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Pluralis Majestatis
Es war einmal ...
... ein König, der über ein kleines Reich hoch oben in den Bergen herrschte. Sein Schloss lag auf einem sturmumtosten Berggipfel, auf dass der König sein ganzes Reich überblicken konnte. Einst hatten grüne Wiesen und weite Wälder seine Berghänge geschmückt, doch nun hielt der Ewige Winter das Land in seinen eisigen Klauen, und selbst das Schloss des Königs, welch bodenlose Frechheit, bestand nach so vielen Jahren des Winters nur noch aus Schnee und blitzendem Eis. Schuld trug nur die Winterhex‘, die den Ewigen Winter über sein Reich gebracht hatte, weil der Alte König, des Königs‘ Onkel, seinerzeit die Winterhex‘ mit einer unbedeutenden Kleinigkeit verärgerte. Sie war zu dieser Zeit auf Wanderschaft und bat im Schloss des Alten Königs um ein Lager für die Nacht.
„Mein edler Herr, haben Sie eine Unterkunft für eine von der langen Reise erschöpfte Hexe?“
Der Alte König, der ein jähzorniger Geselle war, hatte schon vor dem Mittagessen seinen Obersten Kammerdiener hängen lassen, weil dieser sich erdreistet hatte, ihm ein Mahl entsprechend des Diätplanes des Hof-Quacksalbers vorzusetzen. Danach war freilich das Küchenpersonal eingeknickt und hatte ihm in panischer Hektik ein Mahl zubereitet, das eines Königs würdig war. Doch der Alte König war immer noch erzürnt ob einer derartigen Impertinenz, und als die Winterhex‘ ihr Anliegen vortrug, lief er dunkelrot an und schrie:
„Eure Hoheit!“, dass die Dachbalken des Audienzsaales wackelten und feine Staubkörnchen leise zu Boden rieselten.
„Oh nein, werter Herr, ich bin keine Hoheit, nur eine bescheidene Hexe aus dem Geschlecht der Wetterhexen“, sprach die Winterhex‘ und lächelte gütig. Der Alte König knirschte mit den Zähnen, sein Gesicht war nun violett vor Zorn und die gezwirbelten Enden seines königlichen Schnauzers bebten.
„WIR sind Eure Hoheit!“
Die Winterhex‘ sah ihn nachdenklich an und sagte dann achselzuckend:
„Nein danke, werter Herr, mit Ihnen über dies‘ Land zu herrschen, würde sicher ... interessant, aber ich habe schon den Ewigen Winter in meinen Diensten und über ihn zu herrschen, ist mir Arbeit genug.“
Der König schnappte einen Moment nach Luft und stürzte dann in wilder Raserei von seinem Thron auf die Winterhex‘ zu. Sein Gesicht war eine wutverzerrte Grimasse. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, als er knurrte:
„Wir verlangen, dass Sie uns angemessen anspricht! Die korrekte Anrede lautet ‚Eure Hoheit‘, und Ihre Frage muss heißen: ‚Eure Hoheit, habt IHR eine Unterkunft?‘“
Die Winterhex‘ starrte ungerührt in des Königs‘ lodernde Augen.
„Heißt das Ja oder Nein?“
Der König zuckte zurück und blickte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Dann brüllte er:
„Wache! Werft dieses Ungeziefer in den Kerker!“
Die Winterhex‘ lachte gackernd.
„Der werte Herr glaubt, er könne eine Wetterhexe einsperren?“
Sie grinste breit, immer breiter, bis ihre Mundwinkel hinter den Ohren verschwanden, ihr Gesicht lief grün an und die Haare standen ihr zu Berge.
„Der werte Herr scheint nicht gänzlich gesund zu sein, denn er glaubt, er sei mehr als einer! Eine Abkühlung scheint mir angebracht für dies‘ aufbrausende Temperament, das in der Tat für seiner drei genügte. So möge die Kälte seine Krankheit wohl kurieren.“
Der König sprang vor Zorn auf und ab, und brüllte: „Genug! Hinfort mit Ihr!“
Die Wachen ergriffen die Winterhex‘, doch diese lachte schrill und fing an, sich zu drehen, drehte sich immer schneller, bis ihre Schuhe qualmten und rief dabei:
„Winter, Ewiger Winter, mein,
Komm und brech‘ über dies Land herein!
Weiche nicht, bis gesund der König sei,
Oder höflich zur Hex‘, das ist einerlei!“
Dann verschwand sie mit einem Knall in einer grünlichen Rauchwolke und ward nicht mehr gesehen, bis ein Jahr vergangen war. Dann erschien sie wieder vor dem Alten König und brachte ihr Anliegen vor:
„Mein edler Herr, haben Sie eine Unterkunft für eine von der langen Reise erschöpfte Hexe?“
Der Alte König war schlecht gelaunt und jähzornig wie eh und je, denn er fror seit einem Jahr ohne Unterlass. Und so lief er dunkelrot an und schrie:
„Eure Hoheit! Es heißt Eure Hoheit!“, dass die Dachbalken des Audienzsaales wackelten und kleine Eiszapfen klirrend zu Boden fielen. „Ergreift sie!“
Die Winterhex‘ lachte höhnisch und verschwand wieder mit einem Knall.
So trug es sich Jahr um Jahr zu und das Land ächzte unter Schnee und Eis. Eines Tages starb der Alte König. Seine schiere Leibesfülle hatte sein ohnehin schon kleines Herz schlichtweg erdrückt. Vielleicht hatte auch ein erboster Diener ein wenig nachgeholfen. Die beiden Söhne des Alten Königs waren ebenso jähzornig wie ihr Vater. Sie überlebten das darauffolgende Machtgerangel um die Nachfolge auf den königlichen Thron nicht, das unter Einsatz von Intrigen, Giftmischern und Auftragsmördern geführt wurde. Und so kam es, dass der Neffe des Alten Königs sein Nachfolger auf dem königlichen Thron wurde, obwohl er mit seinen achtunddreißig Jahren als Berufseinsteiger in dieser Branche eigentlich schon zu alt war.
Über ein Reich zu herrschen, das seit Jahrzehnten unter Schnee und Eis begraben lag, war eine äußerst undankbare Aufgabe für den frischgebackenen König. Das Volk war erbärmlich geschrumpft, denn das Land gab zum Leben nicht mehr viel her. Die Wälder waren im Auftrag des Alten Königs fast gänzlich abgeholzt worden, um im Schloss gegen die immerwährende Kälte anzuheizen. Und so gab es außer Schnee und Eis nicht mehr viel, über das der König herrschen konnte. Daher verbrachte er viel Zeit in der königlichen Bibliothek und fand schließlich Berichte aus der Zeit vor seiner Geburt, die die grünen Wiesen und die weiten Wälder des Reiches rühmten. Der König wunderte sich, woher der Ewige Winter gekommen sein mochte, doch er fand keine Aufzeichnungen aus der Zeit, nachdem derselbe über das Land gekommen war. Vermutlich lag es daran, dass selbst die Tinte in den Federkielen gefror.
Und so saß er betrübt und gelangweilt auf seinem Thron und wies die Winterhex‘ Jahr um Jahr mit einer vagen Handbewegung ab, nicht ohne sie auf die korrekte Anrede mit dem Pluralis Majestatis aufmerksam gemacht zu haben, wie es in seinem Reich seit jeher Brauch war.
Die Winterhex‘ war des Wartens inzwischen überdrüssig und mit jedem Jahr, das ins Winterland ging, wurde sie gereizter. Im einundsiebzigsten Jahr des Ewigen Winters erschien sie wieder mit einem Knall in ihrer grünlichen Rauchwolke, direkt vor dem königlichen Thron im großen Audienzsaal, auf dem der König gerade ein Nickerchen gemacht hatte, denn es gab seit Jahren niemanden mehr, der zur Audienz erschien. Er schrak hoch und ließ sich dann erleichtert in die samtenen Kissen seines Thrones zurücksinken.
„Ah, Sie ist es“, sprach er. „Was will Sie? Die Gemächer für Gäste sind schon seit Jahren verschlossen. Es gibt kaum noch Holz, um sie zu beheizen, und keine Lakaien, um sie in Stand zu halten. Mein Hofstaat ist nur noch in den nötigsten Positionen besetzt. Das sagten Wir Ihr schon bei der letzten Audienz!“
Die Winterhex‘ blickte ihn säuerlich an und murrte: „Ich sitze nun schon einundsiebzig Jahre hier fest und keiner von euch königlichen Eseln ist in der Lage, mir den Respekt entgegen zu bringen, den ich verdiene! Woher, in drei Teufels Namen, kommt dieser euch eigene Hochmut? Du und deine königliche Sippschaft, was habt ihr schon Großes geleistet?“
Der König, der eben noch gelangweilt mit den Strähnen seiner Perücke gespielt hatte, lehnte sich nun interessiert vor.
„Sie glaubt, Sie verdiene Unseren Respekt? Sie ist nur eine alte Frau, die kein Obdach findet, eine Heimatlose. Wir sind der Herrscher dieses Reiches! Warum also sollten Wir Ihr Respekt zollen? Und im Übrigen heißt es nicht ‚du‘ und ‚deine‘, sondern ‚Ihr‘ und ‚Eure‘.“
„Weil ICH den Ewigen Winter befehlige! ICH habe Schnee und Eis über dies‘ Land gebracht, vor so vielen Jahren! Was ist dagegen die Herrschaft über dein kümmerliches, kleines Land?!“, zeterte die Winterhex‘ aufgebracht. „Und auf eure lächerlichen Anrederegeln habe ich schon immer gepfiffen!“
Der König, der ein besonnener Mann war, lehnte sich in seinem Thron zurück und betrachtete die Winterhex‘ eine Weile, dann schüttelte er traurig den Kopf und sagte:
„Wir glauben Ihr nicht. Wir wünschten, es wäre so einfach. Nur einen Menschen, oder vielmehr eine Hexe für diese eisige Hölle verantwortlich machen zu können. Doch das Wetter hoch oben am Himmel entzieht sich seit jeher der Einflussnahme der Menschen hier unten auf Erden.“
Die Winterhex‘ starrte den König entgeistert an. Das Entsetzen über diesen logischen Fehlschluss grub sich immer tiefer in ihre Züge.
„Aber ... aber ich bin die Winterhex‘! Aus dem Geschlecht der mächtigen Wetterhexen! Du musst mir glauben! Ich ... ich beweise es!“, rief sie und verschwand mit einem Knall, um dann mit einem weiteren hinter dem königlichen Thron wieder aufzutauchen. Der König zuckte zusammen und sagte verärgert:
„Unterlasst diese Kindereien! Jede Wald- und Wiesenhexe beherrscht diese kleinen Tricks.“
Die Winterhex‘ ballte zornig die Fäuste.
„Du Ungläubiger bist noch schlimmer als der Alte, der nahm mich wenigstens ernst genug, um mich einsperren zu wollen!“
Der König hob die Augenbrauen und sagte dann langsam: „Nun gut, Wir spielen mit. Wenn es der Wahrheit entspricht, was Sie sagt, so müssten Wir Sie doch einfach nur töten, und der Ewige Winter würde mit Ihr verschwinden, nicht wahr?“
Die Winterhex‘ sah ihn mit großen Augen an, dann stahl sich ein Lächeln auf ihre Züge.
„Sie haben Recht! Beim pferdefüßigen Gehörnten! Sie haben Recht, werter Herr! Töten Sie mich, und der Ewige Winter wird Ihr Land verlassen. Und ich werde endlich frei sein!“
Der König, der, seit Jahren fürchterlich gelangweilt, langsam Gefallen an diesem Spielchen fand, sah der Winterhex‘ amüsiert zu, wie sie, mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht, vor dem Thron auf und ab ging und leise vor sich hin murmelte, die Hände in feinen Gesten immer in Bewegung. Er zog sein königliches Messer und betrachtete liebevoll den smaragdbesetzten Griff. Mit einem großen Satz war er bei der Winterhex‘ und hielt ihr das Messer an die Kehle. Die Winterhex‘ grinste, ihre Augen leuchteten.
„Worauf wartet Ihr, werter Herr? Tut es, macht schon! Ich will endlich wieder frei sein!“
Der König sah die wilde Entschlossenheit in ihren Augen, und das amüsierte Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Entsetzt trat er einen Schritt zurück und sprach leise: „Bei Allem, was heilig ist, Sie meint es ernst!“
Die Winterhex‘ stürzte auf ihn zu und klammerte sich verzweifelt an seine Gewänder.
„Ich flehe Euch an, befreit mich, ich halte diese Warterei und Langeweile nicht noch ein weiteres Jahr aus!“
Der König lächelte nun und sagte:
„Da sieh‘ einer an, Sie hat den Pluralis Majestatis verwendet. Wie wundervoll klingt es in Unseren Ohren! Wir danken Ihr für diesen selten gewordenen Genuss. Wir haben zwar keine Gastgemächer in bewohnbarem Zustand, doch einer Unsrer Diener ist auf Urlaub in der Südsee und seit einem Mond schon überfällig. Wir fürchten, er wird nicht in Unser eisiges Reich zurückkehren. Dennoch wird sein Quartier im Dienstbotentrakt bereit gehalten, Wir hätten also ein freies Gemach für Sie, wenn Sie es wünscht.“
Die Winterhex‘ konnte ihr Glück kaum fassen und begann freudig im Audienzsaal umher zu tanzen. Der König sah ihr lächelnd zu und ließ einen Lakaien kommen, der die Winterhex‘ in ihr Gemach führte.
Am nächsten Morgen wachte der König ungewöhnlich früh auf. Ein Sonnenstrahl kitzelte ihn an der Nase. Verwundert trat er ans Fenster und traute seinen Augen kaum. Von sämtlichen Dächern tropfte es, im Innenhof hatte sich ein beachtlicher See gebildet und durch den Abfluss in der Außenmauer ergoss sich ein rauschender Sturzbach ins Tal. Der König schloss die Augen und genoss die wärmende Sonne auf seinem Gesicht. Dann fuhr er plötzlich herum und stürzte zur Tür hinaus.
„Sie hat die Wahrheit gesagt!“, rief er und packte den ersten Diener, der ihm über den Weg lief, am Kragen. „Wo ist die Hexe, die Wir gestern im Dienstbotentrakt untergebracht haben?! Bringt sie zu Uns, Wir müssen ihr danken! Sie hat Unser Reich vom Ewigen Winter befreit!“
Der Diener sah ihn erschrocken an.
„Sie ist fort. Als man ihr das Frühstück bringen wollte, war das Zimmer leer. Man fand nur ein kleines Birnbäumchen in einem Topf auf dem Tisch.“
Der Ewige Winter war mit der Winterhex‘ verschwunden und das Reich des Königs erholte sich schnell. Bald waren die Wiesen wieder grün, die Menschen kehrten zurück und in den gerodeten Wäldern sah man junge Bäume gen Himmel streben. Der König ließ den Birnbaum der Winterhex‘ im Schlosshof einpflanzen, und er wies niemals wieder jemanden ab, der um eine Unterkunft bat. Der Pluralis Majestatis wurde als höchste Form der Höflichkeit und Ehrerbietung in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen. Der König jedoch, der den Pluralis Majestatis als kulturelles Erbe und wohlklingende Veredelung der Sprache liebte, stellte seinen Untertanen den Gebrauch desselben frei, denn er glaubte, nur ein freier Geist sei auch ein edler Geist. Das Gemach der Winterhex‘ blieb bis zu seinem Tod stets für sie frei, doch sie besuchte das Reich des Königs nie wieder. Noch heute tanzen die Menschen zum Beginn des Frühlings um den knorrigen, alten Birnbaum, um die Winterhex‘ zu ehren, die den Ewigen Winter aus dem kleinen Land verschwinden ließ.