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Polstellen

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15.06.2003
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Polstellen

August war Mathematiker. Sein Studium hatte er an der hiesigen Universität absolviert. Seine Noten waren immer durchschnittlich gewesen, aber immerhin hatte er, wie auch viele andere, sein Studium in der Regelstudienzeit absolviert. Sein Aussehen glich dem eines üblichen Mathematikgelehrten, brauner Anzug, nicht zu schick um auf keinen Fall aufzufallen. Dazu ein weißes Hemd, eine einfache Brille, die ohne Zuzahlung von der Krankenkasse übernommen wurde, schwarze unauffällige Lederschuhe und eine dunkelbraune Krawatte. Die Krawatte hatte ihm sein Vater vor sechs Jahren zu Weihnachten vererbt.

Seine Eltern besuchte er zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zum Pfingstfest, das glücklicherweise jedes Jahr mit seinem Geburtstag zusammenfiel. So konnte er sich eine dritte jährliche Zugfahrt in den Süden ersparen. Dieses Jahr würde er seinen 31. Geburtstag bei ihnen verbringen. Vater würde sich wie jedes Jahr eine Flasche Wein mit ihm teilen und Mutter würde ihm, auch wie jedes Jahr, die Tochter ihrer besten Freundin vorstellen wollen, die genauso wenig wie er selbst irgendeine Anziehung auf das jeweils andere Geschlecht ausübte.

August hatte sich damit abgefunden. Im gefiel die Rolle des unscheinbaren, introvertierten Spinners, für den ihn viele Menschen zu halten schienen. Sein Leben gehörte der Mathematik, insbesondere der Systemtheorie, die seine gesamten Gedanken einnahm und ihn vor der wirklichen Welt beschützte. Hierher flüchtete er sich, wenn er abends seinen Schreibtisch verließ und sich auf den Heimweg machte. Nur so konnte er die mitleidigen Blicke der Passanten ignorieren, die sich wunderten, warum dieser, etwas verschroben aussehende Geschäftsmann, wohl mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen musste. Und das taten sie alle, alle denen August begegnete, jedenfalls dachte er das. Wenn sie nur wüssten, nach was für einfachen Regeln und Gesetzten ihr gesamtes Handeln funktionierte. August war sich sicher, dass sich ein Mensch annähernd so einfach, wie jedes andere System mathematisch beschreiben ließe, aber warum sollte er seine Gedanken an diese primitiven Unterräume verschwenden, wenn doch das weitaus komplexere System "Welt" existierte. Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, wenn er sich vorstellte wie dieses System, kurz davor instabil zu werden, auf eine Art Resonanzkatastrophe, den Fall, den die primitiven Menschen mit Weltuntergang umschrieben, zusteuerte. Sein Ansatz bestand darin, dass die Welt ein sich selbst regulierendes System darstellte. Würde man die Polstellen jedes einzelnen Untersystems in die komplexe s-Ebene einzeichnen, so würde sich links der vertikalen imaginären Achse eine unendlich große Anzahl von Punkten befinden. In der Nähe der imaginären Achse würden wenige langsame Systeme, wie die globale Erdwärme oder auch die Wolke, die ununterbrochen auf August herabzuregnen schien, eine hellgraue Fläche hervorrufen. Weit entfernt lägen die schnellen Systeme, die mit zunehmender Geschwindigkeit an Häufigkeit abnehmen würden. Zwischen diesen beiden Extremen würden der Großteil der Untersysteme, zu denen auch der Mensch gehört eine unendlich schwarze Fläche bilden, die aber nicht weniger zu der Resonanzkatastrophe beitragen könnte, wie jeder andere kleine Punkt auf dem von August betrachteten Blatt Papier. Genauso wenig würde es einen Unterschied machen, ob die Polstellen auf der horizontalen, realen Achse liegen oder daneben, was auf ein schwingungsfähiges System hindeutet. Nur eins dürfte nie passieren und diese Regel hatte Nyquist, Mathematiker und Mitbegründer der Systemtheorie, schon vor fast einem Jahrhundert aufgestellt. Die weiße, rechte, jungfräuliche Hälfte des Koordinatensystems durfte nie, wie auch immer, von einem schwarzen Punkt, einer Polstelle der linken Seite beschmutzt werden. Dies wäre ein eindeutiges Anzeichen für die Instabilität des Systems "Welt", was zur besagten Resonanzkatastrophe, dem Weltuntergang führen würde.

Mit diesen Gedanken verlies August diesen Abend seinen alten hölzernen Schreibtisch, verabschiedete sich im Vorbeigehen und ohne Blickkontakt aufzunehmen mit einem dahin gemurmelten "Wiedersehen" bei seinen Kollegen und lief im Regen zu der Bushaltestelle, die sich einige hundert Meter die Straße entlang von seinem Institut befand. Dort angekommen wurde er mit einem, auf einen Zigarettenautomat einschlagenden Mädchen konfrontiert, welches selbst von August aufgrund ihres lautstarken Verhaltens, nicht ignoriert werden konnte. Sie trug eine schwarze, mit Nieten verzierte Lederjacke und eine viel zu enge Jeans, die in schwarzen, nur bis zur Hälfte geschnürten Stiefeln steckte. Kleidung, die auch schon in Augusts Jugend beliebt war, nicht das er sie jemals getragen hätte.
Nach einigen weiteren Verfluchungen des Automaten drehte sich das Mädchen zu August und fragte ihn in schroffem Ton nach Geld. August, der es gerade zutiefst bereute mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu reisen, durchsuchte mit zitternden Händen seine Geldbörse und gab ihr schließlich alles was er an Münzen fand. Während sich das Mädchen ihre Packung Zigaretten aus dem geschundenen Automaten zog, wandte sich August hektisch dem heranfahrenden Bus zu. Als sich die Türen öffneten drückte ihm das Mädchen mit den Worten "Danke, Mann" und "Schicker Anzug" eine Zigarette in die Hand und sprang in den Bus. August, von soviel realer Welt vollkommen verwirrt, stolperte hinterher und setzte sich auf seinen gewohnten Platz in der ersten Reihe direkt hinter dem Busfahrer.

Es war nicht die Angst vor der Wirklichkeit, die August in seine Gedankenwelt trieb, sondern die Unfähigkeit auf die normale Art und Weise der Menschen über das soeben Geschehene nachzudenken. Er betrachtete die Zigarette in seiner Hand und dabei kam ihm die komplexe s-Ebene über die er auf dem Weg hierher nachgedacht hatte in den Sinn. Wie würden sich die ihn beschreibenden Polstellen wohl verhalten, wenn er sie sich zwischen die Lippen steckte, anzündete und tief inhalierte? Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass er sein System "Welt", wenn auch nur sehr geringfügig, beeinflussen konnte. Er, der unscheinbare, introvertierte Spinner, konnte plötzlich etwas tun, was ein Großteil der Menschheit für selbstverständlich, ja sogar für angenehm und anregend hielt. Und dieses, von ihm allein initiierte Verhalten, das Mädchen hatte ihm nur die Zigarette geschenkt, konnte aber nicht sein weiteres Handeln beeinflussen, würde Auswirkungen auf alle, von ihm und seinem neuen Handeln abhängige Unterräume haben. Er würde sicher keine Polstelle auf die rechte Seite des Koordinatensystems verschieben und damit den Weltuntergang auslösen, vorausgesetzt, dies hatte nicht schon ein anderer getan, aber er würde vielleicht eine minimale Verschiebung des Weiß-Schwarz-Grau-Spektrums auf der linken, sicheren Seite hervorrufen.
Daheim angekommen, zündete er sich die Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und hustete mit einem verzerrten Grinsen im Gesicht die nächsten zwei Minuten. Am nächsten Tag würde er beim Betreten des Instituts seinen Kollegen in die Augen sehen und ihnen laut und deutlich einen wunderschönen guten Morgen wünschen. Vielleicht würde er eine Bar besuchen und ein Mädchen kennen lernen. Zumindest würde er sich eine eigene Krawatte kaufen und die seines Vaters nur an den Pfingst- und Weihnachtsbesuchen tragen.

Während August sich seine zukünftige Teilnahme am realen Leben ausmahlte, wanderte die Polstelle, die für die globale Erderwärmung zuständig war, aufgrund der Kohlendioxidemission seiner in Zukunft gerauchten Zigaretten, in Richtung der imaginären Achse. Kurz vor dem Übergang in die weiße Hälfte des Koordinatensystems stoppte der Punkt auf wundersame Weise seine Reise und begann sogar langsam zurückzuwandern. Madeleine, die Tochter der besten Freundin von Augusts Mutter, die von August an Weihnachten wieder einmal sehr abweisend behandelt wurde, hatte soeben beschlossen von nun an ihr Leben nicht der Suche nach einem Mann, sondern der Zucht von Zimmerpflanzen zu widmen. Immerhin hielt sie dies für einen, wenn auch sehr geringen, Beitrag zur Verbesserung des Weltklimas.

01.10.2003, myon7

 

Hallo myon,

ist Dir aufgefallen, dass die erste Hälfte Deiner Geschichte ausschließlich aus der Beschreibung eines muffigen Klischees sowie einer Menge Konjunktiven besteht? Es geschieht rein gar nichts - und das ist ziemlich wenig. Eine KG sollte den Leser direkt in ihren Bann ziehen, und das geht am besten mit Geschehen, nicht mit einer ausufernden Personenbeschreibung. Außerdem beschreibst Du das Klischee viel zu ausführlich - es ist nunmal ein Klischee, d.h. jeder Leser kennt es, also genügt eine kleine Andeutung, um die Figur (im Kopf des Lesers) vollständig zu beschreiben. Ein Mathematiker mit Kassengestell und längst aus der Mode gekommenem Anzug - da weiß jeder sofort, dass er noch nie Sex hatte, das brauchst Du gar nicht zu erwähnen.

"Würde man die Polstellen jedes einzelnen Untersystems in die komplexe s-Ebene einzeichnen, so würde sich links der vertikalen imaginären Achse eine unendlich große Anzahl von Punkten befinden." Ich bin kein Mathematiker, sondern nur Physiker, aber ich denke, dass dieses und das folgende Gefasel genausogut Unsinn wie sinnvoll sein könnte - der normale Leser kann es nicht beurteilen, denn er ist längst abgehängt und kann Dir (bzw. August) nicht folgen.

Ein paar Rechtschreibfehler:

Gesetzte -> Gesetze

verlies -> verließ

beliebt war, nicht das er sie -> dass

Ein Beispiel, wie Du die Sprache verbessern kannst:

Dort angekommen wurde er mit einem, auf einen Zigarettenautomat einschlagenden Mädchen konfrontiert, welches selbst von August aufgrund ihres lautstarken Verhaltens, nicht ignoriert werden konnte
-> schreib aktiv: Dort schlug ein Mädchen so lautstark auf einen Zigarettenautomaten ein, dass August es nicht ignorieren konnte.

Nun, ob es das Leben eines wandelnden Klischees verändert, wenn er eine Zigarette angeboten bekommt, wage ich zu bezweifeln. Das ist mir zu einfach. Was das alles mit SF zu tun haben soll, ist mir schleierhaft - ich schlage eine Verschiebung nach "Gesellschaft" vor.

Insgesamt wirkt Deine Geschichte nicht überzeugend. Das Klischee ist zu übertrieben, es geschieht fast nichts, und dieses bisschen soll dann die ganze Welt verändern? Auch die Spielerei mit diesen Polstellen - den Sinn dahinter verstehen vermutlich nur Mathematiker wirklich - macht keine spannende Geschichte draus. Das Konzept, aus einem wandelnden Klischee aufgrund eines kleinen Ereignisses einen anderen Menschen zu machen, ist außerdem ziemlich abgegriffen, finde ich, im Grunde ist es reiner Kitsch, wenn nicht gar eine fahrlässige Vereinfachung komplexer psychischer Umstände.

Ach ja, und sogar nicht-Mathematiker können sich an zwei Fingern abzählen, dass kein Geburtstag jedes Jahr mit einem beweglichen Feiertag wie Pfingsten zusammen fallen kann ;)

Fazit: sprachlich brauchbar aber teilweise umständlich, inhaltlich nicht spannend und nicht überzeugend.

Uwe
:cool:

 

Moin myon,

Erstmal herzlich willkommen auf KG.de.

Ja, spannend war deine Geschichte wirklich nicht. Im ersten Teil beschreibst du deinen Protagonisten sehr (in meinen Augen zu) ausführlich, danach kommt eine mathematische Erklärung, die ich nur überflogen habe und zum Schluß kommt die Pointe, daß schlicht gar nichts passiert.

Und genau diese Pointe ist es, die den Text mMn ein wenig rausreißt, denn sie hat mir gut gefallen. Wenn ich den Absatz mit den Polstellen (den ich, wie gesagt nur überflogen habe) richtig gedeutet habe, geht es darum, daß der Fortbestand der Welt, wie wir sie kennen, ständig auf einer ganz engen Klippe steht. Die Zigarette und die Zimmerpflanze sind nur Bilder, wie schnell das System kippen und zerstört werden kann. Dieser Gedanke hat mir gut gefallen.

Auf jeden Fall solltest du den Absatz über die schwarzen und grauen unendlichen Ebenen drastisch kürzen. Erstens kann dem wohl eh kaum jemand wirklich folgen und zweitens ist das ehrlich gesagt so spannend, wie Farbe beim Trocknen (und das sage ich, obwohl ich Mathematik eigentlich schon interessant finde - aber eben nicht in KGs).

Nach einigen weiteren Verfluchungen des Automaten drehte sich das Mädchen zu August
Besser: nachdem das Mädchen den Automaten noch einige Male verflucht hatte, drehte...
Verfluchung klingt in meinen Ohren nicht wirklich gut.

Insgesamt eine nicht wirklich spannende Geschichte, deren Ende mir aber ganz gut gefallen hat.

 

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