Mitglied
- Beitritt
- 15.02.2003
- Beiträge
- 434
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Poesie und Dreck
Da unten, im Nachbargarten, da schmoren schon wieder die Komposthaufen, der Gestank kommt mit dem Sonnenlicht durchs Fenster. Der Nachbar hat sie angezündet. So wie er es letztes Jahr getan hat, wie er es jedes Jahr im Winter tut.
Weil dann die Igel darin schlafen.
Ich muss mit dem Kopf auf dem Klodeckel aufgeschlagen sein. Selbst zum Hinfallen ist das Bad zu klein.
Aus der Küche kommt das Geplärre unserer Tochter und im Zimmer nebenan summt Dana leise vor sich hin. Dana. Für die ich ein Gedicht geschrieben habe, mit irgend jemandes Kuli auf die Rückseite eines Einkaufszettels, den ich nun aus meiner Hosentasche fummle.
Lawine
Über uns
Schnee
Und um uns
Schnee
Ausweglos
Beim Lesen fällt mir wieder ein, weshalb ich hier bin, und mein Blick wandert hoch zum Dachfenster. Und dann noch ein Stückchen höher.
Stirnrunzelnd betrachte ich das faustgroße Loch im Holz der angeschrägten Decke, aus dem mir feiner weißer Staub entgegenrieselt. Und dann betaste ich nachdenklich die Schlinge um meinen Hals.
Nun gut.
Mal sehen, ob noch ein Bier da ist.
Mit gesenktem Kopf schlurfe ich durchs Wohnzimmer, wie ein Verbrecher, dabei habe ich mir doch nur den Hals verrenkt.
Dana, die Künstlerin, malt wieder ihre Bilder. Ich will sie auch gar nicht stören. In letzter Zeit hat sie nicht viel geschafft, nur ein, zwei Bilder jede Woche.
Dana malt mit Dreck, den sie von der Straße holt und dann, vermischt mit Regenwasser, auf die weiße Leinwand klatscht, und manchmal sind im Regenwassers noch ein paar Tränen, die sie offenbar hinter ihren Augen züchtet.
Wo im Kühlschrank Bier sein sollte, ist nur Staub, gekühlter Staub. Als ich Dana darauf anspreche, sagt sie, sie hätte es der Kleinen, mit der ohnehin etwas nicht in Ordnung sei, in die Schnabeltasse gefüllt. Damit sie endlich Ruhe gebe. Weil wir doch kein fließend Wasser hätten. Und sie den geschmolzenen Schnee für ihre Bilder brauche. Außerdem sei der ja von den Autos schwarzverfärbt, was ihr allerdings bei ihrer Arbeit sehr entgegenkomme. So Dana, mit ihren vom Reden rotverfärbten Wangen, die überdies gerade graue Iglus malt. Was mich an Igel ohne Stacheln denken lässt, die sich in den Schnee gekauert haben.
Auch der Schnee um die Iglus herum ist grau. Nicht einheitlich, sondern unterschiedlich grau, wie ein verblichenes Schwarzweißfoto, wie eine beliebige Katze in der Nacht.
Und da, wo die Schatten sind, ist der Schnee sogar noch ein bisschen dunkler, fast schwarz. Dana sagt, am Nordpol gebe es gar keine Schatten, nicht im arktischen Winter. Die schwarzen Flecken, das sei verbrannter Schnee. Ein Symbol für die globale Erderwärmung, ein Plädoyer für alternative Energien, was weiß ich. Sie will es mir nicht sagen.
In der linken Hand hält sie eine Zigarette, mit der anderen führt sie den Pinsel, taucht ihn nach jedem Strich in einen Suppenteller, der bis zum Rand mit Asche, Schnee und Matsch gefüllt ist. Ihre Hand zittert schon die ganze Zeit, an den Rändern haben alle Iglus kleine Zacken. Das Zittern ihrer Hände macht sie mir verdächtig, vielleicht hat sie das Bier doch selbst getrunken. Schließlich schreit die Kleine immer noch.
Auf Danas Bildern ist es immer Nacht, der Himmel schwarz verfärbt von der Asche ihrer Gauloises. Und die Sterne, das sind kleine Brandlöcher im oberen Teil der Leinwand, die sie auch mit ihrer Zigarette macht. Als ich ihr sage, dass mir das Bild gefällt, sagt sie: Ich denke, ich werde es dir schenken. Bald ist doch Weihnachten.
Und wäre ich nicht so gefühllos und sauer wegen der Sache mit dem Bier, dann würde ich sie nun vielleicht umarmen oder weinen oder einfach in ein anderes Zimmer gehen, um allein zu sein. Weil ich ihr nicht sagen kann, dass wir mit dem Rücken zur Wand stehen. Und an ihr festhängen. Weil wir Igel sind und die Wand eine Pinnwand ist.
Dana mag es nicht, wenn ich ihr beim Malen zusehe. Das macht sie immer ganz nervös. Weil ich mich, angeblich, immer lustig über ihre Bilder mache. Im Kreise meiner Saufkumpanen. Das mag schon sein. Allerdings bin ich nicht ich, wenn ich betrunken bin, was eigentlich schlecht formuliert, weil widersprüchlich, ist.
Immer noch hält mir Dana beispielsweise vor, den Fernseher unbedacht verkauft zu haben. So, nämlich ohne Fernseher, werde das Kind nie richtig sprechen lernen, da sie selbst zu beschäftigt sei, um mit dem Kind zu reden und ich zu betrunken.
„Da fehlen Leute auf dem Bild“, sage ich, um abzulenken. Aber Dana hört mir gar nicht zu. Vielleicht sind die Leute auch einfach gestorben und begraben unter dem Schnee, oder sie sind weggezogen, in ein schöneres Bild mit Farben und allem Drum und Dran. Den Gedanken spreche ich natürlich nicht laut aus.
Vor einigen Wochen, als wir den Fernseher noch hatten, habe ich einen Film über Eskimos gesehen. Die Eskimos, die eigentlich ganz anders und auch nur aus Gründen der Diskriminierung Eskimos heißen, kennen angeblich dreißig verschiedene Worte für Schnee. Weil es da, wo sie leben, so viel davon gibt. Alles ist da aus Schnee, sogar die Betten und die Kleiderschränke und in schlechten Zeiten auch das Essen.
Dana hat gesagt, sie kennt dreißig Worte für Dreck.
Das hat auf mich großen Eindruck gemacht. Womit ich vor allem ihre Schlagfertigkeit meine. Alles Weitere und Tiefergehende ist mir sowieso entgangen.
Dreck. Das war auch einer der Gründe, warum Dana mich geheiratet hat. Ich arbeitete nämlich draußen auf der Müllhalde, was mich sozusagen beruflich mit dem Dreck zusammenbrachte. Ich war für den Rand zuständig. Mit dem Schaufellader fuhr ich an den Markierungen entlang und sorgte dafür, dass der Müll den abgesteckten Bereich nicht verließ. In den Mittagspausen schrieb ich Gedichte, mit einem schwarzen Filzstift auf die zerknitterten Tüten, in die der Bäcker die Brötchen tat. Ich musste am Logo der Bäckerei vorbeischreiben, was meine Arbeit seither sehr stark beeinflusst hat, auch im übertragenen Sinn.
Wenn ich so am Rand entlangfuhr, suchte ich immer schon den Müll mit Adleraugen ab, ob etwas dabei war, was Dana für ihre Arbeit verwenden konnte. Wenn ja, nahm ich den betreffenden Gegenstand einfach mit, was eigentlich gegen die Vorschrift verstieß. Meist waren das nur kleinere Dinge, zerfetzte Bilderbücher oder durchsichtige Plastikfolien, in denen Essen eingewickelt war. Vor zwei Tagen wurde ich erwischt. Mit zwei Eimern giftiger Farbe. Tja, hat der Chef gesagt und dabei langsam mit dem Kopf genickt. Ich fragte, ob ich wenigstens die Eimer behalten dürfe, als Abfindung sozusagen.
Die Antwort war recht knapp formuliert und auch sehr barsch.
Dana weiß noch nichts davon.
In der Küche schreit die Kleine und ich denke, sie wird wohl Hunger haben. Und dann denke ich, dass wir alle Hunger haben, und dass es eine tolle Sache wäre, wenn wir unsere Mietschulden einfach essen, oder auch den Hunger gegen Bier eintauschen könnten.
Dass uns das Geld auch immer gerade im Winter ausgehen muss. Es kommt einem ja so vor, als müsse man zu allem Übel auf die Kälte und den Schnee noch draufzahlen.
Ein Blick in Danas tieftraurige Tiefseeaugen bringt mich zu der verzweifelten Frage, ob man Igel züchten kann, ob ihr Fleisch genießbar und wie das mit den Stacheln ist und ob man sie in jedem Fall am besten grillt, wie es der Nachbar den ganzen Vormittag schon demonstriert.
Dana sieht mich an wie einen Gullischacht, so, als hätte sie etwas in mir verloren, ein bisschen Kleingeld oder mehr. Und ich sehe, dass sie dasselbe denkt wie ich, dass sie von denselben Bildern träumt, dass auch sie Nacht für Nacht an zwei große grüne Tonnen denkt, und an eine dritte, kleinere, die wohl für unsere Tochter ist.
Und dann sehe ich ihr dabei zu, wie sie den Pinsel eintunkt in das Gemisch aus Auspuffqualm und Erde und pampigem Schnee und dabei lächelt, als wäre sie auf Drogen, und in diesem Moment weiß ich, dass wir es vielleicht doch noch schaffen können, das Jahr rumkriegen, irgendwie, zur Not auch zu dritt, zur Not auch ohne Bier.
Ich sage: „Ich habe ein Gedicht für dich geschrieben“, und halte ihr den Einkaufszettel hin. „Weihnachten und so, du weißt schon.“
Iglu
Über uns
Schnee
Und um uns
Schnee
Aus, weg. Los.