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Planspiel
Am Nachmittag rief mich mein alter Freund Xaver an. Nach anfänglichem freundlichen Austausch von Höflichkeitsfloskeln erwähnte er, wie beiläufig, das er für seinen Sohn einen nagelneuen Kleiderschrank erworben hat. Jener Schrank sei heute, in der durchaus erstaunlichen Zahl von 32 einzelnen Paketen angeliefert worden. Die beigefügte Montageanleitung erwies sich zwar als sehr interessant, sei jedoch zusammenfassend für eine erfolgreiche Montage eher hinderlich. Da er sich meiner, in früher Jugend erworbenen Kenntnisse im Bereich der Möbelmontage erinnere, wollte er sich bezüglich meiner Bereitschaft zur Unterstützung beim Aufbau des Schrankes erkundigen. Da er mich außerdem an meiner Ehre als Hobbyhandwerker packte und zusätzlich an ein vor 15 Jahren gegebenes Versprechen, Ihm in guten und in schlechten Zeiten hilfreich zur Seite zu stehen erinnerte, willigte ich nach anfänglichem Zögern schließlich ein.
Folglich begab ich mich am gleichen Abend auf den Weg zu meinem Freund, seiner Frau und dem glücklichen Sohn, in dessen Zimmer die Neuerwerbung aufgebaut werden sollte. Mir wurde signalisiert, das ich mit der vollen emotionalen Unterstützung der ganzen Familie rechnen dürfe und auch für mein leibliches Wohl werde gesorgt werden. Es solle mir an nichts mangeln, sofern nur aus diesem undurchschaubaren Haufen an Brettern, Schrauben und sonstigen Dinge, deren exakte Bezeichnung sicherlich kein normal Sterblicher kennt, am Schluss ein funktionstüchtiger Schrank wird. Wir einigten uns darauf zunächst mit dem Aufbau zu beginnen, und uns etwas später um das leibliche Wohl zu kümmern. Dennoch war ich glücklich und zufrieden zuerst ein Glas Rotwein trinken zu können, um etwas Mut für die bevorstehende Aufgabe zu sammeln. Nachdem ich mit etwas Smalltalk eine gute halbe Stunde Zeit gewonnen hatte, war es aber soweit, dem Gegner gegenüber zu treten.
Mit meinem professionell wirkenden, wenn auch nur mäßig bestückten, Werkzeugkoffer bewaffnet, betrat ich das Kinderzimmer und sah mich mit den, teilweise bereits ausgepackten, Einzelteilen konfrontiert. Jetzt nur nicht unsicher wirken. Sei mutig und tue so, als hättest Du die volle Kontrolle über die Situation und irgendeine Ahnung davon, was du hier machst. Nach einem ersten prüfenden Blick, war ich mir sicher, das diese Teile auf gar keinen Fall für den Aufbau eines Schranks geeignet sind. Ich könnte mir vorstellen, das es sich hierbei um Teile einer Einbauküche, eventuelle um Fragmente eines abgestürzten Flugzeugs, oder vielleicht um die traurigen Reste einer zerlegten Hundehüte handelt. Aber ein Kleiderschrank? Niemals. Dennoch ließ ich mich nicht entmutigen und erbat von meiner Gastgeberin die Montageanleitung.
Nach eingehender Lektüre derselben, gelangte auch ich zu dem Schluss, das diese Informationen eher Kontra produktiv waren. Mit vielen Bilder versehen, wurden hierin, mit den Schritten Nummer 1 bis Nummer 56, der Aufbau zwar explizit erklärt. Zum Glück gab es diese Skizzen und Bilder, da die entsprechenden Kommentare in einer Sprache erläutert wurden, der ich nicht mächtig war. Könnte „Usbekisch“ sein, aber ich vermutete eher, das diese Sprache nicht auf unserem Heimatkontinent, ja noch nicht mal in unserem Sonnensystem gesprochen wird. Diese Theorie wurde zusätzlich durch die Skizzen von lustigen kleinen „Männchen“ erhärtet, die offenbar die geeignetste Körperhaltung bei den einzelnen Montageschritten erläutern sollte. Allerdings hatten diese Wesen nur sehr entfernte Ähnlichkeit mit Menschen und ich vermutete die Produktionsstätte dieses Möbels eher im Bereich der Andromeda Galaxie. Auf meine entsprechende Nachfrage versicherte Xaver mir aber, er habe das Produkt in einem heimischen Möbelhaus erworben und auch die Lieferanten hätten einen vertrauenerweckenden und durchaus irdischen Eindruck gemacht. „Alles klar, ist kein Problem“. Ich hoffe für diese Lüge nicht im Fegefeuer schmoren zu müssen.
Auch wenn ich keine wirklich Vorstellung von dem hatte, was ich gerade tat, waren die Schritte 1 bis 7 im Grunde relativ einfach. Es zeigte sich, das die Erfahrung aus dem Aufbau von Modellflugzeugen und Modellschiffen in meiner frühen Kindheit, hier von unschätzbaren Vorteil waren. Montageanleitungen unterliegen nämlich einer ganz eigenen, im normalen Leben nicht vorkommenden, Logik. Mit akribischer Genauigkeit werden prinzipiell alle Schritte detailliert erklärt. Dennoch wird man im Laufe eines solchen Aufbaus, zu irgendeinem Zeitpunkt von der Gehässigkeit des Verfassers eingeholt. In dem vorliegenden Fall war dies, zu meinem größten Entsetzen, bereits bei Schritt 8 der Fall.
Theoretisch war die Skizze eindeutig und ich konnte erkennen, das die beigepackten Funktionselemente „B 4“ mit den Schrauben Nummer 126789 in die vor gebohrten Löcher „Zeichen F“ im Konstruktionsboden „A23“ ein gedreht werden müssen. Unklar war jedoch, ob die funierte Seite des Konstruktionsboden bündig zum Seitenteil „Bild 1.24, Zeichen D“ oder eben entgegen der Blickrichtung, quasi nicht bündig, sondern zum Seitenteil überstehend montiert werden soll.
Sie verstehen die Problematik? Es gibt Situationen im Leben, da muss man mutige Entscheidungen treffen, und daher entschloss ich mich zu der „bündigen“ Lösung, die sich später auch als richtig erweisen sollte. Ich kam in der Folge bis zu Schritt Nummer 23 der Anleitung, als ich zum gemeinsamen Abendessen gerufen wurde. Der Schrank hatte zwischenzeitlich zumindest die Form eines Regals angenommen, und ich war vorsichtig optimistisch doch noch mit heiler Haut aus dieser Sache raus zukommen. Die Dame des Hauses hatte ein wundervolles und opulentes Mahl zubereitet und wir genossen das Essen und den guten Wein. Leider konnte ich unseren Gesprächen nicht meine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen, da ich ständig an die 4 Schrauben denken musste, die sich noch in meiner Hosentasche befanden. Irgendwann zwischen Schritte 13 und Schritte 16 sind mir die vier einfach übrig geblieben. Ich bin mir sicher, das sie ihren Platz in irgendeinem der ganz, ganz wichtigen Konstruktionsböden hätten finden sollen. Aber in welchen? Von dieser inneren Unruhe getrieben, bat ich unmittelbar nach dem Essen darum, meine Tätigkeit wieder aufnehmen zu dürfen. Zu meinem Glück wurde dies von meinen Auftraggebern als besonderer Arbeitseifer interpretiert und ich widmete mich wieder meiner Aufgabe.
Während unserer Schaffenspause hatte der Sohn meines Freundes sein Haustier, ein Zwergkaninchen namens „Lucky Lucke“, in die freie Wildbahn der heimischen Wohnung entlassen. Offenbar fand Lucky ein gewisses Interesse an den Schrauben und Beschlägen des Schranks, und begann mit diesen Fußball, bzw. Pfotenball zu spielen. Bei den Montageschritten Nummer 24 bis 39, wobei ich die Schritte 33 und 37 wegen Irrelevanz ausgelassen habe, musste ich mitunter ausgesprochen wichtige Schrauben, Beschlagteile und besonders die hervorragend rollenden, wie ich sie nenne, wichtigen Montagedinger, deren Namen ich nicht kenne, unter der Kommode hervorholen, da Lucky hier offensichtlich einen Pass ins Aus gespielt hatte.
Der Montageschritt Nr. 43 war dann genau jener, der bei jeder Montage vorkommt und für den man mindestens 3 Arme mit fünf Händen benötigt. Zu meinem Glück war Xaver stets in der Nähe, um bei kritischen Situationen einzugreifen. Es gehört dennoch zu den eher peinlichen Momenten im Leben, wenn man ein Seitenteil mit der rechten Hand, eine Konstruktionsboden mit dem Kopf, sowie eine Schrauben Nummer 1357009 in der linken Hand hält, währen ein guter Freund krampfhaft versucht die Mittelseite „C 5“ mit dem Konstuktuktionsboden „G 15“ Bild 1.24 (das hatten wir doch schon mal?!) zu verbinden. Erschwerend kam hinzu, das „Lucky“ sein Interesses an dem Schraubenzieher entdeckt hatte und diesen durch den ganzen Raum kullerte.
Trotz dieser erschwerten Bedingungen gingen die Arbeiten dann doch zügig voran und die gesamte Konstruktion erinnerte inzwischen durchaus an den Schrank, der es einmal werden sollte. Bei der Montageanweisung Nr. 46 wurde ich daher bereits etwas übermütig, was sich natürlich umgehend rächen sollte. Ich war gerade dabei die Schraube Nr. 192378 in das Seitenteil „D“ gemäß Bild „2.25“ ein zudrehen als ich, abgelenkt von der Gastgeberin, die sich nach meinen Bedürfnissen erkundigte, die Kontrolle über den Imbusschlüssel verlor. Mitten in der Drehbewegung verlor er den Halt zu der Schraube, entfernte sich in einer eleganten Parabel in Richtung Schreibtisch, zerschmetterte dort mit einem dezenten „Zssplliiiing“ mein Weinglas, landete anschließen auf der Glastischplatte um dort einen hässlichen Sprung zu hinterlassen, und wurde von dort auf die nebenan stehende Stehlampe geschleudert, wo mit einem infernalisch lauten Knall die Glühbirne zu Bruch ging. Nach einigen Schrecksekunden der atemlosen Stille, hatte sich Lucky Lucke als erster von dem Schock erholt, hoppelte freudig in Richtung des soeben entstandenen Weinflecks am Boden, und labte sich ungeniert an dem Rotwein. Ich will mal hoffen, das er durch diesen hemmungslosen Alkoholkonsum keine Schäden davon getragen hat. Nach diesem Vorfall zog er sich auf jeden Fall in sein Häuschen zurück, und wir hatten den Eindruck, als hätte er anschließend noch eine wilde Party gefeiert.
Nun, gewisse Kollateralschäden muss man beim Aufbau eines Möbelstückes stets einkalkulieren. Wenngleich mich die Hausherrin fortan etwas missmutig anblicke, glückten mir die Aufgaben Nr. 48 bis 56 ohne besondere Vorkommnisse, und der Schrank hatte sein endgültiges Erscheinungsbild erreicht. Ich für meine Teil war froh, lediglich eine Handvoll Schrauben, es mögen höchstens 20 Stück gewesen sein, am Ende der Montage noch übrig zu haben. Sicherlich könnten oder müssten auch diese irgendwo ihren Platz finden; aber der Schrank steht auch so. Und ein wenig künstlerische kreative Freiheit wird ja wohl bitte noch gestattet sein.