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Plattform, offen
Plattform, offen
<Thunder_1987: Sich das Ohr abzuschneiden! Du bist echt krank. Macht Dich übrigens auch nicht hübscher, Alter! *lol* Und was kommt als nächstes? Zunge ab und ins Rest-Ohr stecken? *roflrofl* Trotzdem: Freue mich schon auf Euer nächstes Video!>
(dpa) Nicht nur das Internet-Publikum ist erschüttert: Nach der Veröffentlichung einer Reihe höchst makabrer Video-Späße fordern erste Politiker, frei zugänglichen Publikationen im Netz engere Grenzen zu setzen. Filme sollten verboten werden, wenn sie die Menschenwürde verletzen, das sagte Familienministerin …
Es ist grauenhaft öde, und der Fernseher rotzt bunte Bilder. TV Total ist bereits vorbei, vorbei die kleinen Einspieler, in denen ihre Protagonisten sich sensationell blamieren. Die Nachrichten laufen. Bomben. Anschläge. Hunger. Steuerdebatte.
Die Bilder zucken ins kleine Zimmer. Farbenstakkato. Unruhige Schatten wirft das Interieur: mein Bett, der Schreibtisch, mein Bett. Staubflimmernde Scherenschnitte an der Wand, Schemen, die nach Bruchteilen von Sekunden wieder vor dem Auge vergehen.
Der Computer ist an. Matt strahlt der Bildschirm auf Tobis Gesicht. „Kennst du das hier?“ fragt er in den flachen Screen hinein. Ich schaue über seine Schulter. YouTube. Zwei Minuten Film. Zwei Frauenbeine in Sneakers, gefilmt aus der Froschperspektive. Im Hintergrund der Sound einer Motorsäge, lauter werdend, kurz ein Schrei, Blut schießt kreuz und quer. Plötzlich kippen die Beine auseinander, eins fällt nach links weg, eins nach rechts. Zwei langhaarige Typen kommen ins Bild, der eine schnappt sich ein Bein, der andere schleift den übrigen halben Körper mitsamt dem zweiten Bein davon. Tobi lacht. Der Filmtitel erscheint: „Wrong Turn 2 - Dead End“.
„Heftig“, sage ich. „ Was da offen gezeigt wird, durfte früher nicht mal unter der Ladentheke verkauft werden.“ Tobi verzieht das Gesicht zu seinem Jura-Studenten-Grinsen. „Aber erkennbar ein Fake. Das schockt nur Sekunden. Danach siehst du, dass es nur’n müder Witz war.“ Tief holt er Luft. „Wenn sich jemand wirklich für eine Filmszene verletzt – das hätte was!“
„Aber das gibt’s doch“, wende ich ein. „Ein paar Schauspieler machen das. Robert de Niro. Oder Christian Bale in ‚Der Maschinist’ – der hat sich für seine Rolle bis auf die Knochen heruntergehungert. Wirklich: bis auf die Knochen.“ Tobi pustet durch gespitzte Lippen. „Klar, Method Acting. Für die Rolle alles geben. Aber geben die wirklich alles? Verletzten die sich wirklich? Dauerhaft? Gehen die bis zum Äußersten?“ Er wischt sich über den Mund. „Machen sie nicht. Sie geben nicht alles.“
„Und du?“ wende ich ein. „Würdest du’s tun? Für einen Film ernsthaft verletzen?“ Er schaut mich an. „Wenn’s Ruhm und Ehre bringt – du nicht?“
<Nadine_19: Ihr traut euch was! Weiter so! Kuss_da_lass! :-*>
… ist schrecklich, weil es auch schrecklich faszinierend ist. Nie war es wichtiger, genau aufzupassen, wie unser Nachwuchs mit dem in jeder Hinsicht atemberaubenden Angebot im Internet umgeht. Wir müssen, wie oft gefordert, nun wirklich endlich genauer hinschauen – und notfalls Verbote aussprechen …
Ein Kameraauge. Kristallen-kalt glotzt das Objektiv. Die Klappe mit dem kleinen Monitor steht offen wie ein gespreizter Daumen, der nicht schlüssig ist, ob er nach oben oder unten zeigen soll. Die Sonne grinst. Außen. Tag. Straßencafé.
Im Kontrollmonitor der Videocam: ein Glatzkopf, ein schweißnasser kahler Schädel. Die Haare hatte ich mir ebenfalls vor laufender Kamera abrasiert. Gefängnisfilm-Horrorshow. Wie in „Midnight Express“. Proper rough stuff. Das kalte Eisen an der Kopfhaut hatte wie ein Messer gestochen. Sanft glitt das blonde Samt ins Gesicht, kitzelt subito an Nase, Wangen, Kinn.
Nun noch schnell die Beine rasieren, die Arme, die Brust. Als das Scherwerk erledigt ist, ein fröstelnder Blick auf sich selbst – und: ganz langsam mit dickstem Edding die Farben auftragen. Und dann: raus in die Welt – the stage is mine.
Bevor ich aber all das tat, hat Tobi vorgelegt. Er hat’s wirklich getan! Grinsend winkt er in das Objektiv. Der weiße, saubere Frottee-Bademantel weht im Nachmittagswind. Zoom auf die Badelatschen, die über Asphalt schlurfen, auf die Schiebetür zu. Entgeisterte Blicke einiger Passanten, die ebenfalls den ALDI betreten wollen. Den Strand-Bastkorb in die Höhe bugsierend, geht Tobi durchs Drehkreuz in den belebten Discounter. Es ist Rush Hour.
Zielstrebige Schritte zur Tiefkühltruhe, schmatzend stoppen die Flip Flops. Tobi schaut in die Kamera, vergewissert sich, ob er bereits Publikum hat. Zwei ältere Damen gucken verstohlen, als er ein Badetuch aus dem Korb fischt, eine Flasche Sonnenmilch, einen tragbaren CD-Player. Unter dem Bademantel kommt ein lächerlicher Tiger-String zum Vorschein. Dann öffnet Tobi die riesige Truhe, breitet das Handtuch sorgfältig auf Pizzen und Tiefkühl-Gemüse aus. Ein Pärchen bleibt jäh stehen, ein paar Kinder lachen grell. Kurz tut Tobi so, als würde er sich eincremen; und bevor er sich in die Truhe legt, auf das Tuch mit der brünetten Beach Beauty, schaltet er Musik an.
„Wenn’s Ruhm und Ehre bringt – du nicht?“ fragt Tobi. Sein Gesicht hellt sich jäh auf. „Heute kann doch jeder Depp schlagartig berühmt werden, wenn er sich mit einer spektakulären Idee präsentiert.“ Tobis Augen weiten sich. „Man muss es nur filmen – und auf YouTube schaut die ganze Welt zu.“ Ich starre ihn an, dann bricht es aus mir heraus: „Alter…, das ist es! Ein Wettbewerb – ein Duell! Wir beiden messen uns öffentlich: Wer geht weiter? Wer übertrumpft den anderen? Wer verletzt sich mehr und spektakulärer?!“ Ich schreie fast. „Der eine filmt den anderen. Und wir versuchen, uns dramaturgisch zu steigern! Noch witziger, noch schräger, noch krasser!“ Tobi schaut fort, schweigt, massiert sein Kinn. Dann schaut er mich an: „Was bekommt der Sieger?“
Es wimmelt von nachmittäglichen Müßiggängern, die sich gelangweilt einem Sonnebrand und einem heißen Kaffee aussetzen. An einem der kleinen Tische strecke ich meine Beine aus, die junge Kellnerin kommt, und sich sehe, wie die hinter einem Schirm halb verborgene Kamera schelmisch blinzelt. Tobi zoomt. Zoom auf mich – ich bestelle: Bienenstich. Als die Kleine das Kuchenstück schließlich serviert und wieder abschiebt, ziehe ich das Hemd aus, dann die Hose.
Sofort starren sie. Ein verborgenes, ungläubiges Mustern, kurz nur direkt, dann wenden sich die Blicke weg. In den Augenwinkeln sehe ich, dass sie mich nach wie vor versteckt wahrnehmen, dass sie versteckt gaffen. Ein aufgewühltes Schimmern gläserner Augen, ein Pupillen-Tremolo.
Natürlich betrachten sie neugierig den bemalten Körper: die alternierend schwarzen und gelben Bahnen am nackten Kopf, an Oberkörper und Beinen. Auch die Badehose ist schwarz-gelb. Ein kurzer Druck auf den CD-Player auf dem Tisch und der Song ertönt: „Und diese Biene, die ich meine, die heißt Maja…“. Ein weiterer Druck auf den Deckel des Glasgefäßes. Dann schwärmen Bienen und Wespen aus, verteilen sich einer Rußwolke nach plötzlichem Feuer gleich an den Tischen mit ihren gesüßten Getränken und Backwaren im Café der Fußgängerzone. In das schwirrende, aufgewühlte Gesumm mischen sich, lauter werdend, empörtes Brummen, spitze Schreie. Und schließlich das schnarrende Signalhorn der Polizei.
Im ALDI müssen die Beamten gegen Hawaii-Musik anschreien. „Kommen Sie – da – raus – augenblicklich!“ Das gestoßene Bellen vermengt sich mit Ukulenen-Glissandi und zarten, gurrenden Frauenstimmen: „Kukurukukuu …“ Uniformierter Unmut trifft Honolulu-Hula-Sound. Mit einem bösen Schlag bringt ein bulliger Polizist das Radio zum Schweigen. Noch eine halbe Stunde lang gelingt es Tobi, in der Kühltruhe zu bleiben. Dann schneiden Einsatzkräfte die an Händen, Füßen und Griffen befestigten Stahlfesseln durch. Mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch und scheußlichen Verkühlungen kommt er ins Krankenhaus. Ich, sein Begleiter mit der Kamera, werde ebenfalls festgenommen.
Erregung öffentlichen Ärgernisses, ja, gefährliche fahrlässige Körperverletzung – die Bilanz der Biene-Maja-Aktion ist sogar noch beeindruckender. Gleich nach dem Öffnen des Glases hatten die Insekten nicht nur mich, den gelb-schwarz gestreiften Cafégast, gepiesakt – ihre Stachel bohrten sich auch die Haut anderer Herumsitzender. Noch bemerkenswerter: Eine Woche nach dem Einstellen bei YouTube hat das Filmchen „Operation Bienenstich“ bereits 853.201 Klicks. Tobis Spektakel „Ice on the Beach“ kommt immerhin auf rund 700.000 Zuschauer. Die Runde geht an mich.
<Nightwish_Berlin: Ihr seit doch foll arme Spakken! Was ihr macht kann jeder! Get a life – oder macht mal was das si noch keina getraut hat!>
… fragt man sich schnell nach dem Sinn. Was soll das ganze sein? Gesellschaftskritik? Kunst? Ein Pennälerstreich? Jackass reloaded, eine Neuauflage also jener nihilistisch-hedonistischen Fakir-Video-Parade aus den später 90er-Jahren? …
„Du bist der Sieger. Also musst du die zweite Runde beginnen.“ Tobi lächelt und knetet seine lädierte Hand. „Und natürlich müssen wir uns steigern – wie besprochen. Hast du schon eine Idee?“ Ich betrachte die unbeweglichen Glieder seiner beiden abgefrorenen Finger, und als ich ganz leicht die Stirn runzele, summt ein heißer scharfer Schmerz von Schwellung zu Schwellung in meinem zerstochenen Gesicht. „Oder sollen wir lieber aufhören?“ fragt Tobi. Nur einen Moment lang zögere ich, schüttle den feuerrot gefleckten Kopf. „Nein, wir ziehen’s durch. Es war unsere Idee – und wir machen’s. Sonst tun es andere …“ Tobi grinst, scheint über die Formulierung nachzudenken. Dann schlägt er mir kameradschaftlich auf die Schulter.
Hämisch zwitschern die Spatzen gegen das Grundrauschen der Stadt an. Tauben watscheln hyperlebendig und sinnfrei hin und her, scheißen wieder und wieder weißes Sekret auf den toten Asphalt. Touristen wimmeln über den Pariser Platz, Foto, Foto, Foto, Foto, Foto, Foto. Die Videocam blickt stolz und dumm auf dem Stativ. Neben dem Metallgestell: eine Staffelei. Eine Leinwand, auf gleicher Höhe mit der Kameraoptik. Museumsvorplatz. Außen. Tag.
Ich sitze, trage einen grünen, dicken Mantel, der am obersten Knopf geschlossen ist. Auf dem Kopf, der Hitze trotzend, eine blaue Baskenmütze, vorn filzige Stoffbüschel. Und in der Hand, demonstrativ sichtbar, eine große Geflügelschere.
Die Leinwand zeigt ein bekanntes Gemälde. Grobe, dicke, unruhige Striche. Einige Touristen bleiben stehen, knipsen die Staffelei ohne Maler, das fertige Ölbild – und die noch nicht vollendete Performance von mir, dem vermeintlichen Objekt der Darstellung.
Als ich dann aufstehe, mit der Schere schnipse und so laut rufe, dass man es gewiss in der Akademie der Künste hinter mir und wohl auch im Hotel Adlon nebenan hören kann, bildet sich eine Menschentraube. „Meine Damen und Herren“, schreie ich, „das Leben … ist voller Überraschungen!“ Einige rücke einen halben Schritt näher, der Sicherheitsabstand zu mir jedoch bleibt. „Bis jetzt war ich immer ganz Ohr“, rufe ich. „Bis mir bewusst wurde, dass mir niemand zuhört“, ich setze mich, bringe die Schere in Position, registriere Tobis aufmerksames Gesicht hinter der Kamera. „Und darum höre ich euch allen ab heute auch nur noch mit halbem Ohr zu.“
Entsetzte Stimmen, gellende Schreie, gellender Schmerz, das Blut schießt, ich falle vornüber, sehe unweit von mir die abgetrennte Ohrmuschel, mir wird schlecht. Schwarz wird schwärzer. Ich gleite in einen dunklen Strom, sehe nichts mehr, höre Schreie, Schreie, Schreie, gedämpfter, immer gedämpfter, und ganz schwach schließlich die Sirene des Ambulanzwagens.
Menschen ergießen sich über die Einkaufspassagen der Ruhrgebietsstadt. In alle Richtungen fließen die Massen, nahezu gleichmäßig schwappen sie in die Geschäfte, teilen sich zwischen kleinen Blumenbeeten, Bänken, zwischen einem Brunnen, den kein Wasser mehr speist und in dem sich eine tote, abgestandene Pfütze kräuselt. Essen-City. Ein Einkaufssamstag. Shopping-Parade.
Wir befinden uns auf einer kleinen Erhebung. Breite Treppen führen zu unserer Betonplattform. Hinter uns, auf gleicher Höhe, zwei Restaurantketten, „Maredo“ und „Louisiana“, vor denen Gäste an dürrbeinigen Tischen sitzen.
Auch Tobi und ich haben eine kleine Campinganrichte aufgestellt, darauf ein weißes Tischtuch, ein weißer Teller und makelloses Besteck. Ich zünde eine Kerze an. Tobi steht auf und greift zum Megaphon.
„Liebe Leute, liebe Konsumenten“, krächzt er durch die Membran der Sprechmuschel. „Wir alle lassen uns das Leben schmecken. Wir verzehren uns nach immer mehr, nach immer neuem. Ihr wisst das – ich auch. Aber ich möchte euch jetzt zeigen, was das heißt!“
Ich schwenke die Kamera auf eine größer werdende Menschengruppe. Jäh bleiben weitere Passanten stehen, schauen irritiert zu uns auf. Mit großer Geste winkt Tobi den Leuten zu, reckt den Finger pathetisch gen Himmel. Majestätisch hebt er das Kinn und beendet seine pseudo-missionarische Ansprache mit ridikülem Tremolo in der Stimme: „Der Filmregisseur Werner Herzog aß einst seinen Schuh – nun, ich gehe weiter …!“
Er setzt sich, krempelt die Hose empor. Ein mit schwerer Schnur bereits abgebundenes Bein schaut hervor, blau angelaufen und beinahe schwarz um die Einstichstelle, in die sich Tobi das starke Narkosemittel gespritzt hatte. Ein Griff unter die Tischdecke – und mein Kumpel hält die Kettensäge in der Hand. Dann ein stumpfes reißendes Wimmern, das versteinerte, gleichwohl konzentrierte Gesicht Tobis, paralysierte Passanten, eine allgemeine, stille Lähmung, in die nur vereinzelt Schreie stoßen, Schreie nach einem Krankenwagen und nach der Polizei. Der junge Mann am Tisch legt den abgetrennten Fuß auf den Teller, er schneidet, seziert, führt die Gabel zum Mund. Er schafft noch ein paar Kaubewegungen. Dann fällt er seitlich vom Stuhl.
<anonymous_user: I’m a big big fan of your ‘art’! There has never been anybody as freaky and odd like you before! Please, keep on rockin’! :-D>
(apn) Was als vergleichsweise harmlose Sketch-Parade mit softem Stunt-Charakter begann, endete gestern sehr traurig: Bei einer neuen Aktion des Freundespaars, das nach eigenen Angaben über alle Grenzen hinausgehen wollte und noch weiter, hat ein schwerer Unfall das weltweite Entsetzen noch gesteigert …
Der Applaus verebbt wie automatisch. „Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nun zwei junge Männer vorstellen, von denen Sie in den letzten Tagen sicherlich zumindest etwas gehört oder gelesen haben. Eine Wochenzeitung nennt sie, ich zitiere: ‚Provokateure zwischen Profilneurose und Psychopathologie in der Tradition des Performance-Künstlers Flatz’. Und eine große Boulevardzeitung fragt ganz schlicht: ‚Macht das Internet irre?’ Machen wir uns selbst ein Bild – bitte begrüßen Sie mit mir meine Gäste …“
Erneutes Klatschen, wir betreten das Fernsehstudio, treten gleißendem Weiß entgegen, setzen uns dem Moderator gegenüber auf die Couch. Als Einstimmung werden zwei Videos eingespielt – unsere jüngsten Aktionen ‚Van Gogh 2.0’ und das noch erfolgreichere ‚Tastes like Feet Spirit’.
„Also“, es gibt tatsächlich einen Hauch von Neugier im Gesicht des Gastgebers, und das Publikum der TV-Show schweigt laut und angewidert und höchst interessiert. „Warum stellt ihr Clips ins Internet, in denen ihr euch – ja, regelrecht selbst zerfleischt?“
„Nun“, Tobi lächelt ins helle Nichts. „Wir haben nicht vor, unseren Aktionen einen intellektuellen Überbau zu geben. Wir haben – zunächst mal – Erfolg. Millionen auf der Welt haben unsere Videos gesehen. „Also hackt ihr Euch Ohr und Fuß ab, um berühmt zu sein. Ohne Botschaft? Ohne Sinn?“ Ich straffe mich. „Ohne Sinn nun gerade nicht – die Bedeutung dessen, was wir machen, muss aber jeder für sich selbst finden.“
Noch weiter nach vorn, uns entgegen, lehnt sich der Moderator: „Aber was kann es für einen Sinn ergeben, sich öffentlich und fast nackt von Bienen zerstechen zu lassen?“ Tobi blickt ihn freundlich an: „Aktivieren Sie Ihren Humor, vielleicht hilft das!“ Dann schaut er in die Kamera: „Jedenfalls werden die Zuschauer noch mehr von uns zu sehen bekommen – es gibt noch eine dritte Runde, vielleicht die letzte. Das letzte Spiel habe ich gewonnen, dank Ihnen und Ihrer Klicks.“ Er legt die Hand auf meine Schulter. „Aber wer weiß, was uns jetzt noch einfällt – und wer am Ende die meisten Zuschauer hat? Wir werden sehen!“
Ein Abhang. Kaum etwas gedeiht auf dem harten Boden, bis auf etwas Unkraut, das zwischen Steinen hervorkriecht. Unerbittlich der trockene, heiße Tag.
Tobi setzt sich die Maske auf. Donald Duck grinst ins Objektiv, winkt kurz, steigt in den blau-weiß-grauen 2CV. Keine Worte diesmal – alle Welt schaut, und Bilder allein sollen sprechen. Allenfalls der Schriftzug auf beiden Seiten des spartanisch dünnen Citroën scheint vielsagend: „Flambierte Flugente – Flying Duck Flambée“. Tobi startet den Motor. Unwillig röhrend gibt das Gefährt Laut, seicht zuckelt es an, rollt den Berg hinab, über Schotter und Kiesel, schneller werdend.
Vielleicht 200 Meter, und das kleine Auto hat ordentlich Tempo aufgenommen, nähert sich der Konstruktion aus Brettern und Decken. Die Ente wird schneller, schneller, Dreck stiebt auf, Staubschwaden durchziehen die Luft des frühen Abends. Dann saust das Auto die gleichmäßigen Planken empor. Längst hat Tobi mehrere Lunten gezündet. Und als der 2CV über den Rand der Schanze schießt, faucht Feuer um die Karosserie.
Wie schwerelos steht das Fahrzeug in der Luft, die kleinen Reifen sausen umher wie wahnsinnig, mit hellem Heulen, die gelben Flammen durch die Luftstöße noch weiter anfachend. Dach, Motorhaube, Heck lodern. Durch die heiße Brunst sprüht die Flüssigkeit aus Benzin, Nitro und Wodka auf den Boden, die brandbeschleunigenden Essenzen, die wir sorgfältig auf die Ente aufgetragen hatten. Geometrisch sauber, eine Parabel beschreibend, gleitet das Vehikel durch den Himmel.
Als der Citroën stöhnend am Boden zerbirst, filmen gleich mehrere Kameras. Von oben beobachten sie den Blech-Crash, den Aufprall nahezu inmitten des sorgfältig gemalten Riesenkreises. Rechts und links der weißen, runden Fläche: zwei überdimensionierte Stäbchen, chinesisches Bambusholz, asiatisches Besteck. Und inmitten von all dem, inmitten der grotesk in sich zusammenfaltenden, klapprigen Metallkarosserie, inmitten des heißen, keuchenden Feuerballs eines schier leichenhaft auflodernden, grausam lädierten Klumpens aus Kunststoff, Glas und Metall: mein Kumpel Tobi.
Der Wind weht kalt, ich spüre ihn durch das Kostüm hindurch. Weit geht der Blick. Hier oben sieht man über die Bankenstadt hinweg bis zu den Wäldern, die das Umland bilden, bis zu den Bergen, die alle Häuser einkesseln – die Berge, die das Sichtfeld begrenzen, hinter ihnen ist im Dunkel der frühen Nacht nur noch blindes Schwarz.
Das Hochhaus unter mir scheint zu schwanken. Ich trete auf den Rand des Daches zu, irgendjemand folgt mir mit der Kamera, bildet mit weiteren Videoapparaten auf Stativen einen Halbkreis um mich herum.
Ich bin umzingelt, am Ende eines absurden Duells, frierend, zitternd bis ins Mark. Meine Hand geht steif bis zum Rücken, knapp bis unter das aufgestickte Emblem „Hat’s Ihnen GEFALLEN? Do you fall-ow me?“ Ich reibe mein Rückgrat.
Einmal noch drehe ich mich um, recke beide Arme zu einem stummen Gruß, zu einer Pantomimik einsamen Triumphs. „Fly High or Die Hard“ steht in leuchtenden Lettern auf meiner Brust – das soll als Abschied genügen.
Ich greife nach der Zündschnur, die alle Feuerwerkskörper an meinem Leib verbindet: die Silvester-Raketen um den Brustkorb, am Rücken, Hintern, an meinen Beinen. Ganz langsam drehe ich mich um, ich schaue nicht hinab. Was geschehen wird – ich weiß es nicht. Werde ich mich wirklich so tief fallen lassen? Werde ich den kleinen, verborgenen Fallschirm ziehen? Was mache ich? Wozu das alles? Ich muss ein wenig lachen. Ich habe Angst. Ich weiß es nicht.
… Selbstmord als In-Sport? Die neuesten Aktionen junger Menschen auf Videoportalen geben nicht nur tief besorgten Psychologen und Verhaltensforschern zu denken, lassen nicht nur Politiker zu Forderungen teils drastischer Verbote hinreißen. Immer mehr Bürger fragen sich: Was ist das für eine Gesellschaft, die solche Phänomene schuf? In einer Welt, in der Terror, Krieg und Wirtschaftsinteressen herrschen, mag das eigene Leben als ebenfalls nur limitierter, knapp bemessener und wertloser Zustand erscheinen, das man nach Belieben aus- oder wegschalten kann, um der Gier nach Aufmerksamkeit und …
<Thunder_2013: Wow! Wir waren alle sehr beeindruckt! Krass, was ihr da durchgezogen habt! Hammer! This is “tube” be continued, kann ich da nur sagen. You tube – we follow!>
© Thomas Gonsior