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Pillenreutherstraße
Punktlandung. Perfekt.
Aber ich fühle mich, als wäre ich eben zerrissen und überhastet wieder zusammengesetzt worden. Mir ist schwindelig. Die Haut ist zum Zerreißen gespannt, die Eingeweide brennen, Gelenke schmerzen, Finger und Füße kribbeln, als hätte ich die ganze Nacht darauf geschlafen. Aber es klingt schnell ab und meine Gedanken klären sich.
Der Luftstoß bei meiner Ankunft hat nicht einmal etwas umgeworfen, lediglich die Gardine und die Deckenlampe schwingen noch ein wenig. Die gehäkelte Tischdecke und eine Zeitung wurden etwas zusammengeschoben.
Dies ist die Krönung all der Arbeit der letzten Monate.
Ich muss leise lachen: Tachyonen! Hätte ich vor wenigen Jahren einem Kollegen erzählt, dass Tachyonen eine wichtige Rolle in der praktischen Temporalphysik einnehmen würden, hätte der mich ausgelacht. Und doch benutzen wir einen Tachyonengenerator, um Objekte wie Steine, Gebäude oder Bäume zu bestrahlen.
Diese bestrahlten Objekte dienen als Fixpunkte, um in einem sich unberechenbar bewegenden Universum mit Hilfe eines an die Dreieckspeilung angelegten Verfahrens den richtigen Punkt in der Raumzeit zu finden. Allerdings ist die Strahlung nur bis maximal 150 Jahre in der Vergangenheit brauchbar, für frühere Zeiten wird die Streuung zu groß. Gerne hätte ich Karl den Großen besucht oder die Monumentalbauten Roms bestaunt.
Neben der Mechanik hinter den Tachyonen war die Materieversetzung eines der letzten Puzzleteilchen. Mit Schaudern denke ich an Jerry zurück, unsere Experimentalmaus, die als erste Zeitreisende einen Sprung von fünf Minuten machte. Am Zielort mussten ihre Moleküle sich den Platz mit der vorhandenen Luft teilen. Heraus kam ein ziemlich unappetitliches Ende für Jerry, dessen Moleküle nicht den richtigen Platz fanden. Einige Klumpen setzten sich richtig zusammen, aber der Rest der kleinen Maus endete als Matsch. Wir hatten unserem Mäusehelden vorher die besten Wünsche mitgegeben, es war ein trauriger Tag für das ganze Team. Wir mussten uns zusammenreißen, dem Teil des Experimentalteams, das ihn fünf Minuten später losschicken würde, seinen Job machen zu lassen.
Die Lösung war schließlich, dass wir nicht den ganzen Körper mit einem Schlag versetzen, sondern von den Füßen aufwärts innerhalb einer hundertstel Sekunde den Körper aufbauen. Das ist schnell genug, damit der Reisende nicht auseinander fällt und langsam genug, damit die Luft verdrängt werden kann. Aber es ist auch der Grund für die sehr schmerzhafte Ankunft.
Ich halte die Luft an und horche, ob jemand in der Wohnung ist. Nichts zu hören bis auf die Straßengeräusche. Ich grinse breit und lasse die Luft zischend durch meine Zähne entweichen. Scheint so, als wäre ich tatsächlich in der Zielwohnung gelandet. Ich stelle meinen unauffälligen, zeitgemäßen Koffer ab, falte die Sprungmaschine zusammen, dass auch sie aussieht, wie ein Koffer und schaue mich um.
Ich sehe ein grünes Sofa an einer Wand. Ein dunkler Holzschrank steht an einer anderen, darauf eine tickende Uhr. Es ist zwanzig nach acht, die Abendsonne beleuchtet warm die Häuser auf der anderen Straßenseite. Ein runder Tisch mit der zusammengeschobenen, weißen Häkeldecke steht beim Sofa, dabei zwei zum Sofa passende Sessel. Neben dem Schrank eine Vitrine mit Gläsern und Getränken, auch Weinbrand. Ein dicker, weiß-grün-gemusterter Läufer liegt auf dem Holzboden. Nichts knarrt, die Dielen wurden gut verlegt. In einer Ecke steht ein einfacher Stuhl, in einer anderen ein Beistelltisch.
Eine Wohnung in Deutschland. Sie wirkt gemütlicher, als alte Fotos es mich glauben ließen. Ich sehe auf die Zeitung auf dem Tisch, um die Zeit zu bestätigen. Das ist eigentlich nicht nötig, denn ich höre die markante Stimme, die leise und undeutlich vom Wind aus der Arena herübergetragen wird: „... kann keine laue Generation, keine verweichlichte Jugend brauchen.“
Ich bin richtig, ein Blick aus dem Fenster bestätigt dies: Nürnberg, 30. Juli 1932. Ich befinde mich in der Wohnung des Ehepaars Kagerer im zweiten Stock eines Eckhauses der Peter-Henlein-Straße zur Pillenreutherstraße. Und das Wichtigste: Ein freier Blick in Richtung Wölckenstrasse.
Ich höre hinaus auf die Worte, die in der Arena gesprochen werden. Sie sind schwer zu verstehen, dennoch zerreißt es mir fast das Herz. Denn ich kenne sie auswendig, musste sie vor dieser Mission lernen: „Darum bitten wir Sie für morgen, raffen Sie sich auf zur befreienden Tat ...“
Nur, wenn man weiß, was kommen wird, wird die Tragweite dieser Worte klar. Wer die Bilder der Ermordeten und Befreiten aus den Konzentrationslagern kennt, der will schreien: „Wählt den Mann nicht! Rettet Euch selbst! Rettet alle!“ Aber die Menschen sind fasziniert von der Aussicht auf politische Größe. Von der Befreiung aus einer eingeredeten Schmach. Ich höre die letzten Sätze, die Hitler in dieser Wahlkampfrede auf der Zeppelin-Tribüne hält. „Ein Tag der Befreiung und eine Wende ist angebrochen, wenn Sie Ihre Pflicht erfüllen.“
Ja, meine Pflicht erfüllen, das will ich. Jetzt mehr denn je. Ich werde diesen Wahnsinn beenden, bevor er angefangen hat. Die Rede ist vorbei, die Masse jubelt – wie immer.
Mir wird kotzübel, mein Blick wandert zur Vitrine. Es verstößt eindeutig gegen jede Regel und Vernunft, aber der Weinbrand beruhigt mein Herz und meinen Verstand. Immerhin werde ich in etwa zwanzig Minuten einen Mord begehen. Es ist gerecht, rede ich mir ein. Doch es bleibt Mord. Darauf kann Dich auch monatelanges Training nicht vorbereiten.
Ich schließe die Augen, atme durch. Wir haben lange überlegt, was mit der neuen Technologie alles möglich wäre. Meine Gedanken stocken: wir haben überlegt; wir werden überlegen; wir werden überlegt haben. Verwirrende Grammatik, ich entscheide mich für meine subjektive Sicht: wir haben überlegt.
Wir wollten etwas wirklich Wichtiges zu bewegen, falls es funktioniert. Also beschlossen wir, Adolf Hitler zu töten, bevor er Reichskanzler würde.
Wir beschlossen, den zweiten Weltkrieg zu verhindern, den Holocaust, die Millionen Toten.
Also musste einer aus unserem 15-köpfigen Team sich freiwillig melden. Jemand Externes schied aus. Denn wir befürchteten angesichts der Möglichkeiten, jemand von außen könnte die Technologie entführen und missbrauchen. Die Gefahr besteht natürlich auch jetzt noch, aber ganz ohne Risiko geht es nicht. Außerdem waren wir uns unsicher, ob es wirklich funktionieren würde. Mittlerweile sehe ich das anders, leider eine sehr späte Einsicht.
Fünf Kollegen meldeten sich freiwillig. Den Ausschlag gab mein Ausdauersport, den ich seit Jahren betreibe. Eine stabile Konstitution ist hilfreich.
So bekam ich also Training an einer Waffe, die über dunkle Kanäle organisiert wurde, ein wenig mehr körperliche Ertüchtigung sowie den Segen eines Priesters - man kann ja nie wissen.
Ich dachte zunächst, es würde eine heroische Großtat werden, aber je mehr ich drüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich. Ich weiß, dass ich damit unfassbares Leid verhindere. Aber ich bin der einzige, der das weiß. Für alle anderen wird es aussehen, wie ein feiges Attentat auf einen aufstrebenden Politiker.
Also legte ich mir ein Mantra zurecht: Einer stirbt, dafür leben Millionen. Tief durchatmen und weitermachen. Ich neige den Kopf nach links und rechts, bewege die Schultern, um das Druckgefühl auf der Brust zu mildern. Einer stirbt, dafür leben Millionen.
Die Rede ist vorbei, ich höre die Massen im Stadion jubeln. Der Zeitplan stimmt auf die Sekunde. Natürlich. Um meine Hände zu beruhigen, nehme ich noch ein weiteres Glas Weinbrand. Der angehende Führer verabschiedet sich in diesem Augenblick von den Offiziellen vor Ort, es werden ein paar Fotos gemacht, dann wird sich der Konvoi aus sieben Autos in Richtung Innenstadt zum Hotel Deutscher Hof in Bewegung setzen. Ich muss mich vorbereiten, auch gedanklich. Um Mordlust in mir zu wecken, rufe ich mir die Aufnahmen aus den Konzentrationslagern in Erinnerung, Interviews und Briefe. So richtig gelingt es nicht.
Ich packe den Koffer, den ich mitbrachte, aus. Er enthält das geräuscharme, magnetgetriebene Präzisionsgewehr. Es wurde gewählt, weil es einfach zu bedienen ist, todsicher trifft und keine Spuren hinterlässt. Ich fülle den Tank der Waffe mit einem halben Liter Wasser, das innerhalb von Sekunden mit Eisenpulver vermengt und zu minus 160°C kalten Eisprojektilen gefroren wird. Das Eisen sorgt dafür, dass die Projektile vom Magnetfeld fast auf Schallgeschwindigkeit beschleunigt werden können. Der Clou daran ist, dass die Projektile hinterher einfach schmelzen und bis auf das Eisenpulver und etwas Wasser keine Spuren hinterlassen.
Die Zeit schleicht dahin. Ein paar Minuten nur, doch mir kommen sie so lang vor – und doch viel zu kurz.
Einer stirbt, dafür leben Millionen.
Endlich sind es nur noch fünf Minuten, bis der Konvoi in die vor mir liegende Straße einbiegen wird. Ich aktiviere die Zielautomatik und höre das leise Sirren und Ticken, als das erste Geschoss geladen wird. Das macht es endgültig real. Noch kann ich einen Rückzieher machen, ich bin doch kein Mörder. Oder doch? Einer stirbt, dafür leben Millionen. Doch, ich bin einer. Wenn es mir hilft, die Aufgabe zu erfüllen.
Ich ziehe das Oberhemd aus, damit der Schweiß auf meinem Rücken trocknen kann, und lege es auf einen Sessel. Hinter einem halb geschlossenen Fenster positioniere ich den Stuhl, stelle das Zweibein auf zwei Kissen, damit es nicht kratzt. Ich vergewissere mich, dass keine eisenhaltigen Gegenstände in der Nähe sind, die versehentlich mit beschleunigt würden.
Dann setze ich mich. Ein perfekter Blick durch die Optik hinunter auf die 230 Meter entfernte Kreuzung, alles ist wie geplant. Testweise nehme ich Passanten und ein paar herumstehende SA-Männer ins Visier, sie werden von einem Dreieck umrahmt. Ich spüre, wie der Lauf sich an das Ziel anpasst, sich nach Entfernung und Zielbewegung ausrichtet. Mein Gott, ich bräuchte nur den Finger zu krümmen, nur ein bisschen. Ich spüre, wie etwas in mir aufsteigt. Ist das das Gefühl von Macht? Mordlust?
Einer stirbt, dafür leben Millionen. Erst jetzt verstehe ich wirklich, was das bedeutet. Ich entscheide, wie die Welt weiterläuft. Von diesem Stuhl aus werde ich mein Ziel zermalmen. Ja, das ist Mordlust.
Ich gönne mir einen letzten Schluck Weinbrand. Das Kratzen im Hals verstärkt meine Hochstimmung, wenige Augenblicke noch. Ich sehe, wie die Menschenmasse an der Straße dichter wird, um die Autos vorüberfahren zu sehen und Ihnen vielleicht sogar zu winken. Vielleicht sieht ihr großer Führer sie ja auch, sie sind bestimmt aufgeregt. Endlich ist es da: das Gefühl, ihn umbringen zu wollen.
Das erste Auto biegt um die Ecke, dann das zweite und dritte. Der Konvoi fährt zielstrebig in die Falle. Ich lege an, entsichere mit meinem Fingerabdruck, sehe den "Führer" im Passagierbereich des zweiten Fahrzeugs und weise ihn als Ziel zu. Das Dreieck springt und umrahmt den Kopf. Ich spüre, wie sich der Lauf ausrichtet, sehe die optimale Feuerlösung im Display: Zwei in den Kopf, drei in den Körper. Die Entfernung wird herunter gezählt: 200 Meter, 180, 160. Als der Zähler bei achtzig Metern ankommt, ziehe ich ab. Die Waffe vibriert nur einmal kurz. Einer stirbt, dafür leben Millionen.
Das Magnetfeld des Gewehrs reißt das erste pfeilförmige Projektil knapp unter Schallgeschwindigkeit aus dem Lauf.
Die Elektromotoren reißen leise kreischend das nächste in die Kammer, das ebenfalls sofort beschleunigt wird. Innerhalb nicht einmal einer Zehntel Sekunde werden so die fünf geplanten Eisgeschosse auf den Weg gebracht. Ich rutsche sofort zusammen mit dem Gewehr vom Stuhl, um auf keinen Fall entdeckt zu werden. Die Geschosse bringen die Entfernung zum Ziel in einer Viertel Sekunde hinter sich. Sie zertrümmern die Glasscheibe, hinter denen das Ziel sitzt. Sie durchschlagen Uniform, Fleisch, Schädelknochen, Gehirnmasse, Herz, Muskeln, wieder Uniformstoff, dann Autoverkleidung und Karosserieblech, um schließlich im Pflaster stecken zu bleiben und zu schmelzen. Adolf Hitler ist tot, ich habe ihn getötet. Ich habe versagt!
Ich sitze auf dem Boden und erinnere mich an jedes Wort des Geschichtsunterrichtes vor vielen Jahren. Als unser Geschichtslehrer uns von diesem Tag erzählte, als ein unbekannter Attentäter - ich - den Vorsitzenden der NSDAP erschoss. Und wie damit der beispiellose Aufstieg von Rudolf Heß, dem Führer, begann. Der überwand seinen Antisemitismus schnell, als er Reichskanzler war und es gelang ihm, die geistige Elite im Land zu halten. Er baute, mit meinem Attentat als Argument, die Wehrmacht sehr schnell wieder auf und begann 1937 einen Eroberungskrieg, der zwölf Jahre dauern sollte und an dessen Ende Marseille, St. Petersburg und Birmingham im Feuer dreier Atombomben untergingen. Rudolf Heß verantwortete über 115 Millionen Tote im Verlauf des zweiten Weltkrieges. Ich war hier, um ihn zu töten. Und ich habe versagt
Ich schluchze mir die Verzweiflung aus dem Leib. Statt dessen erschoss ich Adolf Hitler und dessen Adjutanten. Den Clown, der die Partei bekannt gemacht hat. Den Typen, der mit seinen Gesten und wahnsinnig wirkenden Reden im Ausland belächelt wurde. Ich ermöglichte diese unglückselige Kombination aus charismatischem Führer, der die Partei groß machte und dem Manager, der mit teuflischer Effizienz Krieg führte.
Ich knie auf dem Boden, die Waffe vor mir und mein Mageninhalt bricht sich Bahn. Der Weinbrand ergießt sich zusammen mit Teilen der letzten Mahlzeit auf das Parkett. Sabbernd jammere ich über mein Schicksal. Ich habe keine Kraft mehr im Körper und rutsche schließlich in meine eigene Kotze. Den Tumult, das Waffenknattern und die verzweifelten Schreie draußen dringen fast nicht in mein Bewusstsein. Warum nur habe ich den falschen Mann erschossen?
Heiße Tränen laufen mir übers Gesicht, Tränen der Verzweiflung und der Ohnmacht. Wer weiß, vielleicht hätte Hitler den ganzen Wahnsinn ja noch aufgehalten und die NSDAP wäre so schnell verschwunden, wie sie gekommen ist. Er hätte nie einen Weltenbrand entfesseln können, war er doch viel zu sehr mit seinem Rassenwahn beschäftigt. Diese Chance habe ich zerstört.
Das muss ich wieder gerade biegen. Ich weiß, dass Heß im vierten Auto gesessen hat, ich habe verschiedene Ausweichstellungen, falls diese Wohnung nicht sicher gewesen wäre.
Also gönne ich mir noch ein paar Augenblicke Selbstmitleid, dann raffe ich mich auf und spüle mir das Gesicht und den Mund sauber. Ich sammle meine Sachen zusammen, entfalte die Sprungmaschine, gebe mein neues Ziel in der Raumzeit ein und stelle mich in den Ring.
Ich spüre das Kribbeln, das meinen ganzen Körper erfüllt. Die ersten Anzeichen für einen bevorstehenden Sprung, dann das Gefühl des Sturzes.
***
Es ist wieder 20:20Uhr. Die Sonne bescheint wieder die Pillenreutherstraße, als wäre nichts gewesen. Es war ja auch nichts - noch nicht.
Mittlerweile habe ich meinen siebten Sprung hinter mir. Ich habe fast die gesamte Führungsriege der NSDAP erschossen. Nach Hitler fällt es mir sogar relativ leicht - erstaunlich, an was sich ein Mensch alles gewöhnt.
Und nach Rudolf Heß habe ich auch endlich den Fehler erkannt: Wir sind davon ausgegangen, dass sich die Erinnerung im Nachhinein nicht verändern kann. Das war offensichtlich ein Irrtum. Ich weiß nicht mehr, warum ich Hitler oder Heß erschossen hatte, weil sich meine Erinnerungen objektiv erst nach der Tat - in vielen Jahren - formen werden. Aber die Taten selbst sind vollbracht und lassen sich im Gegensatz zu meinen Erinnerungen nicht auslöschen.
Also begann ich, vor jedem Attentat meine Erinnerungen an die Geschichte in Stichpunkten aufzuschreiben, um zu erkennen, dass ich eigentlich jedes einzelne Mal das Richtige tat. Ohne, dass es wirklich etwas änderte. Mein Plan ist mittlerweile, so lange weiterzumachen, bis die Vergangenheit meiner Erinnerung besser ist als die Notizen über meine vorherigen Erinnerungen.
Dieses Mal bin ich zuversichtlich, etwas Grundlegendes zu bewegen. Denn mein Ziel ist die letzte mögliche Führungsperson: Anton Drexler, der ursprüngliche Gründer der NSDAP. Ich erinnere mich an den Geschichtsunterricht und die vielen Dokumentationen, die ich im Fernsehen sah. Uns wurde erzählt, er hätte am 30.07.1932 - heute - wahrscheinlich selbst die gesamte Führungsriege der Partei umbringen lassen, um wieder das Heft in die Hand zu nehmen. Uns wurde erzählt vom Krieg, den er im Jahre 1941 vom Zaun brach, nachdem er in rasendem Hass alle Minderheiten in Deutschland und Österreich, vor allem Juden, verfolgen und umbringen ließ. Er rechtfertigte die 46 Millionen Opfer dieses Wahnsinns vor und während des Krieges mit einer angeblichen zionistischen Verschwörung, die die führenden Köpfe der Partei umgebracht hatte.
Nach diesem hoffentlich letzten Attentat müsste die Struktur der NSDAP zusammenbrechen und aus meinen Erinnerungen verschwinden.
Ich bereite mich auf den entscheidenden Schuss vor. Wirklich schade, dass ich den Weinbrand in der ersten Wohnung vergessen habe.
Die Autokolonne biegt in die Pillenreutherstraße ein. Im vierten Fahrzeug sitzt mein Ziel. Mittlerweile weiß ich sogar zu genießen, was ich gleich sehe. Da wohnt wohl doch ein Killer in mir. Ich bin übrigens dazu übergegangen, statt fünf Geschossen lieber die Zielautomatik so lange feuern zu lassen, bis das Ziel hundertprozentig sicher tot ist. Der vorletzte Anschlag war mir eine Lehre.
Die Kolonne ist an der vorgesehenen Stelle, das Zieldreieck hält unbeirrbar Drexler im Visier und zeitgleich mit allen anderen Ichs ziehe ich ab.
Die Glasscheiben, deren Scherben Luft und Fleisch gleichermaßen zerschneiden, bersten in allen Fahrzeugen fast gleichzeitig. Zerrissener Asphalt fliegt durch die Luft, Staub, Blut, Körperteile, Blechstreifen, Fleischfetzen, Holzsplitter und unkenntliche Kleinteile füllen die Luft um die Fahrzeuge. Der gesamte Anschlag dauert keine Sekunde. Die Fahrzeuge verkeilen sich ineinander, als ein Fahrer verzweifelt versucht, auszubrechen und sofort ebenfalls erschossen wird. Da springt Hermann Göring aus seinem Auto und versucht erstaunlich flink, seinen fetten Körper in Sicherheit zu bringen. Nach zwei Sprüngen explodiert sein Brustkorb, dann der Kopf. Mein Pendant vom fünften Sprung hat seinen Fehler ausgebügelt - wie jedes Mal.
Staub und Dreck schwängern die Luft. Die Straße um den Konvoi ist wie von einem ungelenkten Pflug aufgerissen.
Und wieder habe ich versagt. Die Welt wurde schon wieder nicht besser.
Ich habe eine Randerscheinung der Geschichte, deren Name mir kaum einfällt, ausgelöscht. Ich habe die Machtergreifung der kommunistischen Partei erst ermöglicht. Sie schloss sich der UdSSR an und 1943 kam es zu einem globalen Krieg zwischen den unvereinbaren Ideologien Kommunismus und Kapitalismus.
Die Zahl der Opfer ist nicht bekannt, weil der Krieg bis in meine Zeit - über einhundert Jahre - andauert.
Ich wurde zurückgeschickt, um das Attentat auf die Führung der NSDAP zu verhindern. Warum ich das Ziel verfehlte, weiß ich nicht. Also ziehe ich meine Notizen zu Rate und stelle die Sprungmaschine auf neue Raumzeit-Koordinaten.
***
Punktlandung. Perfekt.
Aber ich fühle mich, als wäre ich eben zerrissen und überhastet wieder zusammengesetzt worden. Mir ist schwindelig. Die Haut ist zum Zerreißen gespannt, die Eingeweide brennen, Gelenke schmerzen, Finger und Füße kribbeln, als hätte ich die ganze Nacht darauf geschlafen. Aber es klingt schnell ab und meine Gedanken klären sich.
Ich bin nicht allein, wirble herum, und sehe in meine eigenen traurigen Augen. Ich selbst, aber doch jemand ganz anderes, wartet in der Wohnung der Kagerers auf mich. Sehr viel hagerer und ernster. Mit tiefliegenden Augen und ungesunder Gesichtsfarbe, eine Narbe zieht sich über seine Wange. Er gibt mir einen schon oft auf- und zugefalteten Zettel und sagt nur: "Tu es nicht!"
Ich lese die Nachricht und treffe meine Entscheidung.
***
Als ich wieder im Labor materialisiere, erwarte ich, vom gesamten Team in Empfang genommen zu werden. Ich habe ein schlechtes Gewissen, denn bis auf eine unheimliche Begegnung und einen Notizzettel habe ich nichts vorzuweisen. Ich habe die Geschichte nicht verändert.
Doch statt des Teams wartet nur der Projektleiter auf mich. Er drückt mir einen Brief in die Hand und sagt: "Das kommt von unserem Hauptsponsor. Du solltest es unbedingt sofort nach Deiner Ankunft bekommen. Keine Ahnung, was drinnen ist. Es hieß nur, Du wüsstest schon Bescheid."
Der Brief ist vom längst verstorbenen Gründer und Präsidenten der Pillenreuther KG, einem der weltgrößten Industriekonzerne. Er war eine schillernde Person der Geschichte, tauchte erst 1934 auf der politischen Bühne auf und wurde in wenigen Jahren zu einem engen Vertrauten Hitlers und dessen Stellvertreter. Er ist bis heute umstritten wegen seiner undurchsichtigen Rolle bei den Friedensverhandlungen mit den Alliierten 1942 nach Hitlers Herzinfarkt. Er führte zwar einen schnellen Friedensprozess, in dessen Verlauf er große Teile der eroberten Gebiete zurückgab. Dann wurde er aber durch die Eiswaffen, von denen auch ich ein altes Modell bei mir trage, sehr schnell sehr reich. Später, in den 60ern revolutionierte er mit seinen Smartphones die boomende PC-Industrie.
Der Brief beginnt mit den Worten:
"Hallo, ich schreibe, um Dir für die richtige Entscheidung zu danken …”
Unterschrieben ist er mit meinem Namen.