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Pierre
Die Bar ist heute Morgen schlecht besucht. Ich trete trotzdem ein, ziehe den Gesichtslappen von Nase und Mund, stecke ihn weg. An einem Tisch im Eck sitzt ein Bekannter aus dem Viertel. Seine Maske baumelt ihm lässig vom linken Ohr. Ich bestelle und setze mich zu ihm.
Er heißt Pierre. Pierre trinkt Bier. Ich warte auf den Kaffee. Im Radio wird vom Gesundheitskrieg gesprochen. Die Stimme bricht ab, Musik setzt ein.
Pierre scheint froh zu sein, mich zu sehen. Wir reden Belangloses und trinken erst einmal. Ich schaue auf die Uhr. Der Zeiger ist nicht mehr weit von der Zehn entfernt. Ich muss gähnen.
Pierre ist müde. Er ist früh aufgestanden und schon mit der Arbeit fertig. Er beliefert die Kneipen im Umkreis. Jetzt bestellt er noch ein Bier und fragt mich, was ich möchte. Er lädt mich auf einen weiteren Kaffee ein und ich bitte um ein Glas Wasser, das ich dazu trinken kann.
„Wir müssen gegen den Virus alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen,“ höre ich aus dem Hintergrund die Radiostimme. Wieder werden die staatlichen Pandemie-Maßnahmen mit einer Kriegsstrategie verglichen.
Plötzlich schwankt das Gespräch. Pierre erzählt: „Ich habe schon ganz andere Zeiten erlebt. Im Kongo. Krieg ist Krieg. Und dieser hat eigenen Gesetze.“ Ich sitze verwirrt daneben, versuche zu verstehen, von welchen kriegerischen Auseinandersetzungen Pierre eigentlich spricht. Ist er nicht zu jung, um im Kongo gekämpft zu haben? Wann war dort der letzte Konflikt in dem die belgische Armee eine Rolle gespielt hat? Wann und wo ist was passiert? Ich fühle mich verloren und frage mich, ob ich es überhaupt wissen will?
Er erzählt weiter: „Wir waren schon zurück auf belgischem Boden, da wurden wir von den neuesten Ereignissen vor Ort unterrichtet. Ein Kommando unter der Führung eines befreundeten Generals war in einen Hinterhalt geraten. Der General und seine Männer sind dabei umgekommen. Wir hatten sie alle persönlich gekannt, waren ja noch ein paar Tage zuvor mit ihnen im Einsatz.“
„Ihr habt Glück gehabt, nicht? Ist es das was du mir sagen willst?“, frage ich, hebe unsicher die Tasse. Wir stoßen an. „Auf euer Überleben!“
Pierre trinkt und leckt sich den Schaum von den Lippen.
„Ja, einerseits hast du schon recht. Doch in diesem Augenblick dachten wir nicht so. Aufgestachelt und wütend wollten wir zurück. Wir wollten Rache.“
Ich blicke zur Theke. Dort schneidet die Bedienung einem Gast, der am Schanktisch sitzt, eine Grimasse. Im Radio werden gerade die aktuellen Zahlen der Pandemie-Toten durchgegeben.
„Ich meldete mich freiwillig. Und da lernte ich den Krieg erst kennen. Vorher waren wir ja nur auf Patrouille. In dem Eck des Landes war es ruhig gewesen. Doch jetzt war die Hölle los. Schon bald gerieten wir unter Beschuss. Eine Armee Kleinwüchsiger lauerte uns auf. Wir ballerten was das Zeug hielt, räumten uns den Weg frei, drangen vorwärts. Es brauchte einige Zeit bis ich begriff auf wen wir da schossen. Mir wurde mulmig, doch was blieb mir übrig, ich musste weiter feuern, denn sie waren so gut bewaffnet wie wir. Mit Geschrei warfen sich uns die Kindersoldaten entgegen und ich zielte, drückte ab und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich treffen würde. Wie ein Kürbis platzte der Kopf eines kleinen Jungen. Eine blutige Masse spritzte heraus. Das Gesicht verzerrte sich, verlor seine Züge. Diese Szene sehe ich heute noch in Zeitlupe vor mir ablaufen. Doch in diesem Moment hätte ich nicht zögern dürfen. Das wäre mein Todesurteil gewesen. Ich lief weiter und schoss“, ruft Pierre und formte eine Pistole. „Das war der erste Soldat, den ich tötete, ja und dann auch noch ein verdammtes Kind. Und darauf folgten weitere“, setzt Pierre nach und sinkt zusammen.
Ich nehme einen Schluck kaltes, klares Wasser. Es schmeckt schal. Im Radio wird berichtet: "In einem Altenheim haben die Pflegekräfte die Hygienevorschriften missachtet. Fünf Bewohner bezahlten die Ansteckung mit ihrem Leben."
„Ja, das Töten wird nach dem Ersten einfacher. Hast du erst einmal jemanden umgelegt, dann geht das schon fast wie von selbst. Dann kommen weitere hinzu, die für dich nicht mehr zählen“, erläutert mir Pierre. „Verstehst du? Doch diesen Ersten, diesen platzenden Kinderschädel habe ich immer noch vor Augen. Verdammt, ich kann ihn einfach nicht vergessen.“
Wieder verfällt Pierre in Schweigen. Diesmal ist im Radio Musik zu hören. Ich nippe nervös an der Tasse. Sein Glas ist leer und steht nun mit dem herabsinkenden Schaum auf dem Tisch. Langsam sammelt er sich, setzt sich am Grund ab.
Ich blicke auf. Der andere Gast steht jetzt rauchend vor der Kneipe, zupft an seiner Maske die er über das Kinn herunter geschoben hat. Die Bedienung sitzt hinter der Theke, ihre Augen schauen konzentriert über den Rand des Mund-Nasenschutzes, verfolgen etwas auf ihrem Mobiltelefon. Ich vernehme im Hintergrund Geschrei, das von der Bar herüber weht. Es kommt wohl aus dem Telefon. Ein Windzug, es fröstelt mich und ich ziehe meine Weste zu.
„Ja, Ja, ich habe noch immer Albträume. Wie oft werde ich von ihnen aus dem Schlaf gerissen“, sagt Pierre und erwacht aus seiner Starre, reibt sich sein Gesicht. „Heute war ich schon um 5 Uhr auf den Beinen und habe hier den ersten Kaffee getrunken.“
Sein Gesicht kommt mir verbraucht vor. Die Frage nach seinem Alter taucht erneut in mir auf. Wir müssen gleich alt sein. Ich lehne einen weiteren Kaffee ab. Pierre bestellt noch ein Bier. Die Bedienung erhebt sich und füllt ein Glas.
Da wird die Tür aufgerissen. Zwei Jungen kommen hereingestürmt. Es sind die Nachbarskinder, gefolgt von ihrem Vater. Pierre schaut ängstlich auf, rutscht tiefer, geht in Deckung. Mit einem geschickten Griff hat er den Gesichtslappen übergestreift. Seine Stirn legt sich in Falten. Sein Atem pumpt, saugt die Maske an. Schweiß läuft ihm über das Gesicht. Er muss blinzeln. Er stöhnt auf. Die Jungen kommen lachend auf ihn zu.
Er zieht den Mund-Nasenschutz herab. Seine Gesichtszüge entspannen sich. Ein Grinsen legt sich auf seine Lippen. Ihr Vater, eine Karikatur von einem Dandy, im blauen Anzug und feinen Krokodillederschuhen tritt mit einer erlöschten Zigarre an die Theke heran. „Es fehlt nur noch die Sonnenbrille, dann wäre das Bild perfekt“, denke ich, „doch dafür hat er einen Gesichtslappen aus buntem Stoff.“
Ich stehe auf, zahle meinen ersten Kaffee, bedanke mich bei Pierre für die zweite Tasse und grüße beim Vorbeigehen den Mann mit einem Faustschlag. Ich streife den Henkel der Maske über das linkes Ohr und trete vor die Tür. Rauch fällt mich an.
„Entschuldigung, ich wollte ihnen nicht ins Gesicht blasen“, sagt der Fremde.
„Keine Ursache“, erwidere ich und schüttle leicht den Kopf.
„Der Krieg ist vorbei“, hätte ich so gerne zu Pierre gesagt, “lass uns wieder frei atmen.“ Mein Gedankengang läuft weiter. „Frei atmen? Ja, wird Pierre nach alledem noch einmal frei atmen können?“
Diesmal ziehe ich den Gesichtslappen nicht über, lasse ihn im Wind am Ohr frei baumeln und gehe in die Straßen hinaus, schaue mich dabei nach Polizisten um.