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Politisch überempfindlich
„Bevor wir mit dem Training anfangen, würde ich gern noch die Mannschaftsaufstellung klären.“
Ich lasse die Ausdrucke vor den erwartungsvollen Gesichtern meiner Jungs wedeln. Bei diesen Ansprachen lebe ich innerlich auf. Irgendwie komme ich mir dabei so … wichtig vor.
„Wie mir die NSJ gestern per E-Mail …“
„Hallo!? NS?“
„NS?!“
„Äh, ja, so steht es hier. Und ihr werdet das Kürzel sicherlich auch kennen.“ Ich räuspere mich, um den lächerlichen Zwischenrufen Einhalt zu gebieten.
„Trotzdem isses 'ne Schweinerei!“
„Voll der Nazi-Dreck! Solche Kürzel spricht man nicht aus, auch wenn's da steht!“
„Also schön: Wie mir die Niedersächsische Schachjugend gestern per E-Mail mitteilte, werden in der Liga statt Sechser- jetzt Achtermannschaften spielen. Wir müssen ein paar neue Mitglieder werben, um die Reserven der Jugendmannschaft aufzustocken. Also! Wie sieht es aus?“ Mein Blick gleitet majestätisch über die versammelte Gruppe. In solchen Momenten weiß ich, warum ich zum neuen Jugendwart ernannt wurde. Die Zwischenrufer habe ich elegant zum Schweigen gebracht. Eine Fähigkeit, die im Verein keiner außer mir besitzt. „Ich warte, meine Herren. Die Personaldecke ist zu dünn. Gibt es unter euren Schulkameraden ein paar Kandid…“
„Höh?! Kameraden?“
„Kameraden?!“
Stefan wirft ein Papierknöllchen nach mir. Klaas springt auf und richtet den Zeigefinger auf mich.
„Schwein! Du benutzt auch Nazi-Begriffe, wie die von diesem Verband!“
„Also bitte, bitte, meine Herren, das ist doch kindisch! Ich weiß ja auch, dass man heute politisch korrekt sein muss, aber das ist nun wirklich überempfindlich.“
„Überempfindlich?!“ Klaas wirft jetzt ebenfalls mit Papierknöllchen. „Ist ja wohl das Letzte! Das haben die alten Nazis den Juden nach dem Krieg vorgeworfen.“
Nun bin ich fast ein wenig verunsichert. Wie soll ich damit umgehen?
Ach was! Die Jungs wollen bloß vom Thema ablenken und sich über mich lustig machen. Aber nicht mit mir!
„Jetzt reicht’s aber mit euren Unterstellungen! Ich mach jetzt weiter: Stefan, du wirst wie letztes Jahr der Mannschaftsführer sein …“
„Hm?! Führer?“
„Führer!?“
„Lasst doch endlich mal … hey!“ Stefans Fäuste boxen gegen meine Nieren.
„Ich bin kein Führer, klar? Das heißt Mannschaftsleiter!“ In seinem Gesicht spiegelt sich echter Zorn. Glaube ich zumindest. Die anderen sehen mit verschränkten Armen grimmig zu mir auf.
„Okay, Mannschaftsleiter.“ Verdammt! Jetzt ist meine Autorität beschädigt. Wie kann ich diese Scharte wieder auswetzen? Am besten, indem ich eine flammende Rede halte. Genau, dann werden wieder alle respektvoll zu mir aufschauen. Ich räuspere mich, bis alle still sind.
„Meine Herren! Ihr macht euch nicht klar, dass wir jetzt sehr konzentriert sein müssen, um unser Ergebnis vom letzten Jahr zu halten. Wie ihr wisst, wird es diesmal eine schwierige Saison. Der Absteiger aus der Landesliga wird uns die Hölle heiß machen, der Nachwuchs bei einigen Mannschaften ist stärker geworden. Wie, glaubt ihr“, und dabei blickte ich erst Stefan und dann Klaas tief in die Augen, „könnt ihr es schaffen, auch diesmal ungeschlagen durchzumarschieren?“
Alle starren mich an, fassungslos.
„Marschieren?“
„Marschieren!?“
„Voll der Nazi-Jargon!“
„Wo stehst du eigentlich?“
„Wir wollen keinen Nazi als Trainer!“
Es reicht! Ich raffe meine Unterlagen zusammen und stürme wortlos aus dem Raum.
Im Flur stoße ich mit Thomas zusammen, meinem Assistenten.
„Oh, Tommy, hör mal, für heute musst du mal allein mit denen fertig werden. Ich hab’ echt keinen Bock mehr. Mit diesen Politisch-Korrekt-Tuern kannst du kein vernünftiges Gespräch führen.“
Thomas’ Gesicht nimmt einen befremdet-irritierten Ausdruck an. „Führen?“
„Ach, leck mich doch!“ Ich renne an ihm vorbei die Treppe runter, als mir die Mappe auf die Stufen fällt.
Fröhliche Stimmen aus dem Clubraum. „Hey, Thomas, altes Haus. Gut, dass du wieder da bist. Der Neue ist so uncool, da schlafen einem sogar die Fußnägel ein, wenn er den Mund aufmacht.“
Lachen bei Thomas. „Kann ich mir vorstellen. So, ich hab’ hier die Abzüge von der NSJ-Mitteilung ...“