliger, flüchtiger Schrift: Grüße an dich und Julia aus Australien, erst in New South Wales gewesen, im Regenwald, auch einmal Wellenreiten am Strand, dann mit dem Motorrad in die Outbacks gefahren, am Ayers Rock gestanden, so nah wie eben nur möglich, aber Verbote selbst hier, den Himmel über roter Wüste gesehen, wie gemalt, wie im Paradies, wie im Traum, Dein Freund Peter.

Das zweite Glas Whisky schmeckte schon besser. Er blickte aus dem Fenster. Draußen schneite es jetzt wieder, nachdem es für einige Stunden schon nach Besserung ausgesehen hatte. Der Schnee war ein einziger, gräulicher Schleier vor den Häuserfassaden. Eine passende Kulisse, fand er.

Den Whisky trank er pur, ein Glas nach dem anderen, drei, vier, fünf, bis die Flasche fast leer war – dabei starrte er die Wand voller Postkarten an. Alles Karten von Peter. Aus Italien, Ägypten, Indien. Und jetzt: Australien.

Einmal schrie die Kleine wieder. Er stand auf, fütterte sie mit Milch, die er zuvor noch irgendwie zu erwärmen geschafft hatte; er hatte alle Mühe, noch das Fläschchen zu halten, so besoffen war er schon. Dann saß er wieder auf der Couch. Im Fernsehen lief nichts Gescheites. Er gab den Rest aus der Whiskyflasche in sein Glas, schwenkte es, stellte es ab. Wartete, sah fern, kämpfte gegen die Versuchung des Whiskys, wusste zugleich auch, es brachte nichts. Es würde alles nichts nützen, kein Kampf, keine Konfrontation.

Er griff nach der Postkarte und klebte sie mit Tesafilm zu den übrigen an die Wand. Dann sah er auf die Uhr, ging zum Fernster. Auf der Straße kämpften sich Menschen durch den Schnee. Die Straßenbahn hielt. Es war Julias Linie, Nummer Sieben, pünktlich, gnadenlos präzis, wie an jedem Tag, natürlich auch im Dezember, natürlich auch bei Schnee. Julia stieg aus der Bahn; sie kam von der Arbeit, aus der Klinik. Er konnte ihr gerötetes Gesicht zwar nur undeutlich erkennen, das sich gegen ihre weiße Kleidung abhob, aber dennoch ihren Missmut darauf ablesen. So wusste er, was kommen würde: Julia würde ihm Vorwürfe machen, immerfort nur Vorwürfe, ihn demütigen, wie an jedem Tag. Für sie war er nur Einer, der es nicht geschafft hatte, der es auch nie schaffen würde, arbeitslos, ein Säufer, mehr nicht, nicht mehr.

Er holte die nächste Whisky-Flasche, stellte die leere zu anderen in irgendeine Ecke. Eine Flasche für den Nachmittag: es war schon schlimmer, aber auch schon besser gewesen. Er schenkte sich und Julia ein, setzte sich auf die Couch, schloss die Augen und spürte fast im selben Moment noch eine seltsame Leichtigkeit ihn ergreifen.

Zuerst hörte er nur Julias Stimme, laut, wütend, dann auch das Brüllen der Kleinen, das Flüstern des Fernsehers, er verstand zuerst überhaupt nichts, er musste eingenickt sein.
Du ... Penner, schrie Julia, fast schon atemlos. Mehr sagte sie nicht, sie war schon fort und bei der Kleinen, als er nach ihr sehen, als er es richten wollte. Einen Moment später hörte er kein Kreischen mehr, er schaltete den Fernseher aus, lauschte in die Stille, horchte nach Geräuschen.

Er holte für Julia ein volles Glas Whisky herbei. Für dich, sagte er, als sie wieder in das Wohnzimmer kam und hielt ihr den Becher entgegen.

Du gottverdammter Säufer, sagte sie nur leise. Dann setzte sie sich, nahm ihm das Glas aus der Hand. Warum kümmerst du dich, verdammt noch mal, nicht um die Kleine, fragte sie, warum, fragte sie, warum –

Er konnte ihr nicht antworten, wusste auf Nichts eine Antwort.

Zum Teufel, sie schreit, ... aber du merkst nichts ... du bist nur besoffen, immerzu, sagte Julia, du –

Sie wurde fortwährend leiser, brach schließlich mitten in irgendeinem Satz einfach ab.

Er konnte nichts sagen, immer noch nicht.

Sie trank ihren Whisky hastig, ging zum Kühlschrank, schenkte sich dort wieder ein. Julia setzte sich danach ihm gegenüber in einen Sessel, starrte ihn an. Glasiger Blick. Blau-graue Augen. Braune, schulterlange Haare. Nach einer Weile fragte sie leise, ob er heute auf dem Amt gewesen sei.

Nein, sagte er.

Warum, fragte sie scharf.

Er sagte, er habe wegen der Kleinen nicht gehen können, es sei einfach nicht möglich gewesen.

Sie flüsterte irgendetwas vor sich hin – er konnte sie nicht verstehen. Aber er wusste, was sie dachte, wie sie über ihn dachte, und was sie eigentlich sagen, wie laut und unbeherrscht sie tatsächlich sein wollte.

Julia und er redeten nicht weiter miteinander, sondern tranken nur. Er liebte dieses Schwindelgefühl, das ihn nach einigen Gläsern stets, mit absoluter Sicherheit überkam: es fühlte sich an, als verließe er unaufhaltsam seinen Körper, als schwebte er über allem.

Irgendwann stand Julia auf, ging in das Schlafzimmer. Als sie sich wieder in den Sessel setzte, trug sie ein weißes Kleidchen, das ganz billig aussah, dessen Anblick ihn fast traurig stimmte. Dann fing sie an zu reden, ganz leise. Er wollte nicht auf das hören, was sie sagte, er schaute aus dem Fenster. Draußen wurde es jetzt schnell dunkel, man sah den Schnee und die anderen Häuser kaum noch, sondern nur mehr eine gleichförmige Dunkelheit mit wenigen Lichtern dazwischen. Er wollte Julia nicht ansehen; er starrte auf den Fernseher, die gräuliche Mattscheibe, auf die Wände. Ihm fiel auf, als er Peters Australien-Karte genau betrachtete, dass der Himmel bei Sonnenaufgang dort beinahe die Farbe von Whisky annahm, der Himmel schien gelblich zu schimmern, schien fast golden zu sein.

Julia war bei ihrem dritten Glas; sie wurde ein wenig lauter, sie erzählte von der Schicht. Von den anderen Schwestern, dem Oberarzt, von den Toten, von den Rundgängen, den Patienten. Er hörte nicht hin; er dachte an Sydney und die Oper, New South Wales, den Regenwald, das Wellenreiten, die endlosen Straßen, den Himmel über der Wüste, und fragte sich, warum Peter so viel Glück hatte, warum –

Später, nach ihrem vierten Glas, wurde Julia schließlich ruhiger.

Er vermied jeden Blick.

Julia nippte an ihrem fünften Glas.

Er lauerte darauf, dass sie ging, endlich fortging, dass sie sich hinlegte. Darauf wartete er schon seit ihrem zweiten Glas. Während der ganzen Zeit über hatte er eine tiefe und vage Unsicherheit, die ihm ganz unerklärlich war und die er auf Julias Präsenz zurückführte, gespürt.

Er sah Julia zum ersten Mal an diesem Abend richtig an, als hätte dieser Blick irgendwelche Kräfte erwecken und so seine geheimen Wünsche erfüllen können – sie erwiderte seinen Blick. Langsam stand er auf; er wusste selbst nicht genau, was ihn dazu trieb. Er setzte sich behutsam zu Julia, auf eine Armlehne des Sessels, und ergriff ihre Hand. Wieder saßen sie dann nur da. Julia roch nach Whisky. Ein scharfer Hauch. Sie schmeckte nach Whisky, als er sie küsste, sie wehrte sich nicht.

Irgendwann stellte er die Stereo-Anlage an. Leise Klavier-Musik, verdammte Klassik, durchbrach die Stille. Er stand auf, zog Julia mit sich, sie stellte sich zu ihm, schwankend, wie er.

Wegen heute, fing er an. Danach wusste er nicht mehr weiter, während er in ihr Gesicht schaute. War überwältigt. Diese kleine Nase. Dieser kleine Mund.

Lass uns tanzen, flüsterte Julia. Er küsste sie erneut, er liebte Julias Geruch, ihren Geschmack, liebte sie in diesem Moment einfach dafür. Während sie ganz eng tanzten vor Peters Postkarten als Kulisse, vor römischen Ruinen, den Pyramiden, dem Taj Mahal, strich er durch ihr Haar. Dieses weiche Haar. Julia presste sich gegen seinen Körper und küsste ihn.

Die Musik hob ein wenig an. Sie tanzten jetzt schneller. Julia fühlte sich warm und schwer an. Einmal stürzte sie beinahe. Er hielt Julia umklammert; wollte nicht loslassen. Sein Blick schweifte dabei, wie seine Gedanken, wild und in Whisky-Laune. Er starrte einmal mehr auf die Postkarte aus Australien, auf den Whisky-Himmel über der Wüste, dachte, ganz undeutlich, ganz unverständlich, an das Unglück, und an das Glück, an diese ganz wenigen Augenblicke, wenn –

Das Musikstück erstarb irgendwann. Julia schaltete die Anlage mit der Fernbedienung aus. Er ging mit ihr ins Schlafzimmer, half ihr sorgsam beim Wechseln der Windeln, streichelte die Kleine an der Wange und küsste erst sie, dann auch Julia, und half Julia ins Bett. Ging danach wieder ins Wohnzimmer, sah fern, sah aus dem Fenster, dachte nach –

Als er später neben Julia im dunklen Schlafzimmer lag, präsentierten sich ihm mit einem Mal, als wäre dies die Erkenntnis ewigen Nachdenkens, das Tanzen und das Küssen als irgendwie verdächtig und irgendwie verrückt und falsch; er kam von diesem Gedanken dann nicht mehr los.

Er küsste Julias glatten, warmen Hals. Sie regte sich nicht, sie schlief einfach weiter. Er setzte sich im Bett auf, blickte auf die Silhouette des Kinderbetts, war ganz still. Hörte das leise Keuchen der Kleinen, hörte all die Atemgeräusche, auch jene von Julia, die monoton und laut waren – die wie immer im Schlaf, wie immer in der Nacht waren, als wäre es Absicht.

Er stand auf, unruhig und zittrig und beinahe nüchtern, ging in die Küche und dort an den Kühlschrank. Diesmal erwischte er eine Flasche Korn, aber das war ihm gleichgültig. Er tastete sich durch das Wohnzimmer, wollte kein Licht machen, setzte sich auf die Couch, führte vorsichtig die Flasche zum Mund, kam sich dabei wie ein Blinder vor, lächerlich – er nahm den ersten Schluck. Schmeckte die Bitterkeit. Trank immer weiter. Er hielt die glatte, kalte Flasche umklammert.

Nach einer Weile überkam ihn zuverlässig ein Schwindelgefühl. Wie noch immer und ganz leicht. Als ob er aus seinem Körper stiege, aus sich heraus, und weit weg schwebte. Er liebte diesen Schwindel – wollte nicht zurück.

 

Nachdem ich heute hier schon zwei ziemlich tragische Geschichte gelesen hab, dachte ich, ich leg' als Debüt auch gleich mal eine solche vor ...
Das mit den Gedankenstrichen sieht (durch die Zeilenumbrüche) nicht soo elegant aus, stört aber m.E. nicht sonderlich.
Für ehrliche Kritik bin ich dankbar.

Pollux

 

Hallo Pollux!

Herzlich willkommen! :)

ja, da bist Du gleich richtig eingestiegen.
Du beschribst meines Erachtens nach die Situation des arbeitslosen, alkabhängigen und liebvollen Vaters sehr gut. Die Resignation, nichts gegen das Verlang tun zu können, das Bemühen um die Kleine, das schechte Gewissen, die Konfrontation mit Frau... alles das kommt sehr gut bei mir an. Auch den Schluss hast Du sehr gut gewählt, der Kreis scheint sich zu schließen. Sehr gut!
Eins allerdings: Du tätest dem Lesen einen großen Gefallen, wenn Du wörtliche Rede auch kennzeichnen würdest! Auch ein paar Absätze hätte ich gut gefunden :) und eine Kleinigkeit noch:

"fütterte sie mit Milch, der er zuvor noch irgendwie zu erwärmen geschafft hatte" die er

Ansonsten gefällt mir das Bild, das Du zeichnest, sehr gut, es ist stimmig!

schöne Grüße, Anne

 

Hallo, Anne!
So, die Fehler sind korrigiert - die Absätze waren natürlich im Original ein wenig besser gesetzt. Das ist jetzt hoffentlich alles übersichtlicher. Wenn ich es jetzt noch schaffe, die Smilys einzubauen, kann mich nichts mehr aufhalten ...
Und vielen Dank für die Blumen, was die Kritik anging!
Ich hoffe, es kommen noch mehr, von anderen

Gruß
Pollux

 

:) Smilies kannst Du setzen, wenn Du beim Antworten ein extra Fenster aufmachst (neben neues Thema unten rechts die Box Antworten). dann siehst Du links neben der Antwortbox ein Feld mit Smilies...;)
schöne Grüße, Anne

 

hi pollux,
ja, du hast den einstieg hier voll gut hingekriegt: willkommen bei kg.de - das k steht für katastrophen *hehe*. tragische geschichten sind hier voll mode.
kommen wir zu deiner "katastrophe".
eine langgestreckte geschichte - fliessende dekadenz. gleichmässig tragisch bis zu dem moment, in dem eine kehrtwende in der geschichte angedeutet wird. hoffnung wird dem leser suggeriert, die dann unter einer flasche korn begraben wird.
ich habs nicht so mit lobs - besonders nicht bei tragischen geschichten - dennoch kann ich deine geschichte nur loben, denn, auch wenn sie nicht meiner vorliebe im geschichtengenree entspricht, tragische geschichten sind einfach nur ... *öhm* traurig stimmend, so ist deine trotzdem eine unheimlich gut geschriebene. dein erzählstil ist passend gewählt, manchmal mit kurzen sätzen, um abgerissenheit und hektik zu demonstrieren, dann abgelöst durch längere sätze, als einen zeitlupeneffekt, die das lamentieren so schön zur geltung bringt. obwohl die ganze geschichte einen kleinen pötischen tatsch hat, bleiben alle stellen im text auf einer verständlichen ebene.
der einzige kritische punkt, den ich anbringen möchte, was nicht einmal einer ist, der in deiner geschichte bestand haben muss, ist das wort "scheisse". es ist zwar durch den inhalt deiner geschichte durchaus legitimiert, du hattest aber im ganzen verlauf auf kraftausdrücke verzichtet, so dass "scheiße" einfach zu sehr unharmonisch klingt. es kann sein, dass viele kritiker in diesem punkt nicht mit mir einer meinung sind, denn es ist eine geschmacksfrage - na ja, und eine frage des stils.
fazit: gute geschichte mit mit einer verdammt guten und sauberen erzählstruktur.
bis dann
barde

lieblingsstelle:

gleich am anfang

Betrachtete die goldgelbe, schimmernde Verlockung innerhalb der gläsernen Begrenzung.

 

Hallo Barde,
Danke für deine Antwort (ist ja immer willkommen, v.a. wenn's Lob ist ;) )

Was die "Scheiße" im Text (wie mißverständlich ausgedrückt :D) angeht ... es stimmt schon, das dieses Wort ein wenig aus dem Rahmen fällt, obwohl am Ende auch mal kurz geflucht wird, aber leider fällt mir kein Besseres Wort ein: entweder sind Wörter für diese Natürlichkeit vulgär, kindisch oder medizinisch. Und das der Protagonist von "A-a" oder "Fäkalien" spricht, kann ich mir noch weniger vorstellen ... ;)
Ist halt ein dummes Wörtchen ...

Und "pötischer Tatsch"? - Naja, ich wohne nicht mehr ganz im Pott, allerhöchstens im Dunstkreis. Ich hoffe, die miese Stimmung in meinem Text ist nicht symptomatisch für deine Region - das wäre ja fuuuurchtbar ... :p

Gruß
Pollux

 

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