Planungsfehler
Der Kellner kommt in der noch immer gut gefüllten Pizzeria zielstrebig auf ihren Tisch zu, räumt die leeren Teller ab und fragt freundlich:
"Darf's noch etwas sein? Ein Espresso, vielleicht?"
"Magst noch was, mein Hase?", wendet sich Markus mit einem Blick an seine Frau Julia, der eher sagen soll: "Lass uns doch lieber gleich nach Hause gehen".
Sie kennt ihren Mann genau, schaut ihn nach so vielen Jahren immer noch verliebt an und meint: "Es ist ja schon spät. Bald Mitternacht. Lass uns lieber gehen".
"Nein danke, nur noch die Rechnung, bitte". Markus ist erleichtert. Immerhin sitzen sie seit fast zwei Stunden hier.
Ein lauer Wind umschmeichelt sie, als sie das Restaurant verlassen. Julia schmiegt sich eng an Markus, er legt den Arm um sie. Langsam schlendern sie Richtung U-Bahnstation.
"Sollen wir durch den Park nach Hause laufen? Das sind doch höchstens dreißig Minuten". Julia schaut ihn dabei mit einem Blick an, dem er noch nie widerstehen konnte. Er weiß genau, durch den Park braucht man mehr als eine Stunde. Aber er weiß auch genau, wie unwohl sich Julia in der U-Bahn fühlt. Und das Geld für ein Taxi ist einfach nicht drin. Die Nacht ist ja auch wirklich schön. Der Mond scheint hell am Himmel. Die Wege sind durch Laternen, die ein angenehmes, gelbes Licht abgeben, gut ausgeleuchtet. Zu dunkel wird es nicht werden.
"Na gut", denkt er, "Und womöglich ergibt sich ja die Gelegenheit...". Grinsend schiebt er den Gedanken bei Seite. Wir sind ja jetzt nun wirklich keine Teenager mehr.
"Ich seh’ dir genau an, woran du wieder denkst. Vergiss es!"
Nach einem leichten Knuff in die Seite hakt sie sich wieder bei ihm ein. Wie zwei jungverliebte schlendern sie engumschlungen Richtung Park. Sie plappert in Einem fort, springt von einem Thema zum nächsten, ohne dass er eine Chance hat, ihr wirklich zu folgen. Ab und zu gibt er einsilbige Antworten, die mehr einem Brummen oder Grunzen gleichen als realen Wörtern oder gar Sätzen. Aber das ist schon eine Art Ritual für sie beide. Sie kommen seit Jahren gut damit zurecht.
Endlich findet sie mal eine Pause und beide gehen schweigend ein paar Minuten nebeneinander her. Er genießt die Stille.
"Wie still es im Park um diese Zeit ist“, flüstert Julia. „Gibt es denn hier keine nachtaktiven Tiere?“ Er will antworten, wird aber von einem ungewöhnlichen Geräusch unterbrochen. Ungewöhnlich für diese Uhrzeit. Es ist gerade mal kurz nach Mitternacht. Und die Vögel zwitschern. Nur wenige. Aber in dieser Stille ist das ein nahezu durchdringendes Geräusch. Immer mehr Vögel fallen in das Konzert mit ein. Sie schauen sich etwas verwundert an.
„Haben wir die geweckt?“, flüstert Julia und blickt fragend zu ihrem Mann. Markus schaut auf seine Uhr „Es ist 00:30, da lassen sich Vögel nicht so einfach von zwei Spaziergängern wecken. Die sind an das Stadtleben schon lange gewöhnt. Lass uns weiter laufen, es ist schon spät“. Julia hakt sich wieder bei Markus ein. Sie schlendern den Weg weiter. Noch gut die Hälfte der Strecke haben sie vor sich. Langsam überkommt beide ein mulmiges Gefühl. Immer mehr Vögel stimmen in das Konzert ein.
Ohne sich verabredet zu haben, beschleunigen sie fast synchron ihre Schritte.
„Irgendwas stimmt doch mit dem Licht nicht. Es wird immer heller!“. Julias Stimme klingt schon ein wenig schrill.
Tatsächlich. Es ist unmerklich immer heller geworden. Der gelbe Schein der Laternen ist kaum noch auszumachen. Den Mond kann man noch gut erkennen, allerdings trägt er nicht mehr wesentlich zur Beleuchtung bei.
„Das kann doch nicht sein!“, Markus schaut auf seine Uhr, „bei mir ist Zwanzig vor Eins, wie spät hast du?“.
„Genau wie bei Dir, gleich Viertel vor Eins“.
Markus fischt sein Handy aus der Jacke in der Hoffnung, dass dessen digitale Uhr etwas anderes anzeigt. Aber diese Hoffnung erfüllt sich nicht.
„Markus“, flüstert Julia entsetzt und zeigt mit dem Finger in Richtung Osten.
Er dreht sich um und schaut geblendet in das rötliche Leuchten der Sonne, die in diesem Moment am Horizont erscheint.
Ungläubig staunend wendet er sich wieder zu Julia um. Aber da ist keine Julia mehr. Auch kein Weg. Keine Bäume. Es ist wieder still. Und dunkel. Die Bäume verschwinden ebenso wie der Mond. Auch Markus gibt es nicht mehr. Es ist schwarz. Nichts existiert mehr.
Die Tür wird beinahe aus den Angeln gerissen, als Gott in den Raum stürmt. „Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“, schreit er die zwei Techniker an, die schuldbewusst vor ihren Konsolen sitzen. „Wer hat die Tagessimulation im Ablaufplan geändert? Die ist vier Stunden zu früh gestartet! Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was ihr damit angestellt habt? Wir mussten die Simulation komplett neu booten! Das bekommen wir nie wieder so hin, wie es sich aufgebaut hat, Jahre von Arbeit sind einfach durch den Kamin gegangen!“.