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Pia sagt
Pia sagt, sie hat geweint. Was natürlich so nicht stimmt. Sie hat nur wieder ihren Kopf zum Fenster rausgehalten. In den Regen, so dass es aussieht, als hätte sie tatsächlich geweint.
Aber sie hat vergessen, ihre Haare abzutrocknen. So wirkt es nicht echt. Beim Weinen können die Haare gar nicht nass werden. Höchstens wenn man währenddessen einen Kopfstand macht, was nicht sehr wahrscheinlich ist.
Außerdem hat sie das Fenster nicht geschlossen. In der Wohnung ist es fast so kalt wie draußen und das ganze Zimmer riecht nach Herbst.
Ich gehe auf sie zu, als wollte ich ihr die Tropfen von den Wangen tupfen, aber das Leben ist kein Film und ich gehe an ihr vorbei ans Fenster und blicke auf die Straße. Die Bäume haben alle ihre Blätter abgestreift. Jetzt werfen sie haufenweise kleine Zweige ab, obwohl sie dann bald gar nichts mehr zum Fallen lassen haben. Und immer noch nicht leicht genug sein werden, um vom Boden abzuheben.
Aber Bäume heben nicht ab und das Leben ist auch kein Gedicht.
„Das Leben ist auch kein Gedicht“, sage ich. "Eher eine Kurzgeschichte."
Pia bittet um ein Taschentuch.
Und sie sieht leider auch nicht wie die Frauen in den Filmen aus. Mehr wie die Mutter einer dieser Frauen. Älter jedenfalls.
Seit Wochen haben wir die Fensterscheiben nicht geputzt. Weil Pia ihr Spiegelbild nicht sehen will, nichtmal in einem blankgeputzten Löffel, nichtmal in den Augen irgendwelcher Leute.
Ich würde gerne sagen: „Ich verstehe dich“, aber sie würde das nur missverstehen und sauer sein auf mich.
Pia sagt, sie hat sich verletzt. Zum Beweis hält sie mir ihre Hände hin. Wie ein Verbrecher, wie ein Kind.
Sie hat eigentlich hellblaue Handtücher um ihre Finger gewickelt. Jetzt sind sie dunkelrot und fleckig.
„Wie ist das passiert?“, frage ich.
Pia nickt mit dem Kopf in Richtung Badezimmer. Als hätte sie der Wasserhahn gebissen.
Das große weiße Handtuch, mit dem der Spiegel verhängt war, liegt am Boden wie ein gestorbenes Gespenst.
Vom Spiegel selber ist nur noch die runde Silberfassung übrig.
Sie muss danach noch auf den Scherbenhaufen im Waschbecken eingedroschen haben. Anders kann ich mir die kleinen Scherben nicht erklären.
„Scheiße“, sage ich, und: „Warum?“
Pia sagt, sie weiß es nicht. Ich würde sie am liebsten schütteln, solange, bis das Wort aus ihr herausfällt, bis sie meine Hilfe endlich annimmt.
Depression. Ein Buchstabe für jeden ihrer Finger. Je fünf für ihren gottverdammten Stolz und ihren Selbsthass, der sich gegen jede Form von Mitleid auflehnt. Und zehn für ihre perfekt geformten Hände, mit denen alles angefangen hat und mit deren Schönheit wir unser Geld verdienten.
Und nun?
Keine Werbespots für Hautcremes mehr. Keine Fotoshootings mehr für Nagellack oder irgendwelchen Schmuck. Schluss mit Großaufnahmen. Alles was uns bleibt, sind Narben.
Und Manager braucht sie jetzt bestimmt auch keinen mehr. Sieht so aus, als wäre das Verfallsdatum unserer Beziehung abgelaufen. Zwischen uns ist nur noch kalte Luft.
„Mach doch endlich mal das Fenster zu.“
Natürlich kenne ich den Grund. Pia schämte sich ihrer Hände wegen. Vermutlich war sie auch deshalb so schnell einverstanden, als ich sie bat, nur noch mit dicken Wollhandschuhen aus dem Haus zu gehen. Um ihre Haut zu schonen. Und meine Nerven.
„Und was willst du jetzt machen?“, frage ich.
Pia sagt, sie schreibt ein Buch mit dem Titel „Meine Hände und ich.“
Ob es ein Happy End hat, will ich wissen, aber sie will es mir nicht sagen. Und auch ihre Augen scheinen nichts Genaueres zu wissen. Seit Wochen hat sie mich nicht richtig angesehen, mit diesen sonderbaren Augen, die in letzter Zeit so flach sind, wie ausgetrocknete Teiche, und durch die man durchsehen kann, als wäre nichts dahinter.
Dabei habe ich nichts unversucht gelassen, um die Depression aus ihr herauszuholen. Habe sie die ganze Strecke bis zum Arzt geschleift, vor dessen Praxis sie mir dann doch noch irgendwie entwischte.
Habe mit der Taschenlampe in sie hineingeleuchtet, ganz tief in ihre Ohren. Aber natürlich war da nichts. Nichts, was wie eine Depression aussah. Ich bin allerdings auch kein Fachmann.
„Soll ich vielleicht besser gehen?“, frage ich.
Pia sagt: „Du gehst schon gut genug. Lass dich nicht aufhalten. Lass mich ruhig allein.“
Und dann platzt es aus ihr heraus: Sie hat es immer schon gewusst. Dass ich sie nicht wirklich liebe. Nur ihre Hände. Dass mir der Rest von ihr egal ist.
„Auch ich habe Gefühle“, sagt sie.
„Du hörst dich an wie eine Pflanze“, sage ich. „In einem schlechten Film.“
Gerade als ich gehen will, nimmt Pia meine Hand, als wollte sie sie stehlen, und klemmt sie sich zwischen die beiden blutgetränkten Handtuchklumpen.
Weil ich nichts dagegen unternehme, legt sie meine entführte Hand auf ihre Brust.
„Da. Fühl mal“, sagt sie, und ich fühle und fühle und fühle nichts, kein Klopfen, nichts.
„Ich kann es nicht finden“, sage ich. „Dein Herz. Tut mir leid.“
Wahrscheinlich liegt es an der Kälte, die uns beide ziemlich heftig zittern lässt. Wir sollten das Fenster wirklich schließen, bevor wir noch aneinander festfrieren.
Aus Pias Mund kommt kalter Rauch, kondensierte Worte der Enttäuschung.
„Vielleicht bist du eine Artischocke“, sage ich sehr leise und ganz nah an ihrem Ohr, als wäre da jemand, der uns unerlaubt belauscht. „Mit einem Herz, das ab und zu nicht schlägt.“
„Ein Witz“, füge ich hastig hinzu.
„Vielleicht habe ich das Pochen einfach nicht bemerkt. Weil ich doch so unsensibel bin.“
Ob sie denn nicht mal lächeln könne, frage ich, oder weinen, oder irgendwas. Ich sage, ich bin nicht wie die Frauen in Indien, die sich freiwillig ins Grab zu ihren Ehemännern legen, weil sie lieber zusammen tot sind als alleine leben.
Pia sagt, sie will nicht lächeln, jetzt nicht.
Pia sagt, sie will zu keinem Arzt.
Pia sagt, sie will auch keine perfekten Hände mehr.
Pia sagt, sie will nicht, dass ich gehe. Jetzt nicht.
Pia sagt, ich soll ihr helfen, mit dem Buch und allem.
Erst auf halbem Weg zum Fenster bleibe ich stehen, mit zuckenden Mundwinkeln, die zur Seite wollen, um dem Lächeln Platz zu schaffen.
Ich hätte eben fast das Happy End verpasst.