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Piratenjagd im Gojano-Sektor
Gleich würden sie die energetischen Fesseln abfeuern, die das vor ihnen fliegende Schiff endgültig an seiner Flucht hinderten. Trotz der Vibrationen des Schiffes blieb die Hand des Waffenoffiziers ruhig. Die Maschinen im Heck brummten. Sie flogen mit Maximalschub.
Kapitän des Raumes Oberst Bernd Junker starrte auf die Anzeigen der Entfernungsmessung, wo in der rechten oberen Ecke die Sekunden heruntergezählt wurden.
Seit sie in Schlagdistanz zu dem Piratenschiff gelangt waren, lag der Erfolg der Aktion einzig beim Piloten und dem Feuerleitoffizier.
›... zwei ... eins. Und ab damit!‹, dachte er inbrünstig.
Im gleichen Moment leuchtete auf dem Frontschirm vor ihm das violette Schimmern der Fessel auf, die sich blitzgleich von ihnen entfernte. Der Pilot hielt die ›Duisburg‹ weiterhin auf Kurs, die Maschinen bis an die Grenzen belastet.
Das Piratenschiff, ein Konglomerat aus zusammengebauten Kabinen und Antriebselementen, wurde durch das Auftreffen des Fesselfeldes sichtbar durchgeschüttelt. An einigen Stellen lösten sich Elemente der Außenhaut, und eine der Wohneinheiten wackelte bedenklich.
»Haben wir ihn?« hallte seine Frage durch den engen Kommandoraum der Fregatte.
»Festgemacht Käpt´n.« Der Mann am Feuerleitpult drehte sich um und sah seinen Kapitän an. »Wir ziehen ihn bis auf hundert Meter heran.« Er beugte sich wieder über sein Pult.
»Bremse Gespann ab.«
Die sanfte Stimme des Schiffspiloten überraschte Junker jedes Mal. Selbst in den schwierigsten Situationen, und sie hatten bereits einige hinter sich, hatte er Major Spokowodic nicht ein einziges Mal aufgeregt erlebt.
Die einsetzenden Vibrationen und das störende Geräusch des Andruckwarners beendeten seinen Gedankengang.
»Zielschiff wehrt sich, Fesseln halten nicht!«
Der Pilot an Bord des Piratenschiffes erwies sich als begnadeter Raumfahrer. Er traktierte die ›Duisburg‹ mit Wechselschüben aus seinen Triebwerken, ließ Teile der Außenhülle gezielt in den Wirkungsbereich des Haltestrahls trudeln, dass man glauben konnte, er wäre nicht das erste Mal an die energetische Leine gelegt worden.
Kurz darauf verlosch der violette Strahl, der die beiden Schiffe verbunden hatte. Das Schiff beruhigte sich.
Allerdings war durch den ersten Versuch der Abstand stark verringert worden, so dass Leutnant Hans Heiser sein Ziel deutlicher ausmachen konnte. »Ich richte die Fessel auf den Kernbereich des Piratenschiffes. Habe jetzt bessere Sicht.«
Hans Heiser korrigierte die Justierung des Fesselfeldes, was die Besatzung der Brücke an einem auf dem Monitor projizierten Leuchtpunkt verfolgen konnte.
Obwohl der Freibeuter nach dem fehlgeschlagenen Fangversuch eigentlich besser manövrieren könnte, da er einige Aufbauten verloren hatte und nun leichter war, bewegte er sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit. War die Beschädigung größer als sie ahnten? Waren durch den Fangstrahl Antriebseinheiten beschädigt worden? Junker wurde aus dem Verhalten des Piraten nicht klug.
»Jetzt.« Die Stimme Heisers füllte die spannungsgeladene Luft in der Kommandobrücke der ›Duisburg‹.
Das Aufblitzen des Fesselfeldes war noch nicht erloschen, als drüben beim Piratenschiff die Haupttriebwerke lange Feuerspeere in die Düsternis warfen. Die Fregatte wurde schlagartig vom beschleunigenden Piratenschiff mitgerissen. Spokowodic verlor zwar auch jetzt nicht die Fassung. Doch Junker erkannte, dass sein Pilot von dem perfekten Manöver des Piraten überrascht worden war. Genau wie er auch.
Nur den hochmodernen Aggregaten der ›Duisburg‹ verdankten sie, dass sie von den am Schiff zerrenden Kräften größtenteils verschont blieben. Ein heftiges Rütteln, zwei Becher verschütteten ihren Inhalt über den Boden.
Schon erwachten die Bremstriebwerke der Fregatte zu feurigem Leben. Junker konnte sich lebhaft vorstellen, wie die da drüben mit den entstehenden Beharrungskräften zu kämpfen hatten. Auch wenn der Pirat über verhältnismäßig gute Maschinen verfügte, konnte er unmöglich Absorptionseinheiten von der Kapazität der ›Duisburg‹ an Bord haben. Wenige Sekunden später schalteten die Verfolgten ihre Triebwerke ab.
»Heiser, unterbinden Sie einen erneuten Ausbruchsversuch!« »Jawohl, Käpt´n!«
Das trockene Klatschen der EM-Kanone erscholl, und das Heck des Kernmoduls des Piraten verwandelte sich in Metallstaub und glühendes Gas. Das Dröhnen erstarb, die Bremstriebwerke erloschen.
Junker befreite sich aus seinem Sitz. Mit einer knappen Handbewegung aktivierte er die Bordsprechanlage.
»Einsatzgruppe Eins fertigmachen zum Ausschleusen.«
Sein Blick wanderte zum Ortungsstand.
»Major Klein, die ›Duisburg‹ gehört Ihnen, ich möchte mir den Anführer der Piraten selber vornehmen.«
»Zu Befehl, Oberst.« Klein sprang auf, salutierte und nahm auf dem Zentralsitz Platz.
Erst jetzt, hier bei den Soldaten, fand Junker Zeit, über die Jagd und das System, in dem sie gelandet waren, nachzudenken. Er stand mit Leutnant Ludwig, dem Truppführer des Enterkommandos, vor der Schleuse. Außerhalb der sicheren Schale der ›Duisburg‹ schuf das Vorauskommando einen Zugang zum Piratenschiff und errichtete einen geschützten Übergang. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen. Junker hatte vor einigen Jahren in einem Nachbarsystem einen Auftrag ausgeführt und damals kaum drüber nachgedacht, dass die Sonne Jalketta nur einen Sprung entfernt war. Und nun hatte er erneut diese Tatsache beinahe vollständig verdrängt. Er musste sich eingestehen, dass er am liebsten umkehren und irgendwo in einem entfernten Sternsystem Himmelskörper kartografieren würde, als hierher zurückgekommen zu sein.
Das Zischen der Luftzufuhr riss ihn aus seinen trüben Überlegungen in die Wirklichkeit zurück.
Als das grüne Licht der Schleuse aufleuchtete, wischte er den letzten Rest der störenden Gedanken beiseite und wechselte einen kurzen Blick mit Ludwig. Der nickte, die Männer klappten die Visierscheibe herunter und Ludwig legte seine Hand auf den Öffner. Das Schott glitt zur Seite und gab die Sicht auf das nur wenige Dutzend Meter entfernt schwebende Piratenschiff frei.
Die gezackte und scharfe Schatten werfende Oberfläche ragte bedrohlich vor ihnen auf, füllte das gesamte Sichtfeld. Der Instinkt des Raumfahrers, der die Weiten und die üblichen Entfernungen kannte, rebellierte, wenn zwei Körper so dicht beieinander schwebten. Kleinste Ungenauigkeiten mochten zu einer Katastrophe führen. Junker gab sich einen Ruck.
»Also gut, ab in den Tunnel.«
Der Leutnant machte den Anfang, der Oberst und die Soldaten folgten ihm.
Sie schwebten in einem fast unsichtbaren Schlauch auf das angeschlagene Schiff der Freibeuter zu. Nur das Glitzern der beweglichen Hülle aus Keramenit um sie herum bewies, dass sie vor den tödlichen Strahlen des Zentralgestirns, herumfliegenden Kleinstmeteoriten oder Explosionssplittern geschützt waren.
Ein Raumschiff zu entern war eine heikle Angelegenheit. Zuallererst für diejenigen, denen das widerfuhr. Wollten sie nicht ihr Schiff und ihre Gesundheit über alle Maßen riskieren, so mussten sie ausharren, bis der Gegner an Bord war. Natürlich konnten sie verschiedene Aktionen ausführen, wie zum Beispiel alle Zugangsschleusen zum Eindringpunkt schließen, sofern sie welche besaßen. Danach konnten sie die Atmosphäre abpumpen, kleine Sprengladungen oder Laserfallen aufbauen. Doch solche Anstrengungen machten die wenigsten, denn eigentlich gab es, wenn erstmal der Gegner zum Entern ansetzte, keine Fluchtmöglichkeit mehr. Jede Bewegung von Aggregaten auf der Hülle oder auch energetische Aktivitäten im Piratenschiff würden als Angriff gewertet und man riskierte, von den auf sie gerichteten Waffen zusammengeschmolzen zu werden. Und die wenigsten Freibeuter waren Selbstmörder. Im Gegenteil, sie waren Überlebenskünstler. Das Geentertwerden bedeutete schlicht, dass der letzte Raubzug ein Reinfall war. Nicht wünschenswert, aber meistens keineswegs tödlich.
Trotzdem waren diejenigen, die übersetzten, um das fremde Schiff zu übernehmen, ständig in Gefahr. Es gab keine Garantie, dass auf dem anderen Schiff alles glimpflich verlief.
Junker sah, wie Fischer und Hansen vom Vorauskommando das Schott von innen öffneten, um die ersten Männer hineinzulassen. Sie würden in zwei Schüben einrücken.
Die Schleuse schloss sich wieder und Oberst Junker, sowie den vier verbliebenen Soldaten, blieb nichts als warten.
Lange würde es allerdings nicht dauern. Ohne den sonst nötigen Luftausgleich ging es bedeutend schneller.
Junker hörte ein schwaches Geräusch, eine Art Schaben. Einer der Soldaten schien ebenfalls etwas gehört zu haben. Sein Kopf ruckte hin und her. Die anderen wurden darauf aufmerksam und der den Abschluss bildende Mann riss den Arm hoch.
»Dort!« Jetzt sahen es alle. Ein Aufbau, groß wie ein Bodenpanzer, hatte sich gelöst und schwebte langsam heran. Wenn er sie träfe, würde der Schlauch aus den Verankerungen gerissen, soviel war klar. Doch die Kabine, hinter deren Fenstern absolute Dunkelheit herrschte, trudelte einige Meter entfernt an ihnen vorbei, zwischen den beiden Raumschiffen hindurch und verschwand aus ihrem Sichtfeld.
Einer der Soldaten sagte: »Schon seltsam, wie sich das Ding jetzt noch lösen konnte.«
»Na, vielleicht hat unser Beschuss einfach mehr an dem Kahn gerüttelt, als wir ahnen. Ich möchte auf keinen Fall auf einmal in ein Loch im Boden treten und die Sterne sehen.«
Alle lachten. Leutnant Ludwigs schiefes Grinsen tat sein Übriges, die angespannte Situation zu entschärfen.
Kurz darauf öffnete sich die Außenschleuse und sie konnten den unsicheren Aufenthalt im Schlauch beenden. Das Wackeln in einem über dem Nichts schwebenden dünnen Schlauch schlug Junker auf den Magen. Er war froh, wieder Schiffsboden unter den Füßen zu haben.
Fischer empfing sie und berichtete.
»Der hintere Teil ist verlassen. Der Triebwerkssektor ist nur noch Schrott. Ohne verteilte Energieerzeugung wären hier bereits alle tot. Was war das für ein Scharren?«
»Ein Aufbau hatte sich gelöst. Ich denke, wir sollten hier so schnell wie möglich fertig werden.« Ludwig hatte seine Leute eingewiesen. Nun strömten sie den Gang entlang und verteilten sich im Schiff. Der Kapitän und Fischer folgten ihnen nur langsam. Sie konnten die Schritte der Männer hören und wie sich Schotte öffneten und schlossen. Aber kein einziger Schuss fiel.
Umso öfter erklang die Statusmeldung »Sauber«.
Wo waren die Männer und Frauen, die so ein Schiff benötigte, um ordentlich geflogen zu werden? Hatten sich alle in der Kommandozentrale versammelt? Wozu?
»Was soll das Ganze? Ist am Ende doch eine verdammte Falle, was meinen Sie, Käpt´n?«
»Leutnant, haben Sie wirklich mit Widerstand gerechnet?«
»Mhm.« grummelte Fischer. Aber Junker konnte ihn verstehen. Das vollständige Ausbleiben von Lebenszeichen wirkte beinahe bedrohlich, als hätten sie es mit einem Geisterschiff zu tun. Was bezweckte der Anführer der Piraten mit dieser Taktik? Sie würden die Antwort gleich erhalten, denn soeben erreichten sie das Schott zur Zentrale. Ludwig und vier Soldaten hatten davor Position bezogen.
»Auf der anderen Seite steht Hansen mit den vier anderen bereit. Im ganzen Schiff haben wir keine Seele gefunden. Allerdings wirkten einige Räume, als wären sie hastig verlassen worden. Wenn, dann hat sich die Bande da drin verkrochen.«
Junker starrte den kreisförmigen Eingang an.
»Das Schott?« »Ist nicht gesichert, unsere Scanner sagen, dass wir es öffnen können.«
Es hatte keinen Sinn zu warten.
»Klopfen Sie an, Ludwig.«
Der Leutnant zog ein trichterförmiges Teil aus seiner Montur, das durch ein Kabel mit seinem Anzug verbunden blieb. Er legte es mit der flachen Seite an das Metall des Zugangs.
»Leisten Sie keinen Widerstand, wir öffnen das Schott und kommen rein. Alle Waffen sind deutlich auf dem Boden zu platzieren. Das ist die einzige Warnung, die Sie erhalten.«
Sie konnten den Widerhall der Worte im Innern hören.
»Position. Schilde!«
Auf Ludwigs knappes Kommando ließen drei der vier Soldaten sich auf den Boden fallen, und bauten die Flexschirme vor sich auf. Ludwig und der zweite Mann am Schott taten es ihnen gleich. Das mehrschichtige, elektrostatisch stabilisierte Material hielt einige dutzend Treffer aus Plasmawaffen und schwere Festmunitionstreffer aus. Es war das gleiche Material, aus dem auch der Schlauch gefertigt war. Junker konnte erkennen, wie der Truppführer leise in sein Mikro sprach. Er musste die Handlungen mit Hansen auf der anderen Seite koordinieren.
»Ich öffne!«
Die vier Elemente des Schotts verschwanden in der Wand. Nach einem Moment voller schlimmer Erwartungen ging es schnell. Die Männer sprangen auf und stürmten in den Raum. Kommandos wurden gebrüllt, Anweisungen erteilt.
»Ein Verletzter, keine Waffe. Sicher!« hörte er Hansens Stimme. »Keine Gegenwehr. Sicher!« Ein anderer Soldat.
Junker konnte von außerhalb - er gehörte, ebenso wie Fischer, nicht zum Sturm - nun einige Gestalten erkennen, die keine Helme trugen. Sie wurden mit erhobenen Händen in die Mitte der Zentrale geführt.
»Raum gesichert. Keine versteckten Zugänge.«
Junkers Zeichen. Er schritt aus und betrat die sehr geräumige Zentrale des Piratenschiffs. Schon auf den Gängen war ihm die Architektur bekannt vorgekommen, hier im Kommandoraum verstärkte sich der Eindruck noch. Auch wenn alles viel großzügiger ausgestattet war als damals, das war unverkennbar die Handschrift der Jalketta-Werften. Der Gojanosektor war abgelegen, nur wenige große Routen führten hier vorbei, daher hatte die Regierung den Planeten vor langer Zeit die Genehmigung erteilt, eigene Schiffe zu produzieren. Das war mehr als vierzig Planetenjahre her, mittlerweile gab es keine Sondergenehmigungen mehr. Umso erstaunlicher, wenn er den guten Zustand des Schiffes bedachte. Schade nur, dass ausgerechnet Piraten es benutzten und sie das Schiff zu einem Wrack geschossen hatten.
Er ging auf die Gruppe der fünf Personen zu, die am Kapitänssessel zusammengedrängt stand. Ein hochgewachsener grauhaariger Mann fiel ihm besonders auf. Er sprach leise zu den anderen, machte beschwichtigende Handbewegungen. Das musste der Anführer sein. Er war alt, hatte ein zerfurchtes faltiges Gesicht.
Fischer überholte den Oberst und wies den Mann an vorzutreten.
»Sie sind der Kapitän dieses Schiffes?«
»Ja.«
Es war nur ein Wort, doch Junker zuckte zusammen. Aus fernen Zeiten wehten schemenhafte Erinnerungen herbei, umschwirrten ihn. Er hatte diese Stimme schon einmal gehört.
Er sah sich den Piraten genauer an. Schmales Gesicht, hervortretende Wangenknochen. Unzählige Falten, aus denen zwei sehr lebendige braune Augen ihn anstarrten. Ihn musterten. Die Augen verengten sich. Und im nächsten Moment geschah etwas Seltsames. Der Mann entspannte sich merklich, er konnte geradezu spüren, wie die Anspannung ihn verließ.
»Ihr Name?« Fischers Stimme erklang wie aus der Ferne, unwichtig.
Irrte er sich oder hatten die Mundwinkel kurz gezuckt, bevor die Stimme erneut lange vergessene Erinnerungen nach oben spülte. Doch dieses Mal war es schlimmer.
»Junker«, sagte der Mann, »Manfred Junker.«
Das war nicht nur Erinnerung, es konnte schlicht nicht sein!
Während Oberst Bernd Junker wie erstarrt auf den Mann blickte und die Bilder aus der Vergangenheit versuchten, eine Übereinstimmung mit dem zu erreichen, was er gerade sah, sagte sein totgeglaubter Bruder: »Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt.«
Manfred lebte. Und Manfred war ein Pirat.
Er hätte nicht hierher zurückkommen dürfen. In sein Heimatsystem. Zu lange her, zu unterschiedlich die Ansichten. Damals. Er hatte sich schon vor den Erinnerungen gedrückt, doch jetzt starrte ihn sein Jahrzehnte älterer Bruder an. Ließ die ganzen unsäglichen Differenzen lebendig werden.
»Käpt´n?«
Fischers Gesicht tauchte in Junkers Blickfeld auf. Besorgt.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, sicher.« Er musste sich zusammenreißen.
»Das Schiff wird wie vorgesehen geräumt. Sichern sie die Daten und die Fracht. Ludwig, bringen Sie die anderen Piraten rüber. Fischer und einer Ihrer Männer bleiben hier.«
Er wandte sich wieder seinem so viel älteren Bruder zu, der seinen abgeführten Leuten aufmunternd hinterherblickte.
»Warum Pirat? Du hast Frachter geflogen, und Sportschiffe.«
Manfred setzte sich in den Kapitänssessel, sah zu ihm hoch.
Die nervöse Reaktion von Fischer schien er nicht zu bemerken.
»Dies hier«, er klopfte mit der flachen Hand auf die Lehne des Sessels, und wieder zuckte Fischers Hand, »war sogar schon mein Schiff, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Tja, hier hatte sich schon bald nach deiner Entscheidung, zur Flotte zu gehen, sehr viel verändert.«
Manfred musste über hundert sein, dachte Junker. Er hatte nachgerechnet, sein Relativkonto betrug immerhin einundfünfzig Jahre. Es konnte hinkommen. Der ständige Kampf, die Gefahr, hatte die Gesichtszüge stark verändert. Verhärtet. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sein Bruder es war, der andere Schiffe überfiel, sie ausraubte, vielleicht sogar ...
»Mag sein. Es war meine Entscheidung, wie du deine getroffen hast. Doch das ist vorbei. Dein Schiff nur noch ein Wrack.«
»Offensichtlich interessiert dich nicht, was geschehen ist.«
»Nein, tut es nicht. Es gibt keine Erklärung dafür, Verbrecher zu werden.«
Es tat weh, ihn derart anzufahren, aber er konnte nicht anders. Obwohl sie so verschieden waren, so war er doch der letzte Rest an lebendiger Vergangenheit, die er besaß. Wieder besaß. Und das Einzige, was er machen konnte, war, seinen Bruder festzunehmen und auf dem nächsten Residenzplaneten abzuliefern.
»Das mag stimmen, für dich. Die Welt allerdings tickt weiter, auch wenn man, wie du, die Hälfte seines Lebens damit verbringt, die elend langen Sekunden herunterzuzählen, bis die Bremstriebwerke einen wieder in den normalen Zeitablauf zurückholen.«
Wie Manfred das sagte. Es war kein Hass in seiner Stimme, eher Abscheu? Ganz sicher glaubte Junker, darin totale Ablehnung herauszuhören. Seine dunklen Augen blitzten ihn an.
»Also gut, mach´s kurz. Was ist geschehen?« Es konnte nicht schaden, hier auf die Schnelle zu erfahren, wie es zu dieser Situation kommen konnte.
»Dass sich im Sektor das Konsortium breitgemacht hat, wirst du mitbekommen haben.« Junker nickte.
»Nach zwei Jahren mussten wir aufgeben. Sie haben alle kleinen Frachtgutbetriebe systematisch verdrängt. Und Vater starb bei einem sogenannten Schiffsunfall. Da hat auch Mutter aufgegeben.«
»Ich habe es damals natürlich gelesen, was soll das? Das Triebwerk war explodiert.«
»Ah, da scheint ein Teil der Wahrheit nicht durch den Ticker gegangen zu sein. Denn es war kein Unfall. Man verdächtigte einen besonderen Piloten des Konsortiums, maßgeblich daran beteiligt gewesen zu sein.«
»Es gab eine Untersuchung?«
»Ha. Natürlich. So schnell explodieren keine Triebwerke. Und als die Beweise gegen diesen Piloten ausreichten, verschwand er einfach.«
Vater war ermordet worden! Jetzt verstand er auch den seltsamen Satz in Mutters letztem Brief.
›Ich mache nicht weiter, denn Jemand möchte nicht, dass es weitergeht.‹ Warum hatte sie nicht gesagt, was passiert war? Er hatte immer angenommen, sie meinte Vater und hegte seitdem einen Groll gegen ihn. Andererseits hatte sie als Einzige akzeptiert, dass er seinen eigenen Weg gehen musste. Hatte sie nicht gewollt, dass er wegen dieser Sache zurückkam und dadurch vielleicht seinen Auftrag verlor?
Junker kämpfte das Schwindelgefühl nieder, das ihn zu befallen drohte. Er verfluchte das Schicksal, das ihn gerade jetzt hatte in der Nähe kreuzen lassen. Das Weltall war riesengroß und ausgerechnet er musste den Piraten jagen, der das Diplomatenschiff angegriffen hatte. Seinen Bruder. Das und das Flüstern von Fischer brachte ihn zurück in den Kommandoraum. »Käpt´n, wir sollten das Wrack verlassen.«
Er nickte und fixierte seinen Bruder.
»Das sind keine guten Nachrichten, sicher. Aber wegen der Beweise werdet ihr dennoch entschädigt worden sein. Warum also überfällst du andere Schiffe?«
Schon beim Sprechen merkte er, dass das unglücklich ausgedrückt war.
»Ganz der kühle Kapitän einer Fregatte. Entschädigt, was für eine elende Bezeichnung. Und glaubst du, das Konsortium hat sich nicht gewehrt? Der Ausgleich reichte nur, um gerade so zu überleben. Mutter hatte keine Kraft mehr.«
›Und du wolltest Rache, nicht wahr?‹, vollendete Oberst Junker für sich den Satz.
»Wie du meinst«, sagte er, um das schlecht gelaufene Gespräch an dieser Stelle zu unterbrechen. »Steh auf, wir gehen jetzt. Vielleicht reden wir später.«
Der Blick seines Bruders veränderte sich beinahe unmerklich, wurde eine Spur eisiger.
»Irrtum. Gehen werde nur ich.«
Mit einem Satz war Fischer heran, die Waffe im Anschlag.
»Der Kapitän hat Ihnen befohlen, aufzu ...«
Bevor Junker das Bewusstsein verlor, stach ihm ein unangenehmer Geruch in der Nase. Er konnte nicht mal den letzten Gedanken zu Ende formulieren.
›Eine Falle. Es war doch eine Falle gewesen!‹
Die Erinnerung und der Schreck darüber ließen ihn schlagartig völlig wach werden. Er schlug die Augen auf und stand im nächsten Moment auf seinen noch wackeligen Beinen. Graue Wände, eine Metalltür mit Schlitz. Er fasste sich stöhnend an den Kopf, als ein stechender Schmerz in seinem Gehirn explodierte.
»Ziemlich übles Zeug, das die verwendet haben.«
Junker fuhr herum und starrte Major Klein an, der an der kargen Wand der kleinen Zelle angelehnt saß.
»Wo sind wir?«
»Auf der ›Duisburg‹, Kurs unbekannt, Käpt´n. Setzen Sie sich doch.« Junker ließ sich neben seinem ersten Offizier nieder.
Manfred hatte also tatsächlich ... Aber wie hatte er es geschafft, die Crew an Bord zu überwinden?
»Sie kennen anscheinend das Belüftungssystem einer Fregatte. Denn nachdem die ersten Ausfälle durch die über die Brücke ausgetauschte Luft auftraten, hatte ich Schotten dicht befohlen. Doch das Gas war bereits im Kreislauf.«
»Die Mannschaft?«
Der Schock über die Tat seines Bruders und viel mehr die Wut über seine Naivität schienen sein Sprachzentrum angegriffen zu haben.
»Ludwig und seine Leute, Hansen, Fischer und die Maschinencrew sind in einem Shuttle nach Jalketta III geflogen worden. Die Kommandomannschaft steckt hier in unseren eigenen Zellen fest. Saubere Aktion, das muss ich den Piraten lassen.«
»Major!«
»Käpt´n, eine Fregatte ohne einen einzigen Verletzten oder Toten zu erobern, ist ein verdammter Geniestreich. Dass Sie und ich zu den Verlierern zählen, ist natürlich unangenehm.«
Das waren sehr höfliche Worte. »Unangenehm, soso.«
Junker stand auf und ging zur Tür. Von draußen hörte er leise Stimmen. Also hatte Manfred zusätzlich Wachen aufgestellt. »Hat schon jemand nach uns gesehen?«
»Nein. Ich bin nur wenige Minuten vor Ihnen wachgeworden.«
Erst jetzt fiel dem Oberst auf, dass sein Erster Offizier ziemlich auf dem Laufenden war.
»Sagen Sie mal, warum können Sie dann meine Fragen so gut beantworten?« Skepsis machte sich in seinem Gesicht breit.
Klein erhob sich jetzt auch und wedelte mit einer beschriebenen Folie. »Die hat auf dem Boden gelegen.« Er reichte sie seinem Kapitän, der den Text überflog. »Diese abgelöste Kabine war ein Enterboot? Ich fasse es nicht.« Klein grinste, als er erwiderte: »Ich sagte doch - Geniestreich.«
Er ging zur Tür und schlug heftig dagegen.
»Dann wollen wir denen mal klarmachen, dass wir wach sind.«
»Du hast mir mein Schiff geklaut, weil du ...?«
Junker blieben die Worte im Hals stecken. Sein Bruder musste größenwahnsinnig geworden sein.
»Es ist nicht dein Schiff, auch wenn man das so sagt. Es gehört der Flotte. Und ja, ich will den Kerl kriegen.«
»Warum meldest du nicht der Sicherheit, dass du eine Spur hast?«
Der Blick, mit dem ihn Manfred jetzt musterte, ließ Junker erschauern. Kalt und überheblich. Unberechenbar.
»Und wieder hast du keine Ahnung, wovon du redest. Bruder, der Mord ist beinahe vierzig Jahre Echtzeit her. Niemand interessiert sich noch dafür.« Er sprang von seinem Sessel auf, und begann, in der Zentrale umherzulaufen.
»Natürlich habe ich das zuerst tatsächlich versucht, ich Idiot. Dabei hätte mir klar sein sollen, dass es so nicht funktioniert.«
»Aber das ist Irrsinn, Manfred. Wie willst du mit der ›Duisburg‹ durch die ganzen Kontrollen kommen? Du kannst da nicht einfach hinfliegen.«
»Das ist nicht dein Problem, die Fregatte wird bis dahin keiner mehr erkennen. Und wegen der Satelliten kann ich hoffentlich auf dich zählen.«
Das wurde ja immer besser. Jetzt sollte er noch zum Handlanger seines verbrecherischen Bruders werden.
»Vergiss es, ich bin Kapitän der Flotte. Ich werde nicht meinen Eid brechen wegen eines rachsüchtigen Piraten, selbst wenn der mein Bruder ist. Lass den Unfug und ich überlege mir was. Aber ich werde dir nicht helfen.«
Junker spürte, wie heißes Blut seinen Kopf zum Glühen brachte. Es war absurd, dass er hier auf der Brücke, vor der Crew seines Bruders, mit ihm stritt.
»Ich hatte nicht erwartet, dass du sofort einwilligst. Wir haben Zeit, denn selbst im Dillatationsflug dauert es eine Weile, bis wir da sind. Wenn wir Glück haben, lebt der Pilot sogar noch, der Vater auf dem Gewissen hat. Die Gerüchte, die ich aufgeschnappt habe, sagen, dass er sich bester Gesundheit erfreut.«
»Und«, begann Manfred den nächsten Satz, »zur Erde wollte ich immer schon. Und dann noch einige Jahre durch´s All kreuzen. Hab ich meinen Leuten versprochen. Ist doch so.«
Die Männer und Frauen, die nun an den Kontrollen seiner ›Duisburg‹ saßen, lachten und stimmten ein altes Seefahrerlied an.
ENDE