Pickel
Dienstag,06.15 UHR
Der Tag begann wunderschön. Die Morgensonne schien hell durch das geöffnete Fenster und fiel auf Bienes Oberbett. Sie regte sich, streckte und dehnte sich. Eben das all morgendliche Ritual. Ihre Gelenke knackten dabei ein bißchen und sie mußte lachen. Aus der Küche strömte der Duft von frischem Kaffee und sie hörte Ihre Eltern miteinander reden.
Der Morgen war so herrlich, aber sie bereute ein bißchen aus dem Bett steigen zu müssen.
Sie schwang ihre Beine dynamisch über die Bettkante und ließ ihren Blick durch ihr kleines, aber gemütliches Zimmer schweifen.
Poster der zur Zeit aktuellsten Boygroup hingen an den Wänden. Auf ihrem Schreibtisch am Fenster stand ihr PC, an dem sie gestern Abend noch ihre Hausaufgaben gemacht hatte.
Fotos von ihren Freunden klebten an der Tür, mit Tesafilm befestigt. Ihr Fensterglas hatte sie mit farbenfrohen Windowcolour Bilder verziert. Es war das typische Zimmer eines typischen fünfzehn jährigen Mädchens. Sie lebte in einem schönem Elternhaus. Ihr Vater war Architekt , Ihre Mutter Hausfrau und sie tat alles für ihre Familie. Ihre Eltern waren seit siebzehn Jahren verheiratet. Und nie gab es auch nur einen Tag Streit, von dem Biene etwas mitbekommen hätte.
Sie war im Literaturclub ihrer Schule und sie war seit zwei Wochen schwer verliebt.
Sie war hübsch, um nicht zu sagen schön.
Ihr blondes, seidiges Haar war nie fettig, ihre markenorientierte Kleidung nie schmutzig oder gar zerrissen.
Ihre blauen Augen blickten klar und neugierig, und um ihren süßen Schmollmund wurde sie von so mancher Schulhofschönheit beneidet.
Sie hatte viele Freunde, war in der Gemeinde und im allgemeinen sehr beliebt.
Alles in allen hätte man ihr Leben als nahezu perfekt bezeichnen können.
Biene zog sich hastig an. Jeans, die ihre Mutter noch am Abend zuvor gebügelt hatte, ein knappes Shirt und leichte Turnschuhe.
Während sie ihre Schnürsenkel zumachte schaute sie auf den Stundenplan.
Was war heute?
Dienstag?
Biene stöhnte. Zwei nicht enden wollende Mathestunden standen auf dem Plan. Sie zuckte die Schultern.
Was nützt es schon?
Sie begab sich ins Bad und wusch sich Hände und Gesicht.
Mit dem Handtuch trocknete sie sich das Gesicht, sah in den Spiegel....und da sah sie ihn.
Er war direkt über ihrem Kinn.
Dort hockte er in der kleinen Vertiefung zwischen Kinn und Unterlippe.
Ein Pickel.
Sie stoppte in allen Bewegungen und starrte auf das Angesicht ihr gegenüber.
Er war nicht groß, aber er war rot und erhob sich trotzig aus ihrer ansonsten ebenmäßigen Haut.
„Meine Güte, ein Pickel“, dachte sie und fuhr mit dem Zeigefinger über diese keine Unebenheit.
Er fühlte sich weich und fremd an.
Biene öffnete den Spiegelschrank und suchte nach ihren Schminkutensilien. Mit geradezu fanatischer Gründlichkeit trug sie ihr Make-up an diesem Morgen auf.
Dann puderte sie die Stelle ausgiebig, bis sie sich sicher war, nichts verdächtiges mehr sehen zu können.
Als sie ihr Werk im Spiegel von allen Seiten betrachtete, war sie zufrieden mit sich und ging in die Küche um zu frühstücken.
Es gab Eier auf Brot und Saft.
Dienstag.10.15 UHR
Sie verschwand keinen Gedanken mehr an den Pickel bis zur ersten Pause nach Biologie und Englisch.
Biene stand vor ihrer Klassentür und wartete auf Ihre Freundin Jessy aus der Parallelklasse. Sie stand dort vielleicht drei Minuten, aber schon während dieser Zeit bemerkte sie die Blicke ihrer Mitschüler auf dem Gang, als sie an ihr vorbei liefen.
Als Jessy durch die Tür kam, ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem ordentlichen Knoten zusammen gebunden, zog sie gleich die Augenbraue zusammen.
Mit zusammen gekniffenen Augen und kraus gezogenen Lippen kam sie näher an Bienes Gesicht.
„Mein Gott, was ist denn das ?“ fragte sie und starrte auf die verheißungsvolle Stelle.
Biene verdrehte die Augen :“Meine Güte, es ist doch nur ein Pickel“ sagte sie und faste an die Stelle.
Sie erschrak. Der Pickel fühlte sich viel größer an als noch heute Morgen. Sicher, er mußte ja wachsen, nun ja, bis er eben eines Tages zu platzen drohte.
Das war der Lauf eines jeden Pickelebens.
Aber das es so schnell ging, damit hatte sie nicht gerechnet.
Jessy schüttelte den Kopf: “Nur ein Pickel, man, der ist aber wirklich groß.“
Biene packte ihre Freundin und lief den Gang zum den Toiletten hinunter.
Das gleißende Licht der Neonröhren flackerte über ihren Köpfen.
Biene sah in einen der großen ramenlosen Spiegel und zuckte zusammen.
Dieses Ding in ihrem Gesicht konnte unmöglich der kleine Pickel von heute morgen sein. Er war so viel größer. Heute Morgen war er kaum zu sehen, er war höchstens von einen Millimeter Durchmesser und nun war er gut und gerne so groß wie der Nagel ihres kleinen Fingers.
Und wie geschwollen er war. Er ragte bald einen halben Zentimeter aus ihrem Gesicht raus.
Seine Umrandung hatte eine seltsame, leicht blaue Färbung angenommen.
Bienes Augen wurden groß.
„Ach du lieber Himmel, was ist denn das?!“
Mit hektischen Bewegungen begann Jessy in ihren Rucksack zu kramen. Hier und da nahm sie etwas heraus, schüttelte den Kopf und warf es wieder hinein.
Dann hellte sich ihre Miene auf.
Mit einem triumphierendem Gesichtsausdruck hielt sie ihr kleines, silbernes Puderdöschen in der Hand. Das Licht der Neonröhren fiel darauf und das Behältnis warf lustige Lichtbälle zurück an die Wand.
Biene sah es an als wäre es der heilige Gral.
„Gib her!“ fauchte sie und riß es Jessy aus der Hand.
Mit zittrigen Händen öffnete sie die Dose und fischte nach der Puderquaste.
Panisch tupfte sie helle Puderflecken auf das ungeliebte Objekt. Nach einer ganzen Weile begutachtete sie ihr Werk im Spiegel.
Doch statt nun eine einigermaßen Brauchbare Abdeckung des Übels gefertigt zu haben, sah es nun aus, als ob sie ein weißes Federkissen im Gesicht mit sich trug.
Jessy sah sie bestürzt an.
„Ich muß nach Hause .“ sagte Biene mit erstickter Stimme und verschwand aus dem Toilettenraum mit gesenktem Kopf.
Dienstag,10.45 UHR
Eine halbe Stunde später war Biene zu Hause.
Sie schloß die Haustür auf und rannte den Flur herunter, als sie an ihre Zimmertür kam, warf sie achtlos ihre Tasche davor, wo sie mit einem dumpfen Plumps liegenblieb.
Dann stolperte sie ins Bad.
Der Pickel war noch größer geworden. Der weiße Puder bröckelte an einigen Stellen und ließ die rote, überspannte Haut darunter zum Vorschein kommen.
Und auch wurde der Puder anscheinend feucht, denn er verdunkelte sich hier und dort.
Biene drehte den Wasserhahn auf , drückte sich einen großen Klecks flüssiger Cremeseife auf die Hand und rieb diese zwischen ihren Händen zu einer schaumigen Masse, die sie sich ins Gesicht schmierte. Sorgfältig bedachte sie der Erhebung in ihrem sonst so tadellosem Gesicht.
Danach spülte sie alles gründlich mit lauwarmem Wasser ab und griff zu dem Gesichtswasser ihrer Mutter.
Sie nahm sich einen Wattepad und tränkte es mit der klaren Flüssigkeit.
Dann betupfte sie abermals den Pickel.
Die Haut begann zu kribbeln und fürchterlich zu spannen, doch Biene deutete das als gutes Zeichen.
Da sie in ihrem Leben nie einen Pickel hatte, besaß sie auch keine Pickelcreme.
Das sie die Behandlung nicht ganz vollenden konnte, machte sie beinahe wahnsinnig. Doch im Angesicht der Tatsache, da sie in diesem Zustand unmöglich vor die Tür.....geschweige denn zur nächsten Drogerie, gehen konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als auf ihre Mutter zu warten.
Biene ging ins Wohnzimmer, legte sich auf das Sofa und schaltete den Fernseher ein.
Binnen weniger Minuten war sie unter den wachsamen Augen einer dämlichen, pickelosen Zeichentrickfigur eingeschlafen.
Dienstag. 13.15 UHR
Ihre Mutter weckte sie um viertel nach eins.
Sie tat das nicht so sanft und liebevoll wie sonst, sondern schüttelte sie wild hin und her.
Bienes Magen begann zu rumoren und mit einem Anflug von Heiterkeit nahm sie war, das sie Seekrank wurde.
Sie öffnete die Augen einen Spalt breit und sah das entsetze Gesicht ihrer Mutter.
„Was hast du denn da im Gesicht???“
Biene war auf der Stelle hellwach.
Sofort kam ihr der Pickel wieder in den Sinn. Wie in Trance führte sie ihre Hand an ihr Kinn.
Ihre Mutter zuckte zusammen, als wäre sie von etwas gestochen worden.
„Nicht anfassen!!“ rief sie und packte Bienes Hände. Biene konnte die Hände ihrer Mutter zittern spühren.
„Nicht anfassen“, sagte sie noch einmal und die großen , braunen Augen ihrer Mutter blickten besorgt auf ihr Kinn. Mit einem warnendem Blick auf ihre Tochter griff sie zum schnurlosen Telefon auf dem Beistelltisch und wählte die Nummer ihres Hausarztes.
Dienstag. 14.45 UHR
Dr. Seifert war seit über zehn Jahren der Arzt der Familie Pfeiler, und in all den Jahren, da er Arzt war, hatte er eine Menge gesehen.
Aber das?
Mit vor Interesse versteinerter Miene saß der Mittfünfzieger auf seinem bequemen und etwas ausgebleichten Lederstuhl und lauschte den Ausführungen der Tochter.
Frau Pfeiler saß steif auf einem Hocker neben ihr und schüttelte unentwegt den Kopf.
Sie machte auf Biene ein bißchen den Eindruck einen Taktoms. Ihr Kopf ging hin und her, hin und her.
Biene kam sich in der vertrauten Praxis vor wie in einem Horrorfilm.
Das, was sich heute Morgen noch als kleine Rötung in ihrem Gesicht gezeigt hatte, war inzwischen zu einer exzellenten Wucherung ausgewachsen.
Ihr Kinn war aufgequollen. Bohnengroße, mittlerweile grünlich und gelblich vereiterte Beulen zogen sich vom Kinnansatz bis zur Unterlippe. Knötchenartige Ekzeme umgaben das ganze Gebilde wie ein grausamer Krans aus „Pustel“-blumen.
Unter der Haut ihrer Lippe hatten sich murmelharte Auswüchse gebildet. Sie waren beweglich. Ohne Sch...sie konnte sie mit der Zunge hin und her schieben.
Die gesamte Haut in dieser Region hatte eine blaue Färbung angenommen, so, als wäre sie geschlagen worden. Außerdem spannte sich die Haut über dieses...was auch immer....wie ein frisch aufgezogenes Bettlacken.
Wenn sie sprach, so wie jetzt, schmerzte die Stelle.
Und Dr. Seifert saß da, als wünschte er sich, nicht da zu sein. Vielleicht lieber in seinem Sommerhaus auf Ibiza?
Biene kam sich entstellt und häßlich vor. Viel schlimmer als das war natürlich die Angst. Ihre und die Ihrer Mutter.
Nach einer halben Stunde in der Praxis verschieb Dr. Seifert eine Salbe, Tabletten und hielt einen Vortrag über Allergien. Ausgelöst durch falsche Ernährung, schlechte Luft und was sonst noch.
Die Salbe war auf Cortisonbasis und auf dem Beipackzettel der Tabletten stand, das sie unter anderen einzunehmen waren gegen Heuschnupfen und Hautausschläge hervorgerufen durch Hausstaubmilben- Befall.
Am Abendbrotstisch, als sie alle zusammen saßen, und Ihr Vater die Geschichte hörte, trug sie eine zentimeterdicke Schicht der rosa Paste im Gesicht.
Der Pickel war nicht mehr gewachsen.
Mittwoch.06.15 UHR
Frau Pfeiler satnd am Mittwochmorgen um viertel nach sechs in der Küche um das Frühstück zu zubereiten.
Nach dem gestrigen Vortrag über Ernährung tischte sie heute gesunden Vollkorn Müsli und frisch gepreßten Orangensaft auf.
Zufrieden pfiff sie eine Melodie, die sie Minuten zuvor im Radio gehört hatte. Sie stellte gerade zwei große Becher Kaffe auf den Tisch....als sie ihre Tochter schreien hörte.
Frau Pfeiler stürmte aus der Küche ins Bad. Ihre Tochter saß in der Ecke zwischen Toilette und Waschbecken und hielt sich beide Hände vors Gesicht.
Sie schrie in den höchsten Tönen. Frau Pfeiler hockte sich zu ihrer Tochter und versuchte behutsam die Hände ihrer Tochter vom Gesicht zu lösen.
„Nun nimm schon die Hände weg, Liebling. So schlimm wird es schon nicht sein.“
Sie versuchte ruhig zu bleiben, aber ihre Stimme verriet ihre Angst.
Biene hielt die Hände weiterhin vor ihr Gesicht. Ihr Körper bebte und zuckte unter den Anstrengungen ihrer Mutter.
Langsam gelang es der Frau unter massivem Kraftaufwand die Handgelenke ihrer Tochter zu packen und sie nach unten zu ziehen.
Herr Pfeiler stand in der Küche und wunderte sich. Zwei Kaffeetassen standen auf dem Tisch, aber weder seine Frau, noch seine Tochter waren da.
Er rückte den Stuhl, der dem Fenster am nächsten war, zurück und wollte sich gerade setzen, als er seine Frau schreien hörte.
Herr Pfeiler sprang auf und der Stuhl, der hinter ihm stand, kippte rücklings auf den Küchenboden.
Er folgte den Schreien seiner Lieben bis ans Bad und stieß die Tür auf.
Von dem Bild das sich ihm bot, hatte er noch nächtelang Alpträume.
Seine Frau saß auf ihrem Hinterteil und ihr Mund war zu einem entsetztem O geformt.
Der Kopf seiner Tochter lag in ihrem Nacken und sie schrie an die Decke.
Ihr Gesicht war eine Schreckensruine. Ihre Haut war an vielen Stellen von dem Druck der darunter lag aufgerissen. Das Ding, das noch am Morgen davor ein kleines Ärgernis im Spiegelbild war, griff wie mit Armen auf ihre Wangen und ihren Hals.
Blut, gelber zäher Eiter und Wundflüssigkeit lief in kleinen Rinnsalen durch eine schuppige und hügelige Kraterlandschaft. Rhythmisches Pochen und Drücken unter der Haut verstärkte diesen Eindruck einer bevorstehenden Erosion.
Ihre Lippen waren zerfurcht und verbeult.
Wie in Zeitlupe beobachtet er einen dicken Tropfen Blut-Eitergemisch , wie er sich langsam an der Unterlippe seiner Tochter bildete sich dort sammelte.
Wie er größer wurde und aussah, als würde er schwanger, dort vor seinen Augen.
Dann löste er sich und platschte auf ihr Schlafanzugoberteil. Dort bildete er einen dunklen Fleck dessen Ränder sich ausweiteten.
Herr Pfeiler mußte sich an den Türrahmen festhalten, um nicht umzufallen.
Konzentriert biß er sich auf seine Zunge um nicht das Bewußtsein zu verlieren.
Mittwoch, 08,24 UHR
Herr und Frau Pfeiler saßen auf dem langen, weißen und irgendwie seltsam riechendem Flur der hiesigen Hautklinik. Als sie dort ankamen, bekamen Mutter und Tochter Beruhigungsmittel.
Biene schlief ein und wurde auf einem Rollbett in einer der Räume am Ende des Flures geschoben.
Ein Arzt kam auf sie zu und stellte sich zu ihnen.
Mit einer Hand nestellte er an seinem Kittelkragen, mit der anderen gestikulierte er während er etwas über Allergien und falsche Ernährung sagte.
Er schwitzte.
Donnerstag,07.32 UHR.
Es war ein wunderschöner Morgen.
Aber nichts desto trotz hatte er völlig verschlafen. Wieder mal. Großartig.
Markus hechtete das Treppenhaus runter und nahm dabei zwei Stufen auf einmal.
In Gedanken ging er den Stundenplan durch.
Unten hievte er die schwere Haustür auf und wäre fast der jungen Frau aus dem drittem Stock in die Arme gelaufen.
„Mensch Markus, paß doch auf!“ schimpfte sie und sah in böse ins Gesicht. Dann erhellte sich ihre Miene.
Sie grinste ihn an und deutete mit einem Finger auf seine Stirn.
„Sie mal einer an, du bekommst da wohl einen Pickel.“ schmunzelte sie und lief an ihm vorbei, um ins Haus zu gelangen.