Pilze im Vondelpark
Pilze im Vondelpark
Maxi war 20, als er, an einem schönen Sommernachmittag, das erste Mal Pilze nahm. Er hatte kurz zuvor Huxleys „Doors of perception“ gelesen, und war nicht wenig begierig darauf, die dort beschriebenen transzendenten Erfahrungen einmal selbst zu machen. So war er nach Amsterdam gereist. Und hatte sich eines schönen Nachmittages, ein Tütchen mit Pilzen in der Tasche, in den Vondelpark gesetzt.
Er saß, an einen dicken Baum gelehnt, im Schatten, und vor ihm war ein Teich. Die Dinger schmeckten übrigens reichlich sonderbar, nicht nach japanischen Tintenfisch-Snacks, nach Leder aber auch nicht, nicht süß, und nicht bitter. Maxi kaute, schluckte, und trank dann aus seiner Cola-Flasche. Wartete. Und wartete. Also sehr transzendent ließ das Ganze sich ja nicht an! Da vor ihm war der Teich, Enten schwammen darauf, und wenn zuweilen etwas Wind aufkam, verursachten die scharfen, an einander sich reibenden Kanten der länglich geformten Schilfblätter, die dort drüben zur Linken zu Hauf wuchsen, ein mahlendes Geräusch. In den Wipfeln hoch über ihm aber war es wie Rauschen einer Menschenmenge, einer Menschenmenge etwa, die zu einem Konzert sich eingefunden hat, und nun schwatzend, lachend, aber unverkennbar gespannt darauf wartet, dass es endlich losgeht. Tssstza-tssstza-tssstza-tssstza... Das war die Hi-Hat. Und schau mal da, ein gelbes Blättlein! Es musste sich eben von da oben gelöst, und heruntergefallen sein, direkt vor seine Füße... Eine leichte Übelkeit befiel Maxi, oder etwas wie Seekrankheit. Vielleicht besser etwas rüber in die Sonne gehen, sich dort ein Plätzchen suchen. Maxi nahm die Cola-Flasche. Dann stand er auf.
Da es Sonntagnachmittag war, war der Park reichlich bevölkert. Den unterschiedlichsten Beschäftigungen gingen die Menschen nach. Manche spazierten, die Frauen mit großen Hüten, einfach auf den Wegen umher, während andere sich auf den Grünflächen niedergelassen hatten, sich sonnten, picknickten, lasen, Karten spielten. Da jonglierte jemand mit Keulen; da hatte man ein Seil ausgespannt, darüber zu balancieren; und dahinten standen drei, die sich eine Frisbee-Scheibe zuwarfen. Ein leichter Geruch von Grillfleisch lag in der Luft. Und über alldem strahlte, vom blauen Himmelszelt herab, die Sonntagnachmittagssonne, niemanden bevorteilend, niemandem arg, sondern allen, wie es schien, wohl gesonnen.
Maxi streckte sich, es lag sich weich auf der Grünfläche, in der Sonne aus, vor sich, einem Leuchtturm ähnlich, schwarz und weiß und rot die Cola-Flasche. Es war angenehm, anders als Alkohol, nicht so sinnlich, und sinnlich doch auf eine brillante, exzeptionelle Weise. Maxi fühlte sich beschwingt, sah aber keinerlei Anlass, seiner inneren Beschwingtheit irgendwie körperlich Ausdruck zu verleihen. Ein bisschen war es, als habe sich ein Ameisenstaat in seinem Nervensystem eingenistet, und nun zögen die Tierchen, emsig-eifrig, allerlei Geschäfte und Verabredungen in ihren Köpfchen, auf seinen Nervenbahnen hin und wider, mit ihren vielen kleinen Beinchen ein leises Prickeln verursachend. Maxi erschrak. Denn für einen Moment war ihm gewesen, als habe der bleiche Mensch dort drüben, der übernächtigt aussah und nicht recht hierher zu passen schien, ihm zugenickt, so, als sei Maxi ein Mitwisser, wisse, welche Bewandtnis es habe mit seiner Blässe, und wie der längliche, kirschrote Blutstropfen in einem der Winkel seines schmallippigen, halb geöffneten Mundes, zu deuten sei... Maxi hatte sich rasch abgewandt und zur Cola-Flasche gegriffen, jedoch mit Entsetzen festgestellt, dass dem schwärzlichen Getränk urplötzlich jener kirschfarbene Rotschimmer eignete, der genau demjenigen des Blutstropfens im Mundwinkel des – „Huoha“, machte Maxi, und schüttelte sich. Nur ruhig bleiben, dachte er. Was waren das auf einmal für fatale Vorstellungen, welche Entstellung der Welt ins Grauenhafte! Er sah sich um, und es kostete ihn einige Mühe, zu erkennen, dass alles um ihn her seinen friedlichsten Gang ging. Es komme auf die innere Einstellung an, erinnerte er sich nun gelesen zu haben. Schwachsinn!, sprach Maxi, sprach es trotzig dem noch immer rot schimmernden Getränk in seiner Cola-Flasche entgegen, trank, und merkte gleich, wie ihm das guttat. Er hatte das Bedürfnis, pinkeln zu gehen, blieb aber für's Erste doch liegen auf seiner Matte, und rollte sich einen Joint – sollte ja, neben Zuckerzufuhr, ein probates Mittel sein, einen etwas überhand nehmenden Pilzrausch wohltuend abzudämpfen – wie es wirklich dann auch geschah.
Einige Meter rechts von der Stelle, wo er lag, hatte kürzlich ein Grüppchen Picknick-Volks, vier Kerle, tätowiert und sonnenbebrillt, und eine Frau, Stellung bezogen, und als Maxi aus seinem Blut-Schrecken plötzlich hochgefahren war, hatten sie, ihm war das nicht entgangen, eine Weile misstrauisch ihn beäugt, um dann im Lachen, Schwatzen und Biertrinken fortzufahren. Maxi überlegte jetzt, ob es besser wäre, umzuziehen, da das Grüppchen ihm nicht sonderlich behagte, diese Kerle nicht in ihren Muskel-Shirts, und auch die Frau nicht, die in ausnehmend gemeiner Weise lachte, und deren Mund und Ohren mit Piercings übersät waren. Aber wie er noch dagelegen, und die Abneigung gegen das Grüppchen, die ihn fortgehen hieß, in ihm mit der Trägheit gekämpft hatte, ohne dass eine von beiden die Oberhand hätte gewinnen können, da war auf einmal ein leiser warmer Wind durch den Park gegangen, über die Wiese hin und durch die vielen Bäume, ein besänftigend und gleichsam versöhnlich stimmender Wind, und so war Maxi denn doch liegengeblieben und hatte, beschäftigt auf einmal und in Anspruch genommen durch ganz andere Eindrücke, das Grüppchen alsbald vergessen.
Da war nämlich die Wiese, der Rasen, auf dem er lag – ein freilich in keiner Weise ungewöhnlicher, wenn auch gut gepflegter Park-Rasen, mit Halmen, um ein Weniges länger als diejenigen auf einem gut bespielbaren Fußballfeld. Zu nichts weniger als körperlicher Bewegung, wir sagten es bereits, war Maxi jetzt aufgelegt, und obwohl er gerne Fußball spielte und da hinten auch welche sah, die, über ein ausgespanntes Netz hinweg, „Luft-Ball“ spielten, was, wie er wusste, großen Spaß machen konnte – er hätte jedes Angebot, bei solch fröhlichem Treiben mitzutun, dankend abgelehnt, und die Abneigung gegen jede Art körperlicher Bewegung, die seinen Organismus in schweißtreibenden Aufruhr versetzt haben würde, war, recht besehen, nicht mal der stärkste Grund. Der stärkste Grund war, dass er einfach hier liegen und schauen, einem Schauspiel beiwohnen und es aufsaugen wollte: dem Schauspiel nämlich des – seltsam genug, es zu sagen – sacht windbewegten Rasens und seiner Halme. Es entzückte ihn und dünkte ihn höchst bedeutsam, und er gedachte einer antiquierten wissenschaftlichen Theorie, die, vor Einstein, die Ablenkung und nachweisliche Krümmung des Lichtstrahls im Raum durch den „Ätherwind“ zu erklären versucht hatte – den Fahrtwind also, den die Erde auf ihrem Weg durch den Raum erzeugen, und der dafür verantwortlich sein sollte, dass der Lichtstrahl, diesem Wind ausgesetzt, sich bog...
Was hier, vor Maxis Augen, sich bog, wippte, schaukelte, schwankte, sich senkte, duckte, und dann wieder aufrichtete – das war allerdings nicht das Licht, nein, obwohl das Licht es war, das alldem allererst seine tiefe, herzentzückende Bedeutung gab. Die Hälmchen waren es, Millionen windbewegter Hälmchen, und ihr Glitzern, Funkeln, Schimmern im Licht... Dass ihm das niemals aufgefallen war, dachte Maxi. Dass ihm niemals aufgefallen war, wie nahe das Wunder lag. Als Kind hatte er, auf Bootsfahrten, immer schon die glitzernden Lametti-Teppiche auf dem Wasser bewundert, die an Weihnachtsschmuck erinnerten, und doch ungleich kunstvoller und vielsagender als aller Weihnachtsschmuck waren. Aber das war ein vergleichsweise dumpfer, diffuser Eindruck gewesen im Vergleich zu dem, was er jetzt sah. Denn es war an dem – und dies war das eigentlich Wunderbare –, dass er, zugleich und im selben Moment, das Ganze und jedes Einzelne wahrnahm, die Gesamtheit und Vielheit auf einmal und in einem Zuge. Mehr noch, dass... dass beide nur rein theoretisch zu trennen, zu unterscheiden... dass sie vielmehr... vielmehr... Dies war überwältigend! Ganzes und Teil waren zugleich da, vielmehr: Sie waren identisch, zu scheiden nur rein verstandesmäßig. Und wenn Maxi auch sehr viel später erst fähig sein sollte, dieses sein Erlebnis in philosophischen Begriffen sich zu explizieren – begriffen hatte er es hier schon. Er sah es, sah die Einheit, sah im Glitzern dieses Vondelpark-Rasens die Illusion der Zeit aufgehoben, begriff, dass es nicht dies oder das war, was es zu erkennen galt – verheerender Irrtum! –, sondern dass... sondern dass...
Maxi hatte sich eine Tüte gebaut, ein stark qualmendes Ding, und man hatte ihn, von Seiten des Grüppchens her, wieder misstrauisch beäugt, und einige Gesprächsfetzen, die er aufgefangen, hatte er sich als Vorwurf gegen sein Sein und Treiben hier gedeutet. Es war, er wusste es, Zeit, aufzubrechen. Er verbrannte sich ein bisschen, als er, mit ungeschickten Fingern, den Joint in der Erde zwischen den Grashalmen auszudrücken versuchte. Dann wollte er aufstehen. Allein – es ging nicht! Sein Oberkörper, nun ja, der war da, hier war alles in Ordnung. Aber seine Beine! Da lagen sie, ausgestreckt vor ihm, eine Art Skulptur, die er, wie er sich jetzt entsann, schon seit längerer Zeit als gar nicht mehr recht zu ihm gehörig betrachtet hatte! Aber dann ging es doch, und Maxi schaffte es sogar, im Schatten eines Strauchs, sich zu erleichtern, wenngleich er dabei die Befürchtung nicht ganz loswerden konnte, im nächsten Moment würde eine Schlange aus dem Geblätt hervorkriechen.. Brainwashed, dachte Maxi, als er sich dann in Bewegung gesetzt und Kurs auf seine Unterkunft genommen hatte, wo ein älterer Typ, der mit ihm das Zimmer teilte, gleich hatte wissen wollen, wie es denn gewesen. Maxi kam jetzt langsam runter, lehnte das nicht ab, begrüßte es aber auch nicht sonderlich. Es dauerte etwas, bis das Bier ihm wieder schmeckte. Und Musik ging ihn, zu seiner Verwunderung, erstmal gar nichts an.