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Portrait eines Fremden

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20.02.2002
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Portrait eines Fremden

Seltsamerweise war die Uhr des Rathauses an diesem Dienstag im Mai stehengeblieben.
Es war in dem Jahr als er die Schule verlassen hatte, zum Studium in die Hauptstadt ging und so vieles zurückließ, dessen Bedeutung er erst sehr viel später erkennen sollte.
Joe schaute durch das Fenster seines Büros auf den Marktplatz, betrachtete die hektischen Verkäufer, Spaziergänger, spielende Kinder und die Schatten der vorbeiziehenden Wolken. Er stellte sich vor, nicht nur die Uhr Rathauses wäre stehengeblieben, sondern mit ihr auch die Zeit. Würde er einer der Magier aus den Büchern sein, die er als Kind las, Joe hätte die Zeit einige Male angehalten in seinem Leben. Aber wie so oft lief sie unerbittlich weiter, gab ihm keinen Raum für Überlegungen.
Es war zehn Uhr als seine Blicke über den Asphalt des Marktplatzes wanderten. Joe wusste es, trotz defekter Rathausuhr, denn aus Richtung Altstadt, hinter dem Wasserspiel des Marktbrunnens sah er die Silhouette eines Mannes näher kommen. Er sah seine langsamen Schritte, den eleganten Schwung seines Spazierstockes nach jedem Schritt, die gebückte Haltung und die Pausen nach einigen Meter um Luft zu holen. Joe beobachtete den alten Mann genau, der hier jeden Tag zur selben Uhrzeit vorbei kam, versuchte jede Veränderung an ihm zu erkennen. Seit Jahren war es das selbe Spiel. Zuerst ging der Alte zu dem Brunnen, setzte sich dort für wenige Momente hin und sah den Tauben zu, vielleicht auch den Kindern, die ihnen hinterherrannten. Danach verschwand er für einige Minuten beim Bäcker. Genau drei Brötchen würde er nehmen, wie seit Jahren Tag für Tag. Öfter ging er auch in den Obstladen an der Ecke, um sich schließlich mit einer Zigarre auf die Bank unter den Linden zu setzen, die dort schon seit Joes Kindheit gestanden hatten. Mit den Jahren hatten sie von ihrer Imposanz verloren, ihre Blätter wirkten welker, ihre Rinde rauher und fahler. Joe jedoch hatte Respekt vor diesen Linden. Mit großem Genuss rauchte der Alte dort täglich seine Zigarre mit langsamen Zügen. Joe sah den Rauch aufsteigen, verfolgte dessen Spiel in der Luft bis zu den ersten kahlen Zweigen. Dann ging sein Blick wieder zurück auf das ihm bekannte Gesicht des alten Mannes, dessen Falten in der sanften Maisonne ungewöhnlich deutlich erschienen. Noch weitere fünf Minuten sollte Joe den Alten betrachten können, bevor dieser sich wieder auf den Heimweg begeben würde.
Oft hatte Joe daran gedacht, hinunter zu gehen und ihn anzusprechen, ihm von seinem Leben zu erzählen, von seiner Frau und dem Job. Vielleicht würde er ihm dann auch sein Büro zeigen. Vielleicht wäre der alte Mann ja dann stolz auf ihn. Doch diese Schritte herunter auf den Markt würde Joe niemals gehen, dass wusste er. Jeden Tag, wenn er den Alten für eine viertel Stunde beobachtete. Seit Jahren.

An einem Tag Mitte Dezember kam er nicht mehr. Joe hatte bis elf Uhr ungeduldig gewartet, Ausschau gehalten, dann hielt er es nicht mehr aus. Seit Tagen schon erschien ihm der alte Mann schwach, kraftlos. Joe machte sich Sorgen, dachte oft auch noch Stunden später über ihn nach.
Nicht selten hatte er wieder den Wunsch gehabt, der Magier aus seinen Kinderbüchern zu sein, die Zeit stillstehen zu lassen, um Mut zu sammeln sich doch noch zu dem Alten auf die Bank zu setzen.
Mit schnellen Schritten erreichte Joe den Markt, seine Blicke suchten alle Stände, die Geschäfte ab. Nichts. Nervös lief er ein Stück in die Altstadt, doch auch da kein alter Mann mit elegant schwingendem Spazierstock. Langsamer lief Joe zu der Bank unter den kahlen Linden, deren Äste vom frisch gefallenen Schnee wie zugedeckt erschienen. Er suchte die Schritte des Alten im Schnee, seinen Zigarrenstummel, obgleich er wusste, dass er weder die einen, noch den anderen finden würde. Enttäuscht sank er auf die Bank, schaute herauf zu seinem Büro, von dem aus er Jahr seit Jahren hier herab geblickt hatte. Die Rathausuhr war wieder stehengeblieben, auf sechs Uhr vierunddreissig. Was für seltsame Dinge einem manchmal auffallen, dachte Joe.
Für eine halbe Stunde betrachtete Joe das Geschehen auf dem Markt aus jenem Blickwinkel, mit dem es der Alte über Jahre getan hatte. Er fühlte den Wind durch die alten Zweige der Linden rauschen, sah wie er als Junge einst hier durch den Schnee lief. In diesen Momenten begann Joe Abschied zu nehmen von dem Alten, den er jahrelang beobachtet hatte, um den er sich sorgte, der ihm so vertraut war, und den er dennoch seit vierundzwanzig Jahren nicht mehr gesprochen hatte.

Als Joe am späten Nachmittag dieses Tages sein Büro verließ, waren sie bereits gekommen um die Linden zu fällen. Er nahm sich einen der herabgefallenen Äste und begab sich auf den Heimweg. Zuerst allerdings ging er noch einmal in die Altstadt, schaute sich die Häuser an, auf deren Giebeln der frische Schnee lag, dachte zurück an die Zeit, als er hier Kind war, an die Magier und dann wieder an den Alten.
Stunden später, an einem Abend, wie er ihn noch nie so seltsam erlebt hatte, saß Joe an seinem Schreibtisch zu Hause und dachte nach. Lang hatte er gewusst, dass dieser Tag kommen würde, hatte sich vorgestellt wie er fühlen würde, doch nun war alles ganz anders. Eine sonderbare Ruhe überwog seine Traurigkeit. Vielleicht hatte der Alte es die ganze Zeit gewusst, dass er ihn beobachtete.
Mit einer schnellen Handbewegung zog Joe seine Schreibmaschine unter einem Stapel alter Erinnerungen hervor, säuberte die Tasten sorgfältig vom Staub, hielt für einen kurzen Moment inne und begann über den alten Mann zu schreiben.

 

Hallo Salinger!

Deine Geschichte gefällt mir ganz gut. Die Thematik mag zwar nicht neu sein (sie erinnert mich irgendwie an ein- oder zwei andere KGs, die ich hier bei kg.de vor einiger Zeit gelesen habe), aber du hast die Beobachtungen des Protagonisten schön veranschaulichend beschrieben, sodass man sich die Geschehnisse gut vorstellen kann. Ich finde, die Story strahlt irgendwie etwas Wehmütiges aus.

Mit einer schnellen Handbewegung zog Joe seine Schreibmaschiene unter einem Stapel alter Erinnerungen hervor, säuberte die Tasten sorgfältig vom Staub, hielt für einen kurzen Moment inne und begann über den alten Mann zu schreiben.
Der Schluss ist interessant. Man hat den Eindruck, das Resultat des Geschriebenen zu lesen. Allerdings müsste die Geschichte dann wohl in der "ich"-Form stehen.

Ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:

die er als Kind las
"gelesen hatte", oder?

nach einigen Meter
Metern

Jahr seit Jahren
Klingt für mich irgendwie ungeläufig. Vielleicht "Jahr für Jahr"?

Zahlen würde ich grds. ausschreiben, wie es für Literaturtexte i. Allg. üblich ist.
Immerhin hast du "sechs Uhr vierunddreißig" ja auch in Worte gefasst.

Insgesamt ein recht gelungener kleiner Text.

Viele Grüße,
Michael :)

 

Hallo Michael,

vielen Dank für Deine Antwort und die Kritik.
Na ob die Geschichte wegen dem Ende unbedingt in der Ich-Form stehen müsste, dass weiß ich nicht genau.
das es für literarische texte üblich ist zahlen auch über zwölf auszuschreiben, ist mir neu. falls es stimmt dann vielen dank für den hinweis. und auch danke für die anderen korrekturen.
muss ich dann mal ändern.

grüße,

sal

 

Hi Salinger,

eine wunderbare Geschichte, ich konnte den Platz vor mir sehen, obwohl Du ihn kaum beschrieben hast und man ist irgendwie sofort mittendrin. Danke für Deinen Beitrag,

Franny

 

die geschichte liest sich wie die eines profis. meine stimmung fühlte ständig mit Joe mit. Die Zeit anhalten, die Linde, die sie am Todestag des alten Mannes fällten... alles nicht neu, aber sehr schön erzählt. Man kann das Rad eben nicht immer neu erfinden.

 

Hallo Sethur und hoEyo,

viele Dank für Euer überschwengliches Lob. Echt nett. ;) Freuht mich, dass Euch meine Geschichteso gut gefallen hat. hehe, werde mich bemühen es weiterhin so gut zu machen.

sal

 

Hi Sal!

Wirklich sehr schön! Kann mich meinen Vorrednern nur anschließen: Sehr anschaulich und sehr ruhig geschrieben, man sieht den Pltz und den alten Mann direkt vor sich.
Was mich stutzig gemacht hat: "...den er dennoch sweit 24 Jahren nicht mehr gesprochen hatte." Mir drängte sich die Vermutung auf, daß es sich bei dem alten Mann um seinen Vater, vielleicht auch Großvater, handelt. Schade, daß man keinen weiteren Hinweis erhält, der eine solche Vermutung bestätigt oder dementiert...

Ach ja: Zahlen sehen einfach schöner aus, wenn sie ausgeschrieben sind, weshalb das in literarischen Texten tatsächlich so gehandhabt wird.
Und: Schreibmaschine, ohne "e" hinter dem zweiten "i"!

Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

 

Hallo chaosqueen,

danke für deine kritik und das lob. *freu*
also das mit den ausgeschriebenen zahlen leuchtet mir natürlich ein. hehe, werde ich ab jetzt berücksichtigen.


Mir drängte sich die Vermutung auf, daß es sich bei dem alten Mann um seinen Vater, vielleicht auch Großvater, handelt. Schade, daß man keinen weiteren Hinweis erhält, der eine solche Vermutung bestätigt oder dementiert...

Hmm, ja so ist das eben. Ein bisschen Spannung muss doch noch bleiben. Ich finde es ja gar nicht gut, wenn man in einer Geschichte alles erklärt und verrät. Außerdem ist es ja ganz klar, dass es sich um den Vater handeln könnte. Es gibt da viele Hinweise.

grüße,

sal

 

Hallo Salinger,
eine ziemlich traurige Geschichte, ohne Höhen und tiefen gleichmässig erzählt.

Es muss wohl heissen „nicht nur die uhr des rathauses wäre stehen geblieben“ „des“

Nun, daß die beiden sich nicht treffen würden, daß habe ich irgendwie von anfang an
vermutet.
Aber dies verleiht dieser Geschichte das Traurige. Insgesamt würde ich sagen gelungen.

Liebe grüsse Archetyp

 

Hey Archetyp, schön, dass auch Dir meine geschichte gefallen hat. vielen dank für das Lob. hehe. langsam wirds mir fast zuviel. *g*

sal

 

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