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Polin und Absinth macht Wette
"Was denken du, Gerd?", fragte sie mich. Ich schaute drauf. Ganz genau. Nahm Maß. Machte "Hm, Hm" und schaute weiter. Ich spürte ihren Blick gespannt auf meinem liegen. Ich trat einen Schritt vor und dann zwei Schritte zurück, tippte mit meinem Zeigefinger zweimal auf meine Nasenspitze und setzte einen konzentrierten Gesichtsausdruck auf. Aber ich war gar nicht konzentriert. Ich runzelte nur meine Stirn, weil ich fand, dass meine Stirn dann besser aussah.
"Jetzt sag endlich!", schrie Paul und ließ seine leere Bierflasche über seinem Kopf kreisen, so als wär's ne Keule und er 'n Barbar. Aber er war nicht Conan, nur Paul.
"Halt's Maul und lass mich überlegen!", schnauzte ich zurück.
Ich konnte zwar nur schätzen, aber dann wollte ich wenigstens richtig schätzen. Schließlich ging es hier um was. Eine Wette!
"Hm, hm", machte ich, und legte meine rechte Hand unter's Kinn, um Zeit zu gewinnen.
"Schwer zu sagen", sagte ich endlich.
"Ach komm. Sag's!"
"Ich weiß nicht. Ich müsste sie anfassen, um ein genaues Urteil zu fällen. Darf ich mal Anna?"
Ich bewegte meine Finger in der Luft, so als würde ich Klavier spielen und ging auf Anna zu.
"Spinnen oder was?", sagte Anna, schlang ihre Arme beschützend um ihre Brust und sprang einen Schritt zurück. Sie kicherte. "Ich dich nicht anfassen lassen!"
Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen und lehnte mich gegen die Wand des Baucontainers, der Pauls Vater gehörte.
"Dann weiß ich es nicht. Tut mir leid Anna. Kann ich dir nicht weiterhelfen.", sagte ich und versuchte dabei möglichst ernst zu wirken.
"Gerd ist Schwein! Er ist Schwein oder? Paul?"
"Ne Drecksau iser", sagte Paul. "Aber wenn ich es mir so überlege, dann hat er schon recht. Is echt schwer zu sagen ohne Anfassen und so. Erst dachte ich, is hundertprozentig C. Aber jetzt? Ich weiß nicht. Bin mir nicht mehr so sicher, ob's vielleicht doch nicht eher B is. Man müsste wohl wirklich anfassen dürfen, um da ein sicheres Urteil zu fällen."
"Pfui! Ihr Schweine! Beide! Du auch! Paul! Beide Schweine!", sagte Anna und fuchtelte mit ihrem Zeigefinger in der Luft herum. Sie blickte uns grimmig an und auf ihrer Nase entstand dabei eine feine Falte, die ich ihr in dem Moment am Liebsten glatt geleckt hätte. Dann lachte sie aber auch schon wieder.
"Wir sind keine Schweine, Anna. Es ist einfach unmöglich eine genaue Aussage über die Körbchengröße einer Frau zu treffen, die ein Poloshirt trägt, wenn man nur schauen darf. Da is einfach viel zu viel Spekulation mit drin und dann hat man auch noch seine männlichen Fantasien dabei, die die Sachen meistens größer machen, als sie eigentlich sind. Also Anna, ich bin ja nur ehrlich..."
"Der Gerd hat da recht.", mischte sich Paul ein. "So was kannste nicht einfach so mit Augenmaß entscheiden, da brauchste mehrere Maßstäbe. Das ist, wie mit den zwei Kreisen die man malt und dann sagt, das ist ein Mexikanerhut. Da kannste dann auch nicht sagen, wie groß der Mexikanerhut is, weilst ihn ja nicht anfassen kannst..."
"Scheiße Paul! Bist etwa schon voll! Haben noch Nichtmal die Hälfte Bier weg und du laberst schon Müll."
"Was denn Gerd...?"
"Laberst Scheiße Paul!"
"Aber Gerd, ich wollt doch nur..."
"Junge! Nicht streiten!", sagte Anna. Diese Anna. Eine Polin ist sie. Aus Breslau, dem Venedig des ehemaligen Ostblocks, hat sie uns erzählt. Eigentlich heißt sie Annjic, aber das klingt auf Deutsch blöd, deshalb will sie das man Anna zu ihr sagt. Anna ist achtzehn. Drei Jahr älter als ich und Paul. Mit siebzehn vermittelte sie eine spezielle Firma nach Deutschland und sie wurde Haushaltshilfe bei einer reichen älteren Dame und ihrem zehn Jahre jüngeren Stecher. Nach einem halben Jahr wurde sie rausgeschmissen, weil Geld weggekommen war. Sie selbst sagt, dass sie nichts geklaut hat und das es der Stecher von der Alten war, der das Geld genommen hatte, weil der ein Spieler sei und so. Ich glaube, dass wahrscheinlich beide von der Alten geklaut haben und es schließlich einfach so viel wurde, dass es sogar der senilen Alten auffiel und ein Kopf rollen musste. Und der Kopf der Haushälterin rollt halt schneller, als der des Stechers. Anna hatte sogar kurze Zeit Angst gehabt in den Bau zu müssen. Die Alte wollte nämlich die Bullerei einschalten, ließ das dann aber bleiben, weil Anna illegal angestellt war und man ja sonst mit dem Finger auf den Dreck am eigenen Stecken gezeigt hätte.
Als Anna dann auf der Straße stand rief sie ihren Agenten bei der speziellen Firma an und der vermittelte sie dann gleich wieder weiter, diesmal an meine Oma. Die war dement geworden, aber noch nicht so fortgeschritten dement, dass sie nicht daheim wohnen bleiben durfte. Das Klo und den Fernsehsessel fand sie noch. Auch zur Kirche ging sie weiterhin regelmäßig, aber das soll nichts heißen, das tun ja alle Dementen.
Meine Oma wohnte im Haus neben uns, war also meine Nachbarin und das war eher immer ein Nachteil für mich gewesen, bis Anna auftauchte und bei meiner Oma einzog. Bis dahin hatte ich meine Oma immer nur besucht, wenn ich Geburtstag hatte, oder wenn Weihnachten war oder Ostern. Dann kriegten wir, also ihre Enkel, nämlich immer was. Zwanzig Euro mindestens, an Geburtstagen sogar fünfzig. Als Gegenleistung mussten wir uns nur einmal umarmen lassen und so tun, als hätten wir Anstand und eine glänzende Zukunft vor uns. So was hörte unsere Oma immer gern. Einen Arzt in der Familie wünschte sie sich schon, seit mein Vater aus ihr rausgeschlüpft war.
Der Flori, mein Cousin, hatte sogar einmal hundert Euro kassiert und wir anderen freuten uns schon riesig auf unseren nächsten Geburtstag. Aber die hundert Euro blieben die Ausnahme. Sie ist nämlich geizig, unsere Oma. Liegt in der Familie. Wahrscheinlich hatte sie sich damals vertan, als sie dem Flori einen Hunderter in den Umschlag gesteckt hatte, in dem auch die immer gleiche Glückwunschkarte steckte. Ein Vordruck nämlich, die Glückwunschkarte, "Alles Gute zum Geburtstag" stand da, maschinell mit Herzchen verziert und drunter schrieb sie immer knapp "Von Oma".
Anna sah ich das erste Mal, als sie bei meiner Oma den Rasen mähte. Es war Sommer und heiß. Ich lag auf dem Balkon und trank Bier und sah diesem fremden Mädchen dabei zu, wie sie meiner Oma den Rasen mähte. Klingt jetzt nach Intimfrisur, aber ich glaube, davon hält meine Oma nichts. War also Gras, das sie mähte.
Anna sah selbst aus der Entfernung nicht besonders hübsch aus. Ihr Hintern wirkte in dem Jeansrock den sie trug platt und breit. Sie hat leichte X-Beine und ihre Schultern sind maskuliner, als die der meisten Männer. Dafür hat sie tolles langes Haar, fast bis über die Hüften runter, dass sie immer offen trägt. Ein brauner Wasserfall.
Ich sah ihr zu, bis sie fertig war und zu meiner Oma zurück ins Haus ging. Dann stand ich auf und stelzte in die Küche, wo meine Mutter gerade das Abendessen kochte. Ich wollte mich nicht gleich verdächtig machen und druckste erst ein wenig herum, bis ich dann mit der Frage rausrückte, wegen der ich überhaupt mit meiner Mutter zu sprechen angefangen hatte.
"Wer war eigentlich das Mädchen, das bei Oma drüben den Rasen gemäht hat?"
"Ach das is so ne Polin, die hat dein Vater besorgt. Die hilft der Oma im Haushalt."
"Wohnt die jetzt da oder was?"
"Ja, aber erzählt das nicht rum, die is nämlich illegal da?"
"Wieso?"
"Is am Billigsten."
Ich nahm mir vor am nächsten Tag meine Oma zu besuchen. Vor Kurzem war zwar erst mein Geburtstag gewesen, aber das Wort "illegal" klingelte in meinen Ohren die Neugierde wach.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, duschte mich und putzte mir die Zähne, dann spritzte ich mir noch Giorgio Armani ins Gesicht und ging rüber. Meine Oma saß grad beim Frühstücken. Ich setzte mich ihr gegenüber an den Tisch. Das fremde Mädchen war nirgends zu sehen.
"Guten Morgen Oma."
"Guten Morgen."
"Siehst gut aus."
"Danke, du auch."
Auf einmal wurde sie sonderbar verlegen. Das machte die Demenz, ansonsten hätte sie sich gefreut mich zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass sie meinen Geburtstag vergessen haben könnte oder vielleicht wusste sie schon überhaupt nicht mehr, wie ich eigentlich hieß, wusste aber noch, dass sie mich mal gekannt hatte. Ja, Demenz ist kein Spaß.
"Sonst geht's dir gut?", fragte ich weiter.
"Ja und dir?"
"Mir auch. Ein schönes Wetter haben wir derzeit, gell. Soll heute der wärmste Tag des Jahres werden."
"Ja schön schön."
"Diesen Oktober fang ich mit meinem Studium an. Medizin.", log ich.
"Schön", sagte meine Oma und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Es war aber nicht schön, nichteinmal schön schön. Ich sah die Anstrengung hinter ihrem Gesicht, wie sie fieberhaft versuchte, sich zu daran zu erinnern, wie ich hieß. Es war Folter für sie und ich bereute bereits, dass ich hergekommen war, aber ich konnte ihr meinen Namen auch nicht einfach so direkt ins Gesicht schleudern, dass wäre noch schlimmer gewesen für sie.
Dann hörte ich wie jemand die Treppe herunterkam.
"Hast du Besuch Oma?", fragte ich.
"Nein, das ist die wie-heißt-sie-noch-gleich...ach Herrgott lass Abend werden...kein Besuch, dass ist meine neue Haushälterin. Wirst gleich kennenlernen."
"Ach, du hast eine neue Haushälterin?", fragte ich und versuchte überrascht zu wirken.
Ich drehte mich um und sah wie das fremde Mädchen auf ihren nackten X-Beinen hereingetänzelt kam, wie ein ausrangiertes Kunstreitpferd, ihre lange braune Mähne schwebte hinter ihr durch die Luft, so als wär sie im Galopp. Dann stand sie vor mir, ihre Nüstern zitterten leicht und streckte mir die Hand hin.
"Ich bin Anna", sagte sie mit dem typischen osteuropäischen Akzent.
Ich packte zu. Ihre Hand war kalt. "Gerd heiß ich."
Wir sahen uns eine Weile in die Augen. Es war gut. Ich mochte sie sofort. Sie lächelte und ließ meine Hand los.
"Gerd!", mischte sich da lautstark meine Oma ein, die Oberwasser bekommen hatte, weil sie jetzt meinen Namen wieder wusste, "Willst was trinken? Einen Kaffee vielleicht?"
"Ja gern", sagte ich.
"Gerne Gerd. Kriegst gleich. Ähm...", meine Oma hatte die Hand gehoben und sah Anna an, so als wär sie in einem Restaurant und nicht bei sich zu Hause. Anna wäre in dem Fall die Kellnerin, die auf der Leitung steht und sich kein Trinkgeld verdient.
"Ähm...", fuhr meine Oma wohlartikulierend fort, "Ähm, Ähm...wie heißts den jetzt gleich noch mal..Ähm, Ähm..."
"Sie was brauchen, Frau Lehner?", fragte Anna und fügte an: "Sagen ruhig, dafür ich da."
"Ähm...Wie?", stutzte meine Oma, um gleich darauf wütend zu werden, weil man sie aus dem Konzept gebracht hatte: "Wie? Frech wirst jetzt auch noch? Wofür bist'n du eigentlich da? Hah! Zum blöd-daher-reden oder was?"
"Ich nicht verstehe, Frau Lehner", stammelte Anna. (Sie stammelte meistens, wenn sie Deutsch redete, aber diesmal mischte sich noch so etwas wie Angst mit in ihre Stimme)
"Du verstehst mich nicht? Red ich etwa undeutlich? Du sollst dem Gerd, meinem Enkel, einen Kaffee bringen! Bist du ein bisschen blöd, oder was? Was stehst jetzt da noch rum und schaust blöd?"
"Aber Frau Lehner, sie nicht gesagt haben...", sagte Anna und bekam rote Backen. Ihre Arme hatte sie herausfordern in die Hüften gestemmt. "...Nicht gesagt haben, was?"
"Einen K-a-f-f-e-e", sagte meine Oma, gedehnt. Dann beugte sie sich weit über den Tisch und sagte noch mal Richtung Anna: "B-i-t-t-e".
Anna antwortete mit bösem Blick, aber sie hatte das Glück, dass meine Oma fast blind war, drehte sich um und dampfte Richtung Küche ab.
"Na geht doch!", rief meine Oma triumphierend aus und klatschte die Hände zusammen. "Wirklich schwer gutes Personal zu finden. Findest du nicht auch...Ähm...Ähm..."
"Gerd! Milch und Zucker?", plärrte Anna aus der Küche.
"Ja!", schrie ich. "Bitte!"
"Ja ja, der Gerd", murmelte meine Oma und pulte verlegen an der Haut unter ihren Fingernägeln rum. "Groß bist geworden. Bist gewachsen?"
Das fragte sie immer, auch als sie noch nicht dement war. Sogar Martin, mein anderer Cousin, der schon über zwanzig war, bekam die Frage regelmäßig ab.
Dann kam Anna mit meinem Kaffee und stellte ihn vor mich auf den Tisch. Als sie sich dabei vorbeugte, schielte ich ihr in den Ausschnitt und dachte, sicher C. Anna verschwand wieder und ich unterhielt mich noch eine Weile mit meiner Oma. Den Kaffee rührte ich sicherheitshalber nicht an, mit dem goss ich lieber heimlich die Pflanze neben mir. Man kann nie wissen, wozu das in der Ehre verletzte osteuropäische Temperament fähig ist. Als ich mich später bei meiner Oma verabschiedete, drückte sie mir einen Umschlag in die Hand und grinste mich breit an.
"Hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich vergessen hab, dass du heute Geburtstag hast? Ne, mein Lieber. Die Oma vergisst ihre Kinderlein doch nicht. Komm her, lass dich drücken...", sagte sie und breitete ihre Arme aus.
"Aber Oma, ich hab..."
"Komm schon her. Sei nicht schüchtern. Nur eine Umarmung, die bringt dich schon nicht um."
Ich ließ mich umarmen und steckte den Umschlag in meine Hosentasche. Dann ging ich in die Küche. Anna war gerade dabei das Geschirr abzuspülen und hatte mich noch nicht bemerkt. Sie trug wieder die abgeschnittene Jeanshose. Ihr Hintern sah aus der Nähe noch breiter aus und ihre Knie klapperten jedes Mal unschön zusammen, wenn sie eine Tasse oder Teller in die Hand nahm oder wegstellte. Das Klappern ihrer Knie übertönte sogar das Klirren des Geschirrs. Es war ziemlich unschön anzuhören und es begleitete fast alle ihre Bewegungen.
Man musste sich halt dran gewöhnen, wenn man dieses lange braune Haar aus der Nähe betrachten wollte. Das war es nämlich wert. Durch ein Fenster drang der Wind und spielte damit, mit diesem braunen Haar. Irgendein guter Duft zog in meine Nase. Sicher wurde er von diesem Haar verströmt.
"Brauchen was?" Anna hatte mich bemerkt, ich wusste nicht wie lange schon, ich wusste nicht mehr, wie lange ich dieses Haar schon betrachtet hatte. Es könnte eine Ewigkeit gewesen sein oder nur zehn Sekunden. Jetzt fällt es mir ein, zweiundreißigeinviertel Sekunden waren es. Genau! Fast. Genau: fast genau!
"Ne ne, brauch nichts.", sagte ich. Anna sah mich neugierig an. "Suchen was?"
"Nur dich", sagte ich nicht. Gott sei Dank hab ich mir das verkniffen!
"Ne ne, wollt mich nur verabschieden. Geh nämlich jetzt wieder", sagte ich. "Also tschau." Ich streckte ihr meine Hand entgegen. Wortlos griff sie danach. Ihre Hand war feucht und lauwarm. Sie schaute mir in die Augen, so als würde sie noch irgendetwas von mir erwarten.
"Tschau", sagte ich nochmal und ließ ihre Hand aus meiner flutschen, drehte mich um und ging.
Als ich wieder daheim war, öffnete ich zuerst den Umschlag von Oma. Ich musste grinsen. Darin waren hundert Euro und eine Glückwunschkarte: "Alles Gute zum Geburtstag". Danke Oma. Darunter hatte Oma mit der Hand geschrieben: "Lieber Flori, wünsch dir viel Glück und Gesundheit in deinem Leben. Deine Oma."
Flori war also ihr Lieblingsenkel. Das war jetzt Tatsache.
Nachdem ich Flori zum siebten Mal grün und blau geschlagen hatte, in Gedanken, ging ich auf den Balkon und rauchte eine. Danach rief ich meinen besten Freund Paul an und erzählte ihm die ganze Geschichte.
Es dauerte nicht lange und Paul war da. Er kam auf seiner angerosteten Zündapp an, bei der er den Auspuff frisiert hatte. Sie machte jetzt "Pöff Pöff", früher hatte sie nur "Öff Öff" gemacht. Paul wohnt nur einen Häuserblock entfernt. Zu Fuß wäre er schneller, weil die Zündapp immer ihre Zicken beim Starten hat. Noch dazu wohne ich in einer Einbahnstraße. Paul muss deshalb einen Umweg fahren, aber Führerscheinneulinge haben halt ihre Füße lieber auf den Pedalen, als auf dem Bürgersteig.
Die Sonne schien und wir setzten uns deshalb raus auf den Balkon. Auch in der Hoffnung, dass wir Anna zu Gesicht bekommen würden.
"Und das ist eine Polin oder was? Eine echte Polin?", begann Paul.
"Scheint so", sagte ich.
"Und die is bestimmt aus Polen?"
"Weiß ich doch nicht. Hab sie nicht gefragt. Mein Vater hat die besorgt. Jedenfalls kann sie nicht richtig deutsch, also eine Ausländerin ist sie bestimmt! Wieso interessiert dich das eigentlich so?"
"Na weißt doch. Die Mareike ist doch auch aus Polen gewesen."
"Ach so. Ja. Angeblich war sie das." Mareike kam im letzten Schuljahr zu uns an die Schule. Innerhalb von drei Monaten hatte sie sich einen Ruf erarbeitet. Sie lutschte einem für 10 Euro den Schwanz auf der Behindertentoilette. Zum Glück galt Mareike als behindert, denn man brauchte einen Schlüssel aus dem Sekretariat, um reinzukommen. Aber den Aufwand war es wert, auf der Behindertentoilette war es sauber und man war ungestört. Mareike hatte eine leichte Kinderlähmung am rechten Bein, deshalb trug sie immer lange Hosen und musste sich auf die Kloschüssel setzten, wenn sie gerade Kundschaft bediente, weil knien konnte sie nicht mehr richtig.
"Ja und! Siehst du den Zusammenhang etwa nicht!", sagte Paul und starrte mich an.
"Beide kommen aus Polen, na und?", sagte ich nach einer Weile, weil es mir zu blöde wurde, so angestarrt zu werden.
"Ja genau! Beide kommen aus Polen! Und wie viele Mädchen außer Mareike kennst du, die aus Polen kommen?"
"Keines", seufzte ich. Ich wusste, worauf er hinauswollte.
"Na eben! Ich auch nicht. Was ist jetzt also, wenn alle Mädchen aus Polen so drauf sind wie die Mareike?"
"Anna hat keine Kinderlähmung."
"Ach, Depp! Du weißt schon was ich mein. Vielleicht werden die da drüben so erzogen, dass sie lernen es für Geld zu machen. Vielleicht ist das da drüben ganz normal. Is ja nen armes Land und so, was man so hört."
"Paul du redest Scheiße"
"Woher willst du das wissen? Kennst doch sonst keine Polin? Vielleicht liegt es bei denen in den Genen."
"Ach was? Das hätte sich doch dann schon längst rumgesprochen."
"Ja genau! Und was sagen die Leute über die Polen?"
"Dass sie Autos klauen."
"Genau, das sagen die Leute über die Polen und was sagen die Leute über die Polinnen?"
"Keine Ahnung."
"Wart mal nen Moment!" Paul stand auf und verschwand. Kurz darauf kam er mit der Tageszeitung zurück. Er blätterte eine Weile drin rum, dann reichte er mir die aufgeschlagene Seite rüber und deutete mit seinem Zeigefinger auf eine Stelle. In kleinen Kästchen stand da:
Schöne Polin, große OW, Katja, 100% privat und diskret
Endgeile Polin braucht Mann für untenrum
Bildhübsche Polin, billig und diskret
usw.
Ich legte die Zeitung weg. Paul grinste mich breit an.
"Na? Was sagst du jetzt?"
Ich erinnerte mich daran, wie Anna mich in der Küche angesehen hatte, als ich mich bei ihr verabschiedete. So als würde sie etwas von mir erwarten. Etwa das ich nen Zwanziger vor ihr hinlege, damit sie mir einen blasen kann?
"Lass uns erst mal Bier kaufen", schlug ich vor. "Damit lässt sich besser nachdenken."
"Alles klar", sagte Paul. "Du zahlst, hast ja heut schon hundert Euro von deiner Oma geklaut"
"Halts Maul, Arschloch!", sagte ich und wir fingen an dreckig zu lachen, so als wären wir ganz abgezockte Hunde.
Dann fuhren wir Bier kaufen.
Als wir zurückkamen, sahen wir wie Anna gerade die Wäsche von meiner Oma aufhing. Es wehte ein leichter Wind und die Stringtangas meiner Oma flatterten umher, wie kleine bunte Vögel. Ein Farbenspektakel: pink, türkis, rot, gelb, grün. Marienkäfer und Leoparden hingen da baumelnd am Gummiseil. Und diese BHs, vom Wind ausgebeult, als würden echte Brüste drinstecken und nicht bloß Luft.
Nein. Meine Oma trug so was nicht. Zumindest konnte ich es mir nicht vorstellen. Es musste die Unterwäsche von Anna sein.
Paul und ich hatten schon ein paar Bier intus, die wir uns im Freibad gekauft hatten. Es war Sommer. Wir waren sechszehn und notgeil, hatten den Dreh mit den Frauen aber noch nicht richtig raus. Deshalb tranken wir Bier im Freibad und schauten dabei zu, wie es die Anderen, die Erfahrenen, die Playboys machten.
Im Supermarkt hatten wir dann unsere Rucksäcke mit Dosenbier gefüllt, und als die Kassierin unsere Ausweise sehen wollte, hatte Paul ihr den abgelaufenen von seinem älteren Bruder gezeigt und der Kassiererin dabei ganz tief in die Augen geschaut und sie dezent angelächelt. Ich dachte schon, das war's jetzt mit dem schönen Bier und das wir wieder Wein von meinem Vater klauen müssten, aber die Kassiererin lächelte nur abwesend zurück und ließ uns durch.
Der Abend war gesichert, wir hatten zwar keine Weiber, dafür aber jede Menge Bier, mit dem wir uns betrinken konnten, um die Weiber zu vergessen.
"Könnten ne Party schmeißen. Alle Leute einladen und so." schlug ich vor.
"Wenn meinst denn mit 'Alle'?"
"Na, die Leute aus unserer Klasse. Den Mike und den Jonas und so."
"Ach was, da is doch das gute Bier verschwendet. Sind doch noch alles Kinder, die kotzen doch nach einer Halben alles wieder aus."
"Hast recht. "
Wir stießen an, tranken von unserem Bier und kamen uns mächtig hart vor. Richtig erwachsen und so. Wie zwei ganz alte Hasen. Dann setzten wir uns raus auf den Balkon und rauchten. Anna war immer noch dabei Wäsche aufzuhängen. Eine Weile schwiegen wir und schauten ihr verträumt dabei zu, wie sie einen purpurnen Stringtanga aus ihrem Wäschebehälter holte, ihn skeptisch betrachtend zwischen ihre Daumen spannte, kurz am arschspaltenden Strick schnüffelte und dann eine Wäscheklammer nahm und den purpurnen Vogel zu den anderen flatternden Kanarienvögeln an die Leine klemmte.
"Du Gerd, meinst wir solln sie fragen?"
"Was fragen?"
"Na, ob sie mit uns ein Bier trinken will."
"Weiß nicht, is doch die Haushälterin von meiner Oma. Wenn mein Vater die hier sieht, dann tickt er bestimmt aus"
"Muss ja nicht hier sein. Können ja auch in den Baucontainer von meinem Vater gehen. Da is heute keiner. Sonntags müssen die alle bei ihren Weibern daheim sein."
Ich überlegte. Sah dann zu Anna rüber. Ihr braunes Haar tanzte hinter ihr mit dem Wind. Dann blickte sie auf einmal hoch zu uns und winkte. Wir winkten hektisch zurück und grinsten dabei dämlich breit. Anna lachte kurz auf und verschwand dann im Haus meiner Oma.
"Du Gerd, ich spür's. Hab mich da noch nie getäuscht. Ich spür das.", flüsterte Paul mir eindringlich ins Ohr.
"Was spürst du?"
"Na, dass die von uns flachgelegt werden will. Die will richtig durchgebumst werden. Ich spür das."
"Wo spürst du das?"
"Na in meim Schwanz. In meim Schwanz spür ich das."
"Mensch Paul, manchmal bin ich mir echt nicht sicher, ob..."
"Alk trinkt die sicher auch gern. Is ne Polin. Die trinken alle gerne Alk. Und arm is se auch. Die trinkt bestimmt gerne Alk. Müssen der nur sagen, dass wir jede Menge Alk haben und die kommt überall hin mit. Schau da!"
Paul hielt mir auf einmal die Zeitung vor die Nase. Ich las:
Horrormutter! Hochschwangere Polin mit 2,8 Promille in Krankenhaus eingeliefert. Kind hatte bei Geburt 4,2 Promille und schwebt weiterhin in Lebensgefahr.
Pauls Gesicht war ganz rot, so als ob er Fieber hätte. Seine Beine begannen zu zappeln, das war immer so, wenn er nervös wurde oder sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sein Eltern hatten versucht ihm das Zappeln abzugewöhnen, mit Ritalin, aber Paul vertrug das Zeug nicht. Er musste davon Brechen und seine Mutter war es irgendwann leid, hinter dem kotzenden Paul herzuwischen und deshalb tolerierten seine Eltern Pauls Zappelei irgendwann.
"Is gut Paul. Dann frag du sie aber, ob sie mitkommen will."
"Spinnst du! Ich kann die doch nicht fragen, kenn die doch nicht mal. Nein, du musst sie fragen!"
"Aber ich kenn sie auch kaum. Hab nur heute Morgen kurz mit ihr geredet."
"Also kennste sie besser als ich"
Paul setzte diesen eindringlichen Blick auf, mit dem er, wie er mir mal erklärt hatte, die Gedanken seines Gegenübers zu beherrschen versuchte.
Eine Minute verstrich.
"O.k. ich machs!", sagte ich schließlich genervt.
Paul lehnte sich zufrieden zurück und massierte seine Schläfen, so als wär er 'n Telepath, der dadurch seine Kräfte wiedererlangt. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment wirklich daran glaubte.
Ich trank den Rest von meinem Bier auf Ex, stand auf und ging duschen. Dann putzte ich mir die Zähne und spritzte Giorgio Armani überall auf meinen Körper. Verbrauchte fast die halbe Flasche. Einer der Playboys aus dem Freibad hatte mir mal erklärt, dass der Geruch für eine Frau am Wichtigsten ist und von vielen Männern am Meisten unterschätzt wird. Deshalb bietet ein guter Geruch, die größten Chancen, um bei Frauen aufzutrumpfen.
Es war schon am Dunkelwerden. Meine Oma war bestimmt schon ins Bett gegangen. Ihre Haustür war verschlossen, aber aus dem Wohnzimmerfenster flimmerte blaues Licht. Jemand schaute also fern. Ich ging zurück in das Haus meiner Eltern und pflückte den Zeitschlüssel zum Haus meiner Oma von der Pinnwand. Dann ging ich zurück und sperrte die Haustür leise auf. Auf einmal stand ich in vollkommener Dunkelheit. Mit einem flauen Gefühl im Magen schlich ich langsam vorwärts. Ich weiß wirklich nicht mehr, wieso ich schlich. Ich hatte eigentlich keinen Grund dazu. Ich war der Enkel und kein Einbrecher. Ich schlich weiter.
Die Wohnzimmertür war angelehnt, durch einen Spalt drang das blaue Flimmern des Fernsehers.
Oans, zwoa, drei... gsuffa!
Hörte sich an, wie eine Liveübertragung aus einem Volksfestzelt in Bayern. Dann war meine Oma also doch noch wach, weil Anna würde so was mit Sicherheit nicht anschauen. Oder? Vielleicht schaute sie sich das auch an, um einen Einblick in die bayrische Kultur zu gewinnen. Praktisch als Autointegrationsmaßnahme. Allerdings hatte sie dann den falschen Weg gewählt, den was im Fernsehen von der bayrischen Kultur gezeigt wird, ist höchstens für einen Preußen nachvollziehbar, aber auf keinen Fall für einen Bayern.
Mit einem lauten Knarzen öffnete ich die Tür zum Wohnzimmer.
Ein Pro-sit, ein Pro-sit, der Ge-müt-lich-keit...
"Hallo! Oma!", rief ich hinein, um nicht versehentlich für einen Einbrecher gehalten und abgeknallt zu werden. Angeblich hatte meine Oma mal jemanden abgeknallt, aber das war im Krieg gewesen. Hätt sie das nicht gemacht, wär ich jetzt nicht da, dafür gebs jetzt anstatt mir wahrscheinlich einen Jevgeni.
"Ja? Hallo? Was wollen?", hörte ich die Stimme, deren Stimmbänder ich suchte.
"Hallo Anna. Hier ist der Gerd. Ich bin der Enkel von der Oma...ich mein, von der Frau Lehner. Ich war heute Morgen schon hier"
Die Deckenbeleuchtung ging an und es war auf einmal unerträglich hell. Anna stand ungefähr drei Meter von mir entfernt und starrte mich ein wenig ängstlich an.
"Frau Lehner schon im Bett, schlafen schon", sagte sie.
"Ach so...ja...schläft sie schon...", stammelte ich und kam mir auf einmal unglaublich blöd vor.
"Frau Lehner schlafen schon. Kommen morgen wieder. Dann wach."
"Ja...O.k...aber eigentlich wollt ich eh zu dir..."
"Mich?...Warum?", sagte Anna und musterte mich neugierig.
Aber dieses "Warum?" knallte alle Antworten in meinem Hirn ab. Auf einmal war in meinem Kopf nichts mehr. Nur Leere. Eine Zeit lang stand ich reglos da und betrachtete den Boden vor meinen Füßen. Ein schöner Parkett, dass weiß ich noch, mit vielen Astlöchern. Für mich waren die Astlöcher damals, wie schwarze Löcher, die jeden Anfang eines konstruktiven Gedankens aus meinem Gehirn zerrten und auf Nimmerwiedersehen verschluckten. Ich merkte, wie ich zu schwitzen begann und der Giorgio Armani von der Haut auf den Boden tropfte und in den Astlöchern verschwand.
Hassen Sie das nicht auch?
Was hassen?
Unbehagliches Schweigen.
Mia Wallace hatte das Vincent Vega im Jack Rabbit Slim's unter die Nase gerieben. Fünf Stunden später konnte ich mich endlich wieder rühren, Nein! Nach kurzer Zeit hob ich meinen Kopf und schaute auf Anna, die immer noch vor mir stand und mich erwartungsvoll ansah.
"Weißt du Anna, ich wollt dich fragen...", begann ich und brach wieder ab, weil ich mir so blöd vorkam. Weißt du Anna, ich wollt dich fragen, ob du heute Abend mit mir und einem guten Freund mitkommst. Wir haben da einen alten Baucontainer. Der gehört dem Vater von meinem Freund. Da sind wir ungestört und alleine für uns und können gemeinsam Bier trinken...ach übrigens, ganz vergessen, wir haben beide Geld, fünfzig Euro können wir mindestens zusammenkratzen, bläst du uns dafür dann einen?
"Was ist denn? Was wollen fragen? Sagen endlich!" Anna hatte ihre Arme in ihre breiten Hüften gestemmt und ihr Haar auf eine Weise über ihre Schultern zurückgeworfen, dass es mir beinahe gekommen wäre.
Oans, zwoa, drei...Gsuffa!
Im Augenwinkel bemerkte ich das bescheuerte Grinsen von 'Koks' Hansi Hinterseer, der in Großaufnahme, mit seiner blonden Mähne über den Bildschirm stolperte.
"Ach weißt du. Vergessen wir die Sache. Ich geh jetzt am Besten. Wollt eh nur meiner Oma Gute Nacht sagen, aber da die schon schläft..."
Da hörte ich auf einmal ein Klopfen am Terrassenfenster. Sofort wusste ich, wer das war. Anna sah mich kurz an, ging dann zur Terrassentür und öffnete. Paul stand da. Dickes Grinsen im Gesicht und streckte Anna seine Hand entgegen.
"Hi. Bin nen Freund vom Gerd. Paul heiß ich. Freut mich dich kennenzulernen..."
"Anna"
"Freut mich dich kennenzulernen Anna"
Auf seinen kurzen Beinen kam er ins Wohnzimmer gerobbt.
"Also Anna", begann Paul, "eigentlich ist der Gerd heute Abend hergekommen, um dich was zu fragen. Du merkst schon ich red nicht gern groß drumrum..."
Paul legte eine Kunstpause ein.
Mindestens eine halbe Minute verstrich, dann kapierte Anna und rang sich ein Nicken ab.
"...Der Gerd ist heute Abend eigentlich deswegen gekommen, weil er dich zu etwas einladen wollte. Stimmt doch Gerd, oder?"
Paul du Arsch, dachte ich und nickte leicht, obwohl ich ihm lieber eine Kopfnuss gegeben hätte.
"Also der Gerd wollte dich fragen, ob du heute Abend Lust hast, mit uns zwei wohinzugehen. Wir haben da ne Party am Start. Kommen Haufen Leute. Wir dachten, das könnte dir vielleicht Spaß machen. Weil, kennst ja hier niemanden. Bist ja fremd hier. Es gibt auch jede Menge Alk", als Paul fertig war, spannte er alle seine Muskeln an, stierte Anna an und setzte seinen Gedankenmanipulationsblick auf.
Annas Lippen bewegten sich leicht, aber sie sagte nichts. Vielleicht dachte sie nach, manche Menschen können nur auf diese Weise nachdenken.
"Gerd wollen mich ausführen?", fragte sie schließlich.
Paul klatschte triumphierend in die Hände. "Ja genau!", schrie er.
Anna musterte mich lange. Derweil verkroch ich mich in den Schwarzenastlöchern. Dann lächelte sie auf einmal und sagte: "O.k. Warum nicht?"
"Yeah!", schrie Paul und klatschte noch einmal in die Hände. Ich versank derweil komplett in den Schwarzenastlöchern.
"Hier also Party sein?", fragte Anna und blickte sich skeptisch um. Wir waren im Baucontainer von Pauls Vater. Der hatte seine besten Zeiten längst hinter sich und diente eigentlich nur noch als Versteck und Rückzugsort für Pauls Vater und dessen Freunde vor ihren omnipräsenten, bipolar gestörten Ehefrauen.
Vier Bierbänke und zwei Biertische standen darin. An den Wänden hingen die junge Heidi Klum, die schwarze Naomi Campell und natürlich jede Menge Poster von Michaela Schaffrath alias Gina Wild. Nahezu jedes Poster hatte irgendwelche Senf- und Ketchupflecken und noch andere, bei denen man aber nur schwer sagen konnte, woher sie stammten. Die Nase von Heidi zum Beispiel, war auf dem einen Foto, wo sie sich auf dem Porsche 911 rekelt, schon so verklebt und beschmiert, dass sie sich bereits von der Wand ablöste.
"Klar! Hier steigt heute noch ne Party!", sagte Paul und schaute auf seine Uhr. "Is ja erst halb zehn. Wir haben allen Leuten gesagt, dass sie erst um zehn kommen sollen. Davor fangen ja nur Kinder an zu feiern...Die kommen schon noch. Nicht wahr Gerd?"
Paul hielt mir seine Bierflasche hin. Ich stieß erst mit Anna an und dann mit Paul. Seit dem Vorfall im Wohnzimmer meiner Oma hatte ich kaum ein Wort gesprochen und Anna rührte sich trotzdem keinen Augenblick von meiner Seite. Vielleicht standen ja Frauen auf so was, dachte ich, auf so stille ernste Typen, die nur etwas sagen, wenn es wirklich verdammt noch mal brennt. Aber gleichzeitig wusste ich auch, sollte es brennen, würde ich eher die Feuerwehr rufen, als selber ins Feuer zu gehen. Meistens werden bei so was ja eh nur Katzen gerettet.
Schon seit einer Weile war ich am Überlegen, ob ich meinen Arm um Anna's Schultern legen sollte. Sie war so nah, verlangte nicht das ich sie unterhielt, saß einfach nur da und war in meiner Nähe. Es war fast so, als wären wir schon seit Dekaden zusammen. Mein Eltern redeten auch nur das notwendigste Miteinander und waren schon seit über fünfzehn Jahren verheiratet. Diese Anna. In ihrer Nähe spürte ich das, was sonst nur der Anblick meines Bettes in mir auslöste.
"Hey schaut mal her, was ich hier gefunden hab!", schrie Paul.
Er hielt eine Flasche in der Hand, die zur Hälfte mit grünem Saft gefüllt war.
"A-b-s-i-n-t-h", las er ganz vorsichtig vom Etikett ab. "Mann Gerd, dass ist der Stoff, von dem der Max erzählt hat. Der Stoff, wo die grüne Fee drin is"
"Aha", krächzte ich und mir war, als würden meine Stimmbänder zerreißen.
Paul fand drei saubere Gläser und goss ein. Danach war die Flasche leer. Er schob jedem von uns ein
Glas hin. Paul nahm sein Glas in die Hand und hielt es uns zum Anstoßen hin, dabei sah er sehr feierlich aus. Anna begann zu lachen.
"Was lachen du?", fragte Paul, absichtlich gestelzt, weil er ein wenig beleidigt war.
"Absinth, Jungs, Absinth...Menge Absinth...Viel, Viel, Viel...", stieß sie aus und lachte dann weiter.
"Für uns nichts zu viel. Nichtmal Absinth. Wir harte Kerle, gute Trinker. Wir uns nicht leicht von grüner Fee verzaubern lassen!", sagte Paul und begann auch zu lachen, dabei lehnte er sich arg weit zu Anna vor und streichelte ihr über die Schulter.
"O.k., dann lass uns das Zeug endlich runterschütten", sagte ich taff und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die beiden sahen mich gespannt an. Ich nahm mein Glas in die Hand, hielt es in die Luft und rief: "Prost"
"Nicht so", sagte Anna und bedachte mich mit einem tadelnden Blick. "Muss so gemacht werden! Paul? Zucker da?"
"Nein, ich glaub nicht. Kein Zucker!"
"Dann ich nicht trinken Absinth. Nicht richtig dann gemacht!"
"Warum?", rief Paul verzweifelt aus.
"Brauchen Zucker zum Trinken richtig"
"Ach Scheiß drauf Paul, dann trinken eben nur wir.", schrie ich und schlug mit der Faust auf den Tisch. Das begann mir langsam Spaß zu machen, obwohl der Tisch ja eigentlich nichts dafürkonnte.
"Wenn die Anna nicht mittrinkt, dann trinke ich auch nicht", sagte Paul ritterlich und fing sich einen lobenden Blick von Anna ein.
"Ah, ihr Sepp'n, trink ich eben allein. Scheiß auf euch." schrie ich, schaute noch mal heldenhaft in die Runde und kippte das Zeug in meinen Magen.
Ich stellte das leere Glas ab. Schaute den beiden in die Gesichter und tat so, als wär nichts. Und es war auch nichts. Ich trank mein Bier weiter, rauchte eine Zigarette und fühlte mich wie eine Laborratte. Anna und Paul beobachteten mich stillschweigend, so als könnten mir jeden Moment die Eingeweide rausquellen.
"Was glotzt ihr so. Ihr Deppen! Trinkt endlich das Zeug. Is ja nichts dabei!", schrie ich. In letzter Zeit wurde ich immer aggressiv, wenn ich zuviel getrunken hatte. Paul hatte das mir gegenüber schon öfters erwähnt und ich schämte mich dafür, weil es ein Zeichen von Selbsthass war. Das hatte uns mal der Weißbierschorsch erklärt und der musste es ja schließlich wissen.
Dann spürte ich es. Wellen aus Feuer schwappten durch meinen Körper, bis in mein Hirn rauf und kokelten alles an. Ich sah nur noch aufsteigenden Rauch und purzelte von der Bierbank. Aber ich wurde nicht bewusstlos. Ich lag einfach da, auf dem Laminat und sah den Laminat an. Die Bodenleger hatten schlampig gearbeitet, zu wenig Platz zwischen den Fugen gelassen, so dass die Klebmasse an manchen Stellen rausquoll.
Anna war über mir und rüttelte an meiner Schulter. Paul schrie irgendwas, aber ich verstand kein Wort. Dann rappelte ich mich ganz langsam wieder auf und ließ mich neben Anna auf die Bierbank fallen. Das Feuer in meinem Körper war ausgebrannt.
"Jetzt ihr", sagte ich und schlug mit der Faust auf den Tisch. Daran hatte ich langsam Gefallen gefunden, der Schmerz betäubte.
"Mensch Gerd, du bist grad vom Tisch gestürzt, wie nen nasser Sack und jetzt verlangst von uns, dass wir das Zeug saufen", sagte Paul.
"Ich hab nur die grüne Fee gesehen, Paul", log ich.
"Ehrlich?"
"Klar! Is'n hübsches Mädel nur mit Flügel und in Miniatur und so"
"Ehrlich?", sagte Paul und begann mit seinen Beinen zu zappeln.
"Klar! Und grün isse auch!"
"Prost Anna!", schrie Paul, stand auf und stemmte sein Glas in die Luft.
Anna sah erst mich an, dann Paul. Ihre ersten beiden Biere musste sie nur Sechmal in die Hand nehmen. Ich hatte mitgezählt. Sie hielt was drauf, soviel war sicher. Saufen bedeutete ihr etwas.
"Komm schon, Anna!", zärtelte ich und streichelte ihr über den Rücken.
Da stand sie auf und trank die grüne Fee in ihren Magen und Paul machte es genauso.
Als die beiden wieder vom Laminatboden auf die Bierbank zurückgekrabbelt waren, standen zwei frisch geöffnete Bier vor ihnen.
"Prost!"
"Prost!"
"Prost!"
Oans, zwoa, drei...Gsuffa!