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Pizza Funghi
Pizza Funghi
„In diesem Wald wurden die schrecklichsten Morde begangen.“ Der kleine Mann marschierte wie ein Oberst vor der fünfzehnköpfigen Gruppe hin und her. Trotz seiner unzufriedenstellenden Größe konnte er durch seine laute, schrille Stimme die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Bei jeder Bewegung rauschten seine blonden Haare wild auf dem Kopf wie ein Meer und seine Augen verdrehten sich, dass es unnormal schien. „Kaum ein Mensch traut sich hier her. Zu recht. Wir sind jedoch mit der unaufschiebbaren Aufgabe befasst, es zu wagen.“ Er blieb stehen und blitze jeden einzelnen der versammelten Männer und Frauen an. „Haben sie alle ihre Körbe dabei?“ Fast zeitgleich reckten die stummen Menschen große Körbe aus Bast in die Höhe. Der Mann senkte verschwörerisch die Stimme, sodass alle einen Schritt vortraten, um seine Worte zu hören: „Dann sind sie wohl bereit für’s Extrem Pilzsammling?“ Im Takt fingen die Menschen an wie in Trance zu klatschen, die Augen blickten leer durch ihn hindurch.
„Was soll das Theater?“ flüsterte Susanne ihrem Mann Heiko zu. „Ist das normal, frage ich.“ Heiko schien den Mund kaum zu bewegen, als er entgegnete: „Ich denke mal, das gehört hier zur Show.“ Auch sie hielten einen Korb in die Luft, jedoch passten sie nicht ganz zur Gruppe. Beide waren im Gegensatz zu den anderen auffallend schrill gekleidet: Heiko trug eine gelbe Weste, ähnlich einem Südwester, über seinem blauen Fleecepullover. Auch seine weiten Jeans konnten seinen Hang zur Korpulenz nicht kaschieren. Susanne war eher eine schmächtige Person mit kaum Kurven. Sie trug eine rosarote Kappe, die sich mit dem Signalrot ihrer taillierten Regenjacke biss. Auch passte der auberginefarbene, lange Rock nicht ganz zum Rest des Outfits. „Warum sind hier alle so gruftiemässig?“ meinte sie leise. Und wirklich war die restliche Gesellschaft in dunklen Braun- oder Grautönen gekleidet. Die schrille Stimme des Leiters unterbrach das Klatschen: „Ruhe, bitte! Sie!“ Alle hefteten ihre Augen auf das Pärchen. „Nicht nur, dass sie unsere Kleiderordnung verletzen... ich hatte alle gebeten, sich unauffällig anzuziehen!... Nein, sie stören auch noch unsere Anfangszeremonie! Wissen sie, sie bringt uns Glück. Und das werden wir hier brauchen. An den ungewöhnlichsten, einsamsten Orten wachsen die besten Pilze, gut gepflegt von Mutter Natur. Nur sind die ungewöhnlichsten, einsamsten Orte auch die gefährlichsten. Wer weiß, ob hier noch einige Mörder frei herum laufen... Wir wollen nicht auffallen!“ Er drehte sich weg und stellte sich auf einen Baumstumpf, um eine normale Größe zu erreichen. „Nun denn, gehen sie! Wir treffen uns in drei Stunden hier. Nutzen sie die Karte und gebrauchen sie die Walkie-Talkies bitte nur im Notfall. Ich will nicht gestört werden. Ich warte hier auf sie!“
Langsam setzte sich die Gruppe in Bewegung, Susanne und Heiko bildeten mit einigen Metern Abstand die Nachhut. Heiko lachte auf. „Was für ein Quatsch! Was hat uns nur dazu gebracht, mitzumachen?“ Sensationsgier. Das Ehepaar stammte aus einer Gegend, in der es üblich war, dass die Person mit der außergewöhnlichsten Geschichte die Leiter der Gesellschaft gleich um einige Sprossen aufstieg. Bis jetzt konnten die beiden nur mit Neid zuhören, wie manch einer auf Adlerjagd per Heißluftballon ging oder an den Niagarafällen Flaschenpost spielte. Es war nun mal langweilig, einfach nur segeln zu gehen, trotz Sturm. Deswegen hatten sie nicht gezögert, als Susanne eine Anzeige in der Lokalzeitung entdeckte. Es handelte sich um eine Tour, in der es darum ging, Pilze an den seltsamsten Orten zu sammeln. Das Motto war: Je weniger Menschen, desto mehr schmackhafte Pilze. Ob ein Bergsteigen oder Rudern im Wildwasser, alles wurde mit dem Kollektieren der Funghis kombiniert. Und deswegen hatte sich das Ehepaar sogleich angemeldet. Doch nach der vielsprechenden Flugreise in einem schrottreifen Flugzeug erlebten sie einen herben Rückschlag: Die anderen Teilnehmer wiesen ein routiniertes Benehmen auf, ohne jegliche Gefühlsregung. Der Geselligkeit von Susanne und Heiko wurde somit ein Garaus gemacht.
„Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich denke, die anderen werden genauso froh wie wir sein, wenn wir unseren eigenen Weg gehen, oder?“ brummte Heikon missmutig. Susanne nickte. „Meine gute Laune ist fast dahin. Komm, ich glaube kaum, dass wir auf die Gruppe angewiesen sind.“ Heiko und Susanne bogen sogleich in ein Gebüsch ein. Heiko atmete auf. „Ich fühle mich sogleich besser. Diese ganze Stimmung... fast, als würden sie diesen Unsinn mit den Totschlägern glauben. Ist aber nur von Vorteil für uns, oder?“ Es sah sich schon in schwindelerregender Höhe auf der Leiter stehen und auf die anderen herabschauen. Susanne lachte. „Ich denke, das gehört alles zum Spiel. Es soll Leute wie uns neugierig machen. Ich lasse mich auf keine Fall von denen verrückt machen.“ Während des Gespräches waren sie schon ein beträchtliches Stück vorangeschritten und standen nun, von hohen Bäumen, die das Licht abschirmten, umringt wie zwei Striche farbiger Kreide auf einer schwarzen Tafel, so sehr fielen sie auf. Susanne drehte sich im Kreis. Ihre Stimme wurde fast vollständig von der Stille aufgesogen:„Es sieht ja alles gleich aus und Pilze gibt es hier auch keine. Je mehr Pilze, desto weniger Menschen... dass ich nicht lache.“ „Was ist, wenn...“ Heiko blickte Susanne unruhig in die Augen, „...man das Motto umkehren kann?“
„Je weniger Pilze, desto mehr Menschen?“ Susanne hatte einiger Sekunden lang mit ihrem Kopf Schwerstarbeit geleistet. „Glaubst du etwa, Heiko, dass hier noch irgendwer ist?“ Heiko nickte. „Ich könnte mir vorstellen, dass Mörder nebst Menschenfleisch auch mal eine Pizza Funghi vertragen können.“ Plötzlich wirkte die Stille erdrückender als sonst, die Bäume schienen näher gerückt zu sein und hinter jedem Geäst konnte man etwas lebendes, atmendes, lauerndes erwarten. „Ganz ruhig.“ Susanne schüttelte ungläubig den Kopf, als sie sprach. „Wir müssen nur einen Pilz suchen und schon ist alles in Ordnung. Zwei Augenpaare scannten den Boden nach etwas mit Hut. „Hier muss einfach ein Pilz sein. Noch nie habe ich mir so sehr einen Pilz gewünscht.“ murmelte Heiko. Der Puls stieg merklich an und als Heiko seine Frau and der Hand anfasste, konnten sie das Blut des Anderen rumoren spüren. „Da!“ Susanne stürzte vor und kniete sich vor einen Busch.
Mit einer fließenden Handbewegung griff sie einen brauen Gegenstand und versenkte ihn im Korb, ohne ihn näher zu betrachten. „Nochmal Glück gehabt, oder?“ lachte sie nervös auf. Sie trabte zu ihrem Mann, der in erwartender Haltung ihr Tun beobachtet hatte. Heiko klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Nun zeig mal deinen Fang und... unsere Rettung.“ Triumphierend holte Susanne den Pilz und drückte ihn Heiko in die Hand. Er senkte langsam die Augen. „Herrlich. Ein Steinpilz. Tja, ich kriege Hunger auf Pilz.“ Susanne grinste und stiefelte um ihn herum. Auf einmal zischte Heiko: „Warte, da steckt etwas im Pilz. Sieht aus wie...“
„...ein Messer.“ Susanne war herangetreten und fing an zu keuchen. Heiko berührte sie zaghaft an der Schulter. „War bestimmt nur ein ehemaliger Pilzsucher, der das hier vergessen hat.“ Er schien sich selber mit dieser unglaubhaften Aussage beruhigen zu wollen. Langsam umklammerten seine dicken Finger das Messer. „Ich zieh es heraus.“ Es geschah innerhalb von Sekunden: Kaum hatte er das Messer herausgezogen, so ließ er sowohl den Pilz als auch das Schneidewerkzeug fallen und hetzte mit weitgeöffneten Augen einige Schritte zurück, seine Frau mit sich ziehend. „Wo ist die Landkarte? Ich will hier weg!“ stieß er hervor. Während sie im das Papier gab, wiederholte Susanne unermüdlich: „Was war da?“, jedoch ohne eine Antwort zu erhalten. Heiko faltete hastig die Karte auseinander. „Ich verstehe hier nichts!“ schrie er, knüllte die Karte in einem Zug zusammen und warf sie weg. „Was hast du gesehen?“ sagte Susanne, die Stimme kaum unter Kontrolle haltend. Heiko atmete ein, atmete aus. „Blut. An dem Messer war getrocknetes Blut.“
Wild rannten die beiden, die Körbe längst verloren, durch das Gestrüpp. Äste peitschten ihnen ins Gesicht, rote Streifen hinterlassend. Mehr als einmal stolperte einer von ihnen über eine Wurzel, laut aufschreiend. „Ist er hinter uns her?“ keuchte Susanne, vor Seitenstechen langsamer geworden. Auch Heiko atmete schwer. Er sprach: „Wir haben ihn nicht gesehen. Er lauert bestimmt auf uns. Und er wird uns kriegen.“ „Das Walkie-Talkie!“ rief Susanne.
Die Finger kaum unter Kontrolle haltend, kramte Heiko in der Weste nach dem kleinen Telefon. „Da ist es! Wir können nun den Leiter von alldem anrufen...“ Zittrig drückte Heiko einen Knopf des Gerätes und hielt es an sein Ohr. „Nichts. Keiner geht dran. Wir sind verloren.“ stellte Heiko resigniert fest. Wie dem Tod Versprochene stiefelten sie weiter.
„Was ist das da vorne? Ist es...“ Susanne sprach die Worte in einem beschwörenden Ton. Vor ihnen ragte ein Baumstumpf hervor, auf dem ein kleiner Gegenstand lag. Heiko ging auf den Stumpf zu und rief, kaum einen Meter davon entfernt: „Wir sind gerettet! Es ist ein Walkie-Talkie, wohl das des Leiters!“ Sie lachten und sprangen übermütig herum, alle Last fiel von ihnen herab. Heiko war hin- und hergerissen zwischen der schwindenden Überlebensangst und dem Wissen, die Leiter endlich erklimmt zu haben. „Fehlt nur noch...“ sagte Susanne lachend, „...der Leiter.“ Beide hörten zeitgleich auf zu lachen. „Vielleicht ist er mal eben für kleine Jungs?“ murmelte er. „Vielleicht...“ Seine Überlegungen wurden durch Susannes Kreischen unterbrochen. „Blut!“ schrie sie.
Wahrhaftig fing ein paar Meter vom Baumstumpf entfernt eine dunkelrote, nass glänzende Spur an, die sich dahin gezogen in ins Gebüsch wand. „Als wäre jemand geschleift worden...“ Heiko nahm die panisch schluchzende Susanne in den Arm. Eine Weile standen sie unbeweglich da, als auf einmal ein Geräusch an sie heranwehte, das sie entgültig überwältigte: Sie hörten Äste brechen, wie wenn jemand seinen Weg zu ihnen heran suchte...
„Da liegen die beiden.“ Dreizehn Augenpaare hefteten sich auf das zusammengekrümmt liegende Pärchen, das sich nicht bewegte. „Was ist los mit denen?“ „Sind sie am schlafen ?“ „Wir müssen los, komm, wir wecken sie auf!“ „Falls das noch geht...“ Vorsichtig traten die Pilzsammler an Heiko und Susanne heran und jemand berührte die Frau am Arm. Ein unmenschlicher Schrei entwich ihrem Hals, als sie sich aufreckte, die Augen geschlossen. Heiko fing an zu zittern und brummte unverständliches Zeug. Erst als sie einige Minuten auf sie eingeredet hatten, kamen die beiden zu sich und standen mühsam auf. Heikos Augen waren geweitet, während Susanne von Schüttelfrost gequält wurde. „Ich glaube, die beiden haben die Geschichte geglaubt.“ „Sie haben sich wirklich verrückt machen lassen.“ „Wo ist der Leiter?“ „Er ist wohl schon zum Flugzeug gegangen. Nehmt die beiden in den Arm und auf geht’s.“