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Portrait eines Fremden
Seltsamerweise war die Uhr des Rathauses an diesem Dienstag im Mai stehengeblieben.
Es war in dem Jahr als er die Schule verlassen hatte, zum Studium in die Hauptstadt ging und so vieles zurückließ, dessen Bedeutung er erst sehr viel später erkennen sollte.
Joe schaute durch das Fenster seines Büros auf den Marktplatz, betrachtete die hektischen Verkäufer, Spaziergänger, spielende Kinder und die Schatten der vorbeiziehenden Wolken. Er stellte sich vor, nicht nur die Uhr Rathauses wäre stehengeblieben, sondern mit ihr auch die Zeit. Würde er einer der Magier aus den Büchern sein, die er als Kind las, Joe hätte die Zeit einige Male angehalten in seinem Leben. Aber wie so oft lief sie unerbittlich weiter, gab ihm keinen Raum für Überlegungen.
Es war zehn Uhr als seine Blicke über den Asphalt des Marktplatzes wanderten. Joe wusste es, trotz defekter Rathausuhr, denn aus Richtung Altstadt, hinter dem Wasserspiel des Marktbrunnens sah er die Silhouette eines Mannes näher kommen. Er sah seine langsamen Schritte, den eleganten Schwung seines Spazierstockes nach jedem Schritt, die gebückte Haltung und die Pausen nach einigen Meter um Luft zu holen. Joe beobachtete den alten Mann genau, der hier jeden Tag zur selben Uhrzeit vorbei kam, versuchte jede Veränderung an ihm zu erkennen. Seit Jahren war es das selbe Spiel. Zuerst ging der Alte zu dem Brunnen, setzte sich dort für wenige Momente hin und sah den Tauben zu, vielleicht auch den Kindern, die ihnen hinterherrannten. Danach verschwand er für einige Minuten beim Bäcker. Genau drei Brötchen würde er nehmen, wie seit Jahren Tag für Tag. Öfter ging er auch in den Obstladen an der Ecke, um sich schließlich mit einer Zigarre auf die Bank unter den Linden zu setzen, die dort schon seit Joes Kindheit gestanden hatten. Mit den Jahren hatten sie von ihrer Imposanz verloren, ihre Blätter wirkten welker, ihre Rinde rauher und fahler. Joe jedoch hatte Respekt vor diesen Linden. Mit großem Genuss rauchte der Alte dort täglich seine Zigarre mit langsamen Zügen. Joe sah den Rauch aufsteigen, verfolgte dessen Spiel in der Luft bis zu den ersten kahlen Zweigen. Dann ging sein Blick wieder zurück auf das ihm bekannte Gesicht des alten Mannes, dessen Falten in der sanften Maisonne ungewöhnlich deutlich erschienen. Noch weitere fünf Minuten sollte Joe den Alten betrachten können, bevor dieser sich wieder auf den Heimweg begeben würde.
Oft hatte Joe daran gedacht, hinunter zu gehen und ihn anzusprechen, ihm von seinem Leben zu erzählen, von seiner Frau und dem Job. Vielleicht würde er ihm dann auch sein Büro zeigen. Vielleicht wäre der alte Mann ja dann stolz auf ihn. Doch diese Schritte herunter auf den Markt würde Joe niemals gehen, dass wusste er. Jeden Tag, wenn er den Alten für eine viertel Stunde beobachtete. Seit Jahren.
An einem Tag Mitte Dezember kam er nicht mehr. Joe hatte bis elf Uhr ungeduldig gewartet, Ausschau gehalten, dann hielt er es nicht mehr aus. Seit Tagen schon erschien ihm der alte Mann schwach, kraftlos. Joe machte sich Sorgen, dachte oft auch noch Stunden später über ihn nach.
Nicht selten hatte er wieder den Wunsch gehabt, der Magier aus seinen Kinderbüchern zu sein, die Zeit stillstehen zu lassen, um Mut zu sammeln sich doch noch zu dem Alten auf die Bank zu setzen.
Mit schnellen Schritten erreichte Joe den Markt, seine Blicke suchten alle Stände, die Geschäfte ab. Nichts. Nervös lief er ein Stück in die Altstadt, doch auch da kein alter Mann mit elegant schwingendem Spazierstock. Langsamer lief Joe zu der Bank unter den kahlen Linden, deren Äste vom frisch gefallenen Schnee wie zugedeckt erschienen. Er suchte die Schritte des Alten im Schnee, seinen Zigarrenstummel, obgleich er wusste, dass er weder die einen, noch den anderen finden würde. Enttäuscht sank er auf die Bank, schaute herauf zu seinem Büro, von dem aus er Jahr seit Jahren hier herab geblickt hatte. Die Rathausuhr war wieder stehengeblieben, auf sechs Uhr vierunddreissig. Was für seltsame Dinge einem manchmal auffallen, dachte Joe.
Für eine halbe Stunde betrachtete Joe das Geschehen auf dem Markt aus jenem Blickwinkel, mit dem es der Alte über Jahre getan hatte. Er fühlte den Wind durch die alten Zweige der Linden rauschen, sah wie er als Junge einst hier durch den Schnee lief. In diesen Momenten begann Joe Abschied zu nehmen von dem Alten, den er jahrelang beobachtet hatte, um den er sich sorgte, der ihm so vertraut war, und den er dennoch seit vierundzwanzig Jahren nicht mehr gesprochen hatte.
Als Joe am späten Nachmittag dieses Tages sein Büro verließ, waren sie bereits gekommen um die Linden zu fällen. Er nahm sich einen der herabgefallenen Äste und begab sich auf den Heimweg. Zuerst allerdings ging er noch einmal in die Altstadt, schaute sich die Häuser an, auf deren Giebeln der frische Schnee lag, dachte zurück an die Zeit, als er hier Kind war, an die Magier und dann wieder an den Alten.
Stunden später, an einem Abend, wie er ihn noch nie so seltsam erlebt hatte, saß Joe an seinem Schreibtisch zu Hause und dachte nach. Lang hatte er gewusst, dass dieser Tag kommen würde, hatte sich vorgestellt wie er fühlen würde, doch nun war alles ganz anders. Eine sonderbare Ruhe überwog seine Traurigkeit. Vielleicht hatte der Alte es die ganze Zeit gewusst, dass er ihn beobachtete.
Mit einer schnellen Handbewegung zog Joe seine Schreibmaschine unter einem Stapel alter Erinnerungen hervor, säuberte die Tasten sorgfältig vom Staub, hielt für einen kurzen Moment inne und begann über den alten Mann zu schreiben.