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Pia und die weite Welt
Bisher hatte Pia ein ganz normales Leben geführt. Wie die anderen Küken lebte sie unter der roten Wärmelampe und verbrachte den Tag damit, Körner zu picken, herumzuhüpfen und zu wachsen. Nur die Abende brachten gewisse Abwechslung. An ihnen drängten sie alle zusammen und erzählten sich Geschichten – gruselige und lustige, traurige und heitere. Aber am nächsten Morgen war immer wieder alles beim Alten.
Das soll alles sein? dachte Pia eines Tages. Nein, das gefällt mir nicht. Tagaus, tagein dasselbe, das reinste Einerlei. Ich gehe in die weite Welt und suche mir etwas Besseres!
Zum Glück war Pia schlau. Durch zahlreiche Beobachtungen hatte sie herausgefunden, dass der dicke Bauernjunge, der täglich das Futter brachte, etwa vier Sekunden benötigte, bis er die Tür hinter sich schloss. Die Zeit ließe sich nutzen, dachte Pia.
So kam es, dass Pia, als am nächsten Morgen die schlurfenden, gummistiefeligen Schritte vor dem Hühnerhaus erklangen, bereits auf der Lauer lag. Pia, sagte sie sich, nun heißt es: Augen geöffnet und tief Luft geholt. Schon öffnete sich die Tür einen Spalt. Pia, die in Startposition bereit saß, wurde von gleißendem Sonnenlicht geblendet. Doch nur zwei Sekunden verstrichen, bis sie sich wieder gesammelt hatte. Dann machte sie ungesehen einen kühnen Sprung – hinein in die Freiheit.
Und hinein in ein nasses, kühles Etwas. Wie hätte Pia auch wissen können, dass es in der Nacht wie aus Kübeln gegossen hatte und dass die Morgensonne, so sehr sie sich auch bemühte, es noch nicht geschafft hatte, alle Pfützen zu trocknen. Brr, dachte Pia und watete so gut es ging an Land. Dann aber hieß es Schnabel zusammenbeißen und loszurennen, bevor man ihr Verschwinden bemerkte. Trippeltripptripptripp...
Atemlos sah sich Pia um. Wie von Sinnen war sie gerannt, ohne irgendetwas um sich herum wahrzunehmen. Nun stand sie inmitten von Butterblumen und Grashalmen. Mit staunenden Augen blickte sie die lustigen dottergelben und grünen Dinger an, die sich im Winde sachte bewegten, als sie eine Stimme von hinten frech ansprach:
„He, wen haben wir denn da! Wer bist denn du?“ Pia drehte sich um. Eine Maus, schelmisch aus dunklen Knopfaugen blickend, die Pfoten in die Hüften gestemmt stand ihr gegenüber. „Ach, nur ich, die Pia“, antwortete Pia mit niedergeschlagenen Augen. „Und aus welchem Loch stammst du?“ fragte die Maus. Ehe Pia ein Wort sagen konnte, fügte sie hinzu: „Weißt du denn nicht, dass hier die Katz herumschleicht? Unsereins muss sehr vorsichtig sein! Stehst da und betrachtest die Blumen, tss, tss, tss.“ Und weg war sie. Pia war erschrocken. Zwar hatte sie des abends schon so manche Geschichte über die Katz gehört, doch bislang immer gedacht, es handele sich eigens um eine Erfindung, die Küken Angst machen sollte.
Sich immerzu nach allen Seiten umblickend trippelte Pia weiter. Wohin gehen? dachte sie. Im Grunde war die Richtung einerlei, denn wenn man keinen Weg kennt, kann man sich auch nicht verlaufen. Kurzentschlossen folgte sie ihrem Schnabel, durchquerte die Rabatte und gelangte auf einen staubigen Hof.
„He, wer trampelt denn hier so blindlings herum?“ hörte sie da ein feines Stimmchen zu ihren Krallen. Sie senkte ihren Blick und bemerkte unzählige geschäftige Ameisen. Nur eine von ihnen rannte nicht herum, sondern guckte vorwurfsvoll zu Pia hinauf. „Kennst du denn keine Verkehrsregeln?“ fragte sie empört. „Hier ist unsere Hauptverkehrsstraße, und du rennst hinüber, ohne auch nur einmal nach rechts und links zu schauen. Um ein Haar wärst du mit mir zusammengestoßen.“ „Pardon!“ sagte Pia schuldbewusst. Aber die Ameise hörte schon nicht mehr hin. Eilig war sie davongekrabbelt, eine Tannennadel mit sich schleppend.
Sich immerzu nach allen Seiten umblickend trippelte Pia weiter, sehr darauf bedacht, keine Ameisen mehr zu stören.
Nun gelangte sie zu einem großen Stall. Durch das offene Tor schlüpfte sie herein. Noch ehe ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, hörte sie eine tösende Stimme sprechen: „He, wer kommt denn da zu Besuch?“ Als sie wieder deutlich sehen konnte und ihren Kopf in die Richtung der Stimme gewandt hatte, erschrak sie: Dutzende von Glotzaugen waren auf sie gerichtet, Glotzaugen, die riesigen Ungetümen gehörten, jedes von ihnen größer als hundert Küken zusammen. „Willkommen im Kuhstall!“ ertönte nun die Stimme wieder, und Pia sah, welches der Riesentiere ihr den Gruß entgegengebrüllt hatte. „Wieviel Milch gibst du?“ fragte die Kuh dröhnend. „Milch?“ antworte Pia eingeschüchtert, „überhaupt keine.“ Da erschall ein vielfaches Muhen durch den Stall, das durch Mark und Bein ging. „Sie gibt keine Milch... gar keine... wo gibt’s denn so was...rätselhaft...lächerlich...nicht zu glauben“, kamen die Rufe von allen Seiten. Pia wartete nicht länger, sie machte kehrt und verließ den Stall so schnell es ihre Beinchen zuließen.
Sich immerzu nach allen Seiten umblickend trippelte Pia weiter, sehr darauf bedacht, keine Ameisen mehr zu stören oder von Kühen ins Verhör genommen zu werden.
Dem Kuhstall gegenüber war wieder ein Gebäude. Pia schlüpfte hinein. Wer mir hier wohl begegnet, dachte sie. Aber dann blickte sie sich um und dachte: bin ich hier im Paradies? Die Scheune, in der sie sich eingefunden hatte, war voll von himmlisch duftendem Heu. Und wenn sie den Kopf hob, wehte es noch süßer um ihre Nase: vom Boden herab strömte der Geruch allerbester Körner. Ach, hier ist es schön, hier will ich bleiben, dachte Pia und ließ sich etwas erschöpft ins Heu plumpsen. Aber schon im nächsten Augenblick sprang sie wieder auf, denn unter ihrem Po hatte es begonnen, sich zu regen.
„He, wer wagt es“, hörte sie eine verschlafene und verärgerte Stimme, „mich mitten am Tag so unsanft zu wecken?“ Zuerst sah Pia einen graublauen buschigen Schwanz, dann kam auch eine kleine Schnauze und schwarze Äuglein zum Vorschein: ein Siebenschläfer. „Pardon“, sagte das Küken verlegen, „das wollte ich nicht!“ Aber der Siebenschläfer kam erst richtig in Fahrt: „Da rackert man sie in der Nacht halb zu Tode und denkt, nun könne man sich von der Plackerei ein wenig erholen, aber nein! Bums macht es, und man wird fast zerquetscht. So etwas Unerhörtes...“
Als sie schon die Scheune verlassen hatte, hörte Pia noch das aufgebrachte Schimpfen.
Sich immerzu nach allen Seiten umblickend trippelte Pia weiter, sehr darauf bedacht, keine Ameisen mehr zu stören oder von Kühen ins Verhör genommen zu werden oder Siebenschläfer zu wecken.
Ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase. Was mag das nur sein? dachte sie. Da ertönte ganz in ihrer Nähe ein Quietschen und Grunzen. Neugierig hüpfte sie an einen Zaun und blickte unter den Latten hindurch. Da sah sie ein Schwein, das sich in scheinbar größter Wonne in einer schwarzen Pampe suhlte, dass es nach allen Seiten spritzte. Das Schwein bemerkte Pia nicht, so sehr war es in sein Matschbad versunken. Mit einem Mal begann es mit schriller, etwas übersteigerter Stimme zu singen:
Bevor der Schlachter Seidel naht
Suhl ich mich mit Genuss
Ergötze mich im letzten Bad
Denn dann ist Schluss.
Dideldum, dideldei, dideldum, fallera.
Pia erschrak. Vom Schlachter hatte sie schon munkeln hören. Wäre es nicht lebensgefährlich, noch länger hier zu verharren? Vage beschlich sie der Gedanke an ihre Brüder und Schwestern im Hühnerhaus, denen keinerlei Unheil drohte und die sich um nichts anderes zu sorgen hatten, als Körner zu picken, herumzuhüpfen und zu wachsen. Aber Pia schob diese Gedanken beiseite.
Sich immerzu nach allen Seiten umblickend trippelte sie weiter, sehr darauf bedacht, keine Ameisen mehr zu stören oder von Kühen ins Verhör genommen zu werden oder Siebenschläfer zu wecken oder dem Schlachter zu begegnen.
Das kleine Küken war so damit beschäftigt, sich zu hüten, dass es gar nicht mehr darauf achtete, wohin seine Beinchen es trugen. Auf gut Glück brachten sie es nach einiger Zeit zum großen Wohnhaus der Bauersleute.
Will mal sehen, dachte Pia, wie ich hier wohl hineingelange. Die Türklinke war elendig hoch, selbst für ein ausgewachsenes und stattliches Huhn wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, daran zu reichen. Wie es der Zufall aber so wollte, befand sich genau auf Pias Höhe eine kleine Klappe in der Tür. Na also, trimphierte sie. Gerade, als sie sich daran begeben wollte, sich gegen die Klappe zu stemmen, wurde diese zu Pias größter Verwunderung von der anderen Seite aufgestoßen. Ein paar grüne Augen mit engen, schlitzförmigen Pupillen starrten sie an, die in einem Gesicht mit samtenen Fell und elegant geschwungenen Schnurrbarthaaren prangten. Alle Schauergeschichten, denen Pia abends, an die Geschwister gekuschelt, so schwelgend gelauscht hatte, schossen ihr durch den Kopf, ihr Atem stockte und der Schreck brachte ihr Blut zum Wallen. Dies hier musste, es konnte nur eine sein: die Katz!
Nun ist es aus, dachte Pia. Starr vor Schreck schloss sie die Augen. Ade, Welt! Vergiss mich nicht! Schon musste die Katz zum Sprung ansetzen, sicher waren ihre furchtbaren Krallen schon ausgefahren...
...da hörte Pia hinter sich ein wohlbekannt schlurfendes, gummistiefeliges Geräusch. „Ach, da ist ja das Küken! Pfui Minka, kusch!“ sagte die Stimme des dicken Bauernjungen. Der Katzeneingang klappte zu. Pia wagte, ein Auge zu öffnen. Zwei freundlich geöffnete Hände streckten sich ihr entgegen. Pia öffnete auch das zweite Auge und fühlte sich im nächsten Augenblick emporgehoben. „He, du kleiner Ausreißer. Nun bringe ich dich aber rasch wieder nach Hause!“
Gibt es etwas Schöneres, als gemütlich den ganzen Tag damit zu verbringen, Körner zu picken, herumzuhüpfen und zu wachsen? Und abends mit den Geschwistern zusammenzurücken und Geschichten zu erzählen? Nein, etwas Schöneres kannte Pia nicht. Etwas Schöneres kannten auch die übrigen Bewohner des Hühnerhauses nicht. Und was sie von nun an in den Abendstunden zu hören bekamen, übertraf alles, was sie bislang erahnt hatten.
Pia seufzte selig. Und dann dachte sie: Später, wenn ich größer bin, dann darf ich obendrein in den Hühnerhof. Das wird schön.