Piranha statt Pasta
Sie steht nun schon seit dem frühen Nachmittag hier und hat dabei fast vergessen, weswegen sie sich heute wieder auf den Weg gemacht hat. Beinahe täglich kommt sie, immer mit derselben Absicht. So wie die anderen Frauen auch, die alle ähnlich gekleidet am Weg zum kleinen Hafen vor den Restaurants stehen. Sie kennen sich – verbindet sie doch zumindest das gleiche Schicksal wenn nicht gar familiäre Bande.
Versunken schweift ihr Blick über das silbrig schimmernde Wasser, das vom unendlich erscheinenden Grün eingerahmt zu ihren Füßen liegt. Ab und zu durchschneiden schmale Boote die funkelnde Fläche wie sich abwechselnde Gedanken. Der Takt der eintönig vor sich hin tuckernden Motoren ist der Rhythmus ihres Daseins. Die Schönheit des Panoramas hat keine Chance in ihr Inneres vorzudringen – zu vertraut ist der Anblick, zu normal alles was um sie vor sich geht.
Auf diese Weise hat sie in ihrem bisherigen Leben schon viele Tage verbracht. Dies immer wieder mit derselben bescheidenen Hoffnung - am Abend wenigstens mit ein paar Münzen in der Tasche zu ihrer Familie zurück zu fahren.
Als Ana heute Morgen das Taxi an den Rand der Stadt nahm, hatte sie jedoch keine großen Erwartungen; es würde sicher ein Tag wie jeder andere werden – vielleicht ein paar einheimische Urlauber, meist aus der großen lauten Hauptstadt - aber an denen ist kaum etwas zu verdienen. Sie handeln sie oft so weit herunter, dass gerade ihre Unkosten abgedeckt sind. Ganz anders verhalten sich die meisten ausländische Kunden; auf solche jedoch wagte sie kaum zu hoffen.
Abends wird sie sich dann wieder vor das Moskitonetz setzen, unter dem ihre Kinder auf dem harten Bretterboden schlafen, um beim nächtlichen Konzert der Frösche und Zikaden die Saat für den nächsten Tag zu legen. Sie macht das gern und so ist es keine Arbeit für sie – eher eine Art Meditation in der sie vollständig im Hier und Jetzt versunken ist.
Aber da sickert die Gegenwart wieder in ihr Bewusstsein ein. Zwei Personen kommen auf sie zu: Die eine vertraut, die andere fremd. Es sind die älteste Schwester ihrer Mutter und ein wesentlich jüngerer Mann. Ihre Tante lebt nicht im Dorf, sie wohnt hier am Rand der großen Stadt. Trotzdem sehen sich fast täglich, da sie sich beide hier am Ufer der Lagune am ehesten Hoffnung auf ein wenig Geld machen. Der Unbekannte dagegen scheint aus einem anderen Land zu kommen.
Als Ana schließlich abends ins Taxi steigt, ist sie voller stiller Dankbarkeit dass die kommenden Tage etwas anders als gewohnt verlaufen werden und sie sich die eine oder andere Kleinigkeit mehr werden leisten können. Außerdem wird sie ihre Kinder mal wieder tagsüber sehen.
Dann ist es soweit: Der Fremde hat Wort gehalten. Ana hat bereits die Kinder versorgt und sitzt schon eine geraume Zeit über ihrer Arbeit, als sie ihren Mann Will zusammen mit dem Besucher vom Gesundheitsposten ihres Dorfes zurückkommen sieht.
Ab dem ersten Tag bei ihnen ist Thomas Teil der Familie und kein Fremder mehr. Wenn er nicht mit Wil und dessen Freund Juan, dem stellvertretenden Dorfvorsteher unterwegs ist, leistet er ihr bei der Arbeit Gesellschaft und sie unterhalten sich ab und an über ihre unterschiedlichen Leben. Die meiste Zeit jedoch verbringen sie ohne Worte in der angenehmen Stille des Augenblicks.
Wil und Juan unternehmen mit ihrem Gast viele Streifzüge durch das Dorf. Bei dieser Gelegenheit werden Thomas viele Bewohner vorgestellt, die sich so gut es geht am Rande der Stadt zwischen Vergangenheit und Zukunft durch ihr bescheidenes Leben schlagen. Der Urwald um ihre Siedlung musste einst Viehweiden weichen, die inzwischen auch schon wieder überwachsen sind. Nur ein winziger Rest des Primärwaldes konnte gerettet werden. Ein, von einer ausländischen NGO finanzierter Zaun schützt jetzt die Kommerzialisierung der übrig gebliebenen alten Bäume. Stolz begleiten Juan und Wil ihren Besucher zu diesem „jardin botanico“, dem Botanischen Garten des Dorfes. Don Carlos, ein altes Stammesmiglied führt sie und lässt sie im geheimnisvollen Klang seiner Sprache - übersetzt von Juan - eintauchen in die Mythen seiner Vorfahren. Er zeigt Thomas die Pflanzenvielfalt und macht ihm dabei unbewusst bewusst, welches Wissen über die Natur im Begriff ist in der schnelllebigen Moderne zu verblassen.
Bei den Begegnungen mit der Dorfjugend wird klar, worin die junge Generation ihre Hoffnungen für die Zukunft sieht: Juana, die Nichte von Wil möchte Tourismus studieren. Bitia, Wils junge Schwägerin strebt an Krankenschwester zu werden und ihre Freundin Rosa hat vor Modedesign zu studieren.
An einem Abend nehmen Bitia und ihr Bruder den Besucher zur Abschiedsfeier eines Freundes mit, der sich am nächsten Morgen auf die Reise in einen neuen Lebensabschnitt machen will. Nach drei Tagen auf dem Linienschiff wird er dann die nächste große, mitten im Urwald gelegene Stadt erreicht haben und dort sein Studium der Forstwirtschaft beginnen.
Am nächsten Tag bereitet Ana wie immer das Mittagessen zu. Nachdem alle bereits seit einer Weile ihre Mahlzeit beendet haben, wendet sich der Gast an Ana. Er fragt sie, ob sie beim nächsten Mal vielleicht mal etwas anderes kochen könne. Außerdem äußert er den Wunsch, gerne mal etwas Obst essen zu wollen. Diese Bitte kann Ana mehr als verstehen – ja mehr noch, sie macht innerlich einen Freudensprung als Thomas ihr einen Geldschein in die Hand drückt und sie bittet auf den Markt zu gehen. Damit rennt er bei ihr offene Türen ein, denn wie sehr würde die ganze Familie sich über etwas Abwechslung im Speiseplan freuen. Denn sie kocht beinahe jeden Tag das Gleiche. Aber nicht weil Spagetti mit dünner Tomatensauce unbedingt ihre Leibspeise ist, sondern weil sie sich im kleinen Dorfladen mehr nicht leisten können. So serviert Ana am nächsten Tag Hühnchen mit Reis und beim Nachtisch genießen alle die Süße der erstandenen Früchte.
Die darauf folgenden Tage fließen beinahe wie gewohnt gemächlich dahin. Sie bestehen aus den, sich immer wiederholenden Tätigkeiten: Feuer in der einfachen Feuerstelle schüren, Essen zubereiten, Wäsche in der Plastikwanne waschen, Kinder versorgen und dazwischen neue Ware herstellen.
Umso mehr freut sich Ana als ihr Wil erzählt, dass der Gast etwas mehr von der Umgebung des Dorfes kennenlernen möchte. So starten sie eines Morgens mit ihrer dreijährigen Tochter Gina zu einer Flussfahrt. Thomas hatte den Wunsch geäußert, eine Bootstour flussabwärts zu unternehmen, und so hatte Wil ein „Peke-Peke“ samt Fahrer organisiert. Dieses Langboot ist hier das Verkehrsmittel schlechthin. Es wird meist als Linientaxi oder Fischerboot verwendet und sein Motorengeräusch ist zugleich sein Name.
Juan und zwei weitere Dorfbewohner schließen sich dieser Exkursion an. So kann Juan das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden: Zuerst kaufen sie Fischern etwas von ihrem Fang ab und dann angeln sie selbst noch ein paar Piranhas, um dann eine Insel im großen Strom anzulaufen. Auf ihr lebt eine Gruppe ihres Stammes unter schwierigen Bedingungen und Juan will sich selbst ein Bild über ihre Lage machen. Da er zu einem Treffen des neu gewählten Präsidenten des Landes mit Aktivisten der Eingeborenen eingeladen wurde, möchte er die Gelegenheit nutzen, um auch über ihre Situation zu berichten.
Die Gruppe wohnte vor noch wenigen Jahren am Flussufer, auf ihrem eigenen Grund und Boden. Doch die Natur scherte sich nicht um die menschengemachte Gesetze, die jetzt auch hier am Rande der Zivilisation gelten; so hatte der Fluss ihr Stück Land einfach mitgenommen. Jetzt leben sie mehr schlecht als recht auf dieser Sandinsel, diesem Niemandsland, das der Strom nur in der Trockenzeit vollständig freigibt und das Leben in der Regenzeit extrem erschwert. Die Hütte, die als Schule diente war durch die Überschwemmung stark in Mitleidenschaft gezogen worden und die vom Staat zugewiesene Lehrerin hatte vor ein paar Monaten aufgrund der prekären Umstände fluchtartig die kleine Ansiedlung verlassen. Sauberes Trinkwasser gibt es nicht und auch ansonsten ist die Versorgung der unfreiwilligen Insulaner schwierig. Derartig geht es weiter und Juan muss die Leute bei ihren Schilderungen antreiben, um mit seiner Reisegruppe noch vor Anbruch der Dunkelheit wieder im Dorf zu sein.
Bei ihrer Rückkehr dämmert es bereits. Als die Piranhas fertig gegrillt sind, sieht man kaum noch die Hand vor den Augen.
Am nächsten Morgen kündigt das Krähen der Hähne den neuen und letzten Tag, den Thomas mit ihnen verbringen wird an. Als dieser den Schleier seines Bettes hebt, hat der Ringkampf zwischen der Melancholie des Abschieds und Vorfreude auf das Wiedersehen mit seiner Familie und den Annehmlichkeiten des modernen Lebens bereits begonnen. Noch ahnt er nicht, wie leicht der Fluss des Unvermeidlichen durch das Unerwartete für einen angenehmen Augenblick lang angehalten werden kann.
Nach dem Mittagessen kommt die ganze Familie, einschließlich Anas Mutter zusammen. Jede der Frauen hat eine einfache, dünne Plastiktüte dabei. Alle setzten sich im Kreis auf den Bretterboden der Hütte. Eine gewisse Feierlichkeit liegt in der Luft und in dieser besonderen Atmosphäre ist der Gast sehr gespannt darauf, was nun wohl kommen wird.
Ohne große Umschweife, fasst eine der Frauen nach der anderen in ihren Beutel und holt die darin befindlichen Kostbarkeiten heraus. Thomas staunt, welche Vielfalt an Farben und Formen da zum Vorschein kommt: Filigrane Armbänder aus kleinen Perlen, aus aufgefädelten Samen hergestellte Ketten, Armbänder und Schlüsselanhänger in Form kleiner Figürchen. Die Herstellung vieler dieser Dinge hatte er bereits beobachten können. Einige Teile der jeweiligen Kollektion sind aber neu, da jede der Frauen neben „Standartmodellen“ auch individuelle Kreationen erschaffen hat. Doch wozu breiten sie all ihre Schöpfungen vor sich aus? Schon will sich Ernüchterung breit machen. Soll das ein abschließendes „Verkaufsgespräch“ werden? Sollen die vergangen, von gegenseitigem Respekt geprägten Tage doch hauptsächlich nur als nüchternes Geschäft in Erinnerung bleiben?
Ana beginnt und überreicht Thomas ein Schmuckstück nach dem anderen. Dem schließt sich ihre Schwester Bitia an und schließlich hat auch Anas Mutter noch einige Kostbarkeiten die sie feierlich übergibt. Nachdem sie in ein etwas ratlose Gesicht blicken, erklärt Ana: „Son regalos para ti!“ Erst langsam beginnt Thomas zu begreifen und je klarer es ihm wird, desto intensiver wird das Kribbeln im Bauch. Heute hatte es keine Pasta zum Mittagessen gegeben…