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Philosophie zum Anfassen
„Wer ist denn da?“ Frau Grothe zog ihr Nachthemd fester um sich. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Es war kurz nach Zwei und hatte gerade zum sechsten oder siebten Mal geklingelt. Sie war nicht besonders ängstlich und hatte so ein Gefühl bislang zwar selten, doch nie ohne Grund gehabt. Sei auf der Hut, dachte sie bei sich.
„Frau Grothe?“, erklang eine männliche Stimme hinter der Haustür, „Polizei. Es geht um ihre Tochter, Katja.“
Ein erschrockener Laut entfuhr ihr, und das ungute Gefühl grub sich in ihre Magengegend und nistete sich dort ein. „Katja? Oh Gott …“ Was war bloß passiert? „Warten Sie!“ Hastig setzte sie ihre Brille auf, entriegelte die Tür und öffnete sie. „Was …“
In der einen Hand hielt der dunkel gekleidete Mann eine Videokamera, die andere war zur Faust geballt und – schlug zu.
Schmerz explodierte in Frau Grothes Nase, die Brille drückte sich in ihr Gesicht. Sie stieß den schwachen, zittrigen Schrei einer alten Frau aus, taumelte rückwärts und versuchte, die Arme schützend vors Gesicht zu heben. Der Mann folgte ihr ins Haus und schlug weiter zu. Neben den rhythmischen Schmerzexplosionen spürte sie, dass auf einmal ihre Brille und ihr Gebiss nicht mehr an ihrem Platz waren. Unter den Schlägen verlor sie die Orientierung und stürzte. Der Mann ging dazu über, auf sie einzutreten, doch inzwischen waren die Schmerzen nicht mehr so schlimm, eher dumpf als gellend. In Frau Grothes Ohren sauste es, und sie sah alles durch einen Grauschleier, der ab und zu bedrohlich Richtung Schwarz kippte. Das Folgende nahm sie nur als kurze Einzelszenen wahr:
Sie sah wie durch ein verkehrt herum gehaltenes Fernglas ihre Beine über den Boden schleifen und den Flur kleiner werden, spürte Druck unter den Achseln.
Sie wurde auf einen Stuhl am Wohnzimmertisch gehievt.
Holz. Mühsam hob sie den Blick: Der Mann saß ihr gegenüber. Ihre Sicht stabilisierte sich.
Als Frau Grothe bemerkte, dass sie leise wimmerte, unterband sie das sofort. Auf dem Tisch machte sie ihre Brille und ihr Gebiss aus. Sie versuchte, Arme und Hände zu bewegen. Es ging, doch sie fühlten sich merkwürdig schwer und taub an. Sie nahm, was von ihrer Brille übrig war und positionierte es auf ihrer verformten Nase. Dann setzte sie vorsichtig das Gebiss ein. Es tat weh. Alles tat weh: Ihr Gesicht bestand aus einer einzigen geschwollenen, wummernden Masse, das linke Auge war fast ganz zugeschwollen. Ihre Rippen bohrten sich in die Eingeweide, und ihren Bauch erfüllte ein tief brummender Schmerz, der sie an Hornissen erinnerte. Im Inneren zuckte es irritiert und sie schmeckte Magensäure. Frau Grothe atmete ein und hob den Kopf.
Die Arme des Mannes waren auf den Tisch gestützt, mit den Händen hielt er die Kamera auf sie gerichtet. Sie kannte ihn nicht. Vor ihm lag das schnurlose Telefon aus der Küche.
„Was … wollen Sie?“, brabbelte sie durch ihre geschwollenen Lippen.
Der Mann brach in Gelächter aus.
Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er: „Entschuldigen Sie, aber das ist wirklich köstlich dramatisch!“, und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Also, Frau Grothe, was ich will, werden Sie noch früh genug erfahren. Das hier wird ein ziemlich … einschneidendes Erlebnis werden – ha, das ist gut.“ Nach einem Gluckser wurde er plötzlich ernst. „Frau Grothe, fürchten Sie sich?“
Sie brauchte einen Moment, um den abrupten Stimmungswechsel zu verdauen, dann dachte sie über die Frage nach. Wenn sie das zugab, hatte er sie auch psychisch in der Hand. Aber wenn sie es leugnete, würde er vielleicht wütend werden. Sie konnte ihn nicht einschätzen …
„Ist schon in Ordnung, natürlich fürchten Sie sich -“
„Wenn Sie Geld wollen, im -“
„Ruhe!“, brüllte er und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Frau Grothe zuckte zusammen, ein Schreckenslaut entfuhr ihr.
„Unterbrechen Sie mich nicht noch mal, verstanden?“
Sie nickte. Eine Träne lief ihre Wange hinab.
„Gut. Natürlich fürchten Sie sich. Ich bin bei Ihnen eingedrungen, habe Sie überwältigt und in meiner Gewalt, und Sie können nichts tun ...“
Frau Grothe suchte in Gedanken fieberhaft nach etwas, was diese Aussage widerlegen konnte. Ich könnte schreien – aber das würde keiner hören ... Ich brauche eine Waffe! Irgendwas … Ihr Blick huschte im Zimmer hin und her. Nichts, verdammt! … Das Telefon – nein, wenn ich danach greife, wird er aufspringen und es mir aus der Hand reißen. Damit weglaufen kann ich auch nicht, er würde mich sofort kriegen …
Der Mann nickte, als wüsste er, was in ihrem Kopf vorging. „Tja, Sie sind mir wirklich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, was? Ich könnte wer weiß was mit Ihnen anstellen …“ Er beugte sich vor und betätigte mit Blick auf das Display etwas an der Kamera.
Anstellen?, dachte Frau Grothe. Vergewaltigung! Oh Gott, er könnte mich vergewaltigen! Wie letzte Woche in der Zeitung, wo in diesem Altersheim die Bewohner von den Pflegekräften misshandelt wurden …
Der Mann griff in seine Jackentasche und legte ein Klappmesser vor sich auf den Tisch.
Frau Grothe entfuhr ein kleiner Entsetzensschrei und sie begann zu zittern. Während sie weiterdachte, unterdrückte der Mann ein Lächeln. Gott, er könnte mich foltern, oder sogar … oder sogar töten, oh Jesses!
„Ja, ich könnte Sie -“
„Bitte, sagen Sie mir doch, wer Sie sind und was Sie wollen, ich …“, haspelte sie mit brüchiger Stimme, als sie sich ihres Fehlers bewusst wurde.
„Wie war das mit dem Unterbrechen, Frau Grothe?“ Leise, fast geschäftsmäßig. Doch in den Augen des Mannes blitzte etwas.
Oh nein. Du dummes Mädchen. Sie nickte unterwürfig und flüsterte: „Entschuldigung!“
Der Mann griff hinter sich, zog ein dünnes Buch aus einem Regal und legte es vorne unter die Kamera, sodass sie etwas nach oben gerichtet war. Dann stand er auf und ging um den Tisch herum.
Frau Grothe schloss die Augen.
Er verpasste ihr eine Ohrfeige, von der ihr Kopf zur Seite und ihre Brille zu Boden flog. Neuer Schmerz, seltsam gedämpft, dafür irgendwie schwerer, flammte auf und sie begann zu weinen.
Er setzte sich wieder. „Ich werde Ihnen erklären, wer ich bin und was ich will. Wir müssten noch genug Zeit haben.“ Er schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Ja, haben wir.“
Katja wurde von der Klingel geweckt. Im ersten Moment war sie orientierungslos, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie vor dem Fernseher eingeschlafen war. Sie griff zur Fernbedienung und schaltete ihn aus. Wieder schrillte die Klingel. „Ja doch!“, murrte sie, während sie sich aus der Decke schälte und versuchte, das traumartige Gefühl des Schlafs loszuwerden. Wer konnte das sein?
Im Flur warf sie einen Blick auf die Uhr: um Zwei! Wer auch immer da vor der Tür stand – dem würde sie was erzählen! War vielleicht Peter früher zurück? Unwahrscheinlich, außerdem hatte er seine Schlüssel dabei, sie hatte sie ihm beim Abschied gegeben. Aber sicher war es irgendein Bekannter, wer würde sonst zu so einer Zeit klingeln? Automatisch und bevor ihr der Gedanken kam, dass es vielleicht keine so gute Idee war, öffnete sie die Tür – und erschrak.
Das Gesicht der dunkel gekleideten Frau war mit Piercings gespickt und sie trug zahlreiche Ohrringe. Katjas Blick wurde von etwas auf ihrem Kopf angezogen: Erst dachte sie, es handelte sich um eine Stirnlampe, doch als sich die Frau an ihr vorbeidrängte und die Tür schloss, sah sie, dass es eine kleine Kamera war.
„He … He! Was fällt Ihnen ein! Wer sind Sie überhaupt?!“ Katja folgte der Frau, die sich ungeniert einen Überblick der Räumlichkeiten verschaffte. „Hallo? Bleiben Sie stehen! Was wollen Sie?“
In der Küche drehte sich die Frau plötzlich um und boxte ihr aufseufzend in den Bauch. Sie trug dünne Handschuhe.
„Umfff“, machte Katja und krümmte sich. Die Frau rammte ihr das Knie in Gesicht: In Katjas Nase knirschte es und sie stürzte nach hinten. Während sie mit Tränen in den Augen auch die neuen Schmerzen niederzuringen versuchte, lief Blut zwischen ihren Fingern hindurch und tropfte auf den Boden.
„Genau das will ich!“, sagte die Frau nachdrücklich, zog sich etwas zurück und tänzelte auf der Stelle.
Katja hatte einen Schock. Instinktiv versuchte sie, den Blutstrom zu stoppen. „Ich … Ich blute“, näselte sie ungläubig.
„Genießen Sie es“, erwiderte die Frau, „Blut ist das Ejakulat des Schmerzes.“
Doch das kam nicht bei Katja an, die sich gerade an der Spüle aufrichtete. Sie musste die Blutung stoppen! Also nahm sie den Lappen von der Spüle und hielt ihn unter den Wasserhahn.
„Was zum …?“ Die Frau trat heran und knallte Katjas Kopf gegen den Oberschrank.
Katja ließ den Lappen fallen, presste sich die Hände auf die Stirn und fing an zu heulen. „Scheiße, was wollen Sie denn?“ Unter ihren Fingern begann sich eine Beule zu bilden.
„Das“, ein Tritt gegen ihr Schienbein, „und das“, ein Kniff in ihre Brust, „und das“, eine Ohrfeige.
Etwas in Katjas Kopf setzte aus und schreiend ging sie zum Gegenangriff über: Wie ein Wirbelsturm drang sie mit fuchtelnden Armen und tretenden Beinen auf die Frau ein. Diese Schlampe war in ihr Reich eingedrungen, hatte sie verletzt und gedemütigt – dafür würde sie bezahlen! Katjas Füße trafen auf die Beine der Frau, ihre Hände auf ihren Oberkörper und Kopf. Sie kratzte mit ihren Fingernägeln über Stoff und Haut, riss Piercings und büschelweise Haar heraus – bis sie merkte, dass die Frau sich gar nicht wehrte und … Moment. Sie stoppte ihr Kreischen und nahm sich etwas zurück. Diese Irre keuchte und stöhnte, als … als hätte sie Sex!
Verwirrt wich Katja zurück.
Die Frau war erhitzt, ihr Gesicht blutig, ihr Atem ging schnell. In ihrem Blick lag … Lüsternheit?
Katja wandte sich um und wollte fliehen, doch schon war die Frau bei ihr, umklammerte sie, griff unter ihrem Arm hindurch und würgte sie.
Während Katja versuchte, die Hand von ihrem Hals loszubekommen, spürte sie Schmerz in ihrer Seite. Zuerst dachte sie, die Frau hätte sie dort geboxt, doch dieser Schmerz war anders – anders als alle Schmerzen, die die Frau ihr bisher zugefügt hatte. Sie schrie. Er war viel schärfer und tiefer, wie
Oh nein …
ein Stich. Zum Beispiel von einem Messer aus dem Block auf der Arbeitsfläche.
Katja spürte warme Nässe an ihrer Hüfte. Auf einmal hatte sie keine Kraft mehr und eine riesige, schwarze Welle rollte auf sie zu.
Mutter, dachte sie, Mutter!
...
Irgendwann später fand sie sich auf dem Küchenboden liegend wieder und spürte Nässe an ihrer ganzen Seite. Ihre Kleidung war dort blutgetränkt. „Oh Gott“, wimmerte sie. Dann durchfuhr es sie: die Irre! Hektisch schaute sie sich um, doch anscheinend war diese geflohen.
Vielleicht hatte sie sich nur einen Kick holen wollen, indem sie in eine fremde Wohnung eindrang und die Bewohner schikanierte. Vielleicht hatte sie das hier gar nicht gewollt …
Genau, das Messer steckte plötzlich aus purem Zufall in deiner Seite.
Mit zusammengebissenen Zähnen zog sich Katja an einem Küchenstuhl hoch. Ihre Seite fühlte sich an, als hätte ein Hai einen Haps aus ihr herausgebissen. Sie wagte nicht, ihren Pullover hochzuziehen und sich die Wunde anzusehen – erst musste sie irgendwie auf sich aufmerksam machen. Zischend drückte sie ihre Hand auf die Verletzung und ging vorsichtig Richtung Flur. Vielleicht stand die Haustür offen, und bevor die Frau es sich möglicherweise anders überlegte und zurückkam, musste sie sie schließen.
Allerdings war das Telefon im Wohnzimmer näher.
Sie änderte ihre Richtung. Jemand musste informiert werden, je schneller, desto besser. Nicht, dass sie im Flur auf die Irre traf und noch nichts zu ihrer Hilfe eingeleitet hatte.
Katja humpelte ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Polizei, Polizei, hallte es in ihrem Kopf, doch sie begann, die Nummer ihrer Mutter zu wählen. Die Polizei würde sie mit Rückfragen ans Telefon fesseln, während die Irre vielleicht zurückkam. Wenn sie aber ihrer Mutter nur kurz sagte, sie solle sofort die Polizei zu ihr schicken, es handele sich um einen Notfall, hätte sie auf jeden Fall mehr Zeit, die Haustür zu schließen. Doch bei der letzten Ziffer ließ etwas sie innehalten.
(…)
Was?, fragte sie in sich hinein.
(ufinichan) Sie schloss die Augen und konzentrierte sich.
(ruf sie nicht an. etwas stimmt nicht), vernahm sie ganz leise etwas zwischen Stimme und Gefühl.
Sie nahm den Finger von der Taste. Dieses Stimmengefühl hatte sie in ihrem Leben nur ein paar Mal gehabt, doch es hatte immer etwas bedeutet.
Nach kurzer Überlegung drückte sie auf ‚Abbrechen’ und fragte sich: Aber wer dann? Peter wäre sicher erstmal überfordert und würde wertvolle Zeit verschwenden.
Plötzlich wusste sie die Antwort: Sven! Ihr Kollege würde schnell schalten und ihr helfen.
Mit flinkem Finger wählte sie die Nummer und hielt sich den Hörer ans Ohr. Es tutete einmal, zweimal, dreimal. „Komm schon, geh ran, ich weiß, es ist spät, aber geh ran!“, murmelte sie. Schließlich wurde abgenommen und Sven meldete sich mit schläfriger Stimme.
„Sven! Katja hier. Oh Gott, gut, dass …“ In diesem Moment sprang kreischend die Irre hinter dem Sofa hervor und stürzte sich mit erhobenem Messer auf Katja.
„Ich habe Philosophie studiert“, begann der Mann und veränderte die Position der Kamera ein wenig. „Allerdings ging es mir immer ganz konkret um das Wesen des Menschen, was viel Psychologie beinhaltet, und seinen Weg in diesem Leben. Vieles im Studium empfand ich daher als unnützes Aufbauen und Einreißen von Gedankengebäuden, als unergiebiges Grübeln.
Ich freundete mich mit einer Kommilitonin an, die ähnlich unzufrieden war und heute übrigens meine Frau ist. Von Anfang an verband uns der Wunsch nach praktischer Philosophie mit konkretem Nutzen, Philosophie zum Anfassen. Wir kapselten uns von unseren Kommilitonen ab und entwickelten eigene Theorien, die oft auf Empörung und Ablehnung stießen und uns den Status von Sonderlingen einbrachten. Das störte uns aber nicht, schließlich wurden etliche bedeutende Geister erst als Spinner angesehen, nicht wahr?
Meine Frau war schon immer von Dingen fasziniert, die normalerweise widerstreben oder abstoßen. Seit einer Weile beschäftigt sie sich mit physischem Schmerz. Ihr Ansatzpunkt dabei ist die Frage, warum wir Sinneseindrücke in angenehm und unangenehm einteilen. Sie glaubt, das Unangenehme dabei ist vor allem die Angst, eine Verletzung könnte etwas irreversibel beschädigen oder sogar zerstören. Doch was wäre, wenn man diesbezüglich keine Sorgen zu machen bräuchte? Ich sage es Ihnen: Dann kann man Schmerz einfach als das wahrnehmen und genießen, was er ist: ein Sinneseindruck.“
Innerliches Entsetzen ergriff von Frau Grothe Besitz.
„Meine Frau hat sich diese Angst abtrainiert. Sie hat sich bewusst gemacht, was der menschliche Körper für ein Wunderwerk ist. Er besitzt so viele Nerven, die förmlich nach Reizung schreien, und hat eine so gute Regeneration – das ist übrigens eigentlich eine ziemlich offensichtliche Verbindung, oder? – warum sich also übertrieben ängstigen? Zusätzlich hat sie sich in Erste Hilfe eingearbeitet, und ab da fühlte sie sich sicher.
Meine Frau fügt sich gerne Schmerzen zu oder lässt sie sich zufügen, genauso, wie man sich schöne Sinneseindrücke verschafft. Haben Sie sich schon mal über Stunden hinweg überlegt, auf welche Art und Weise Sie sich wehtun könnten? Meine Frau ist dabei richtig kreativ. Und auch sehr verspielt.“ Er lächelte. „Die Vielfalt an Möglichkeiten ist überwältigend! Neuerdings jongliert sie mit kleinen Kakteen, von denen sie vorher die Wurzeln abschneidet …
Manchmal tun wir uns gegenseitig weh. Das ist, wie miteinander zu schlafen, nur auf der anderen Seite der Skala, verstehen Sie?
Ach, aber Sie sollten sie selbst hören, wenn sie darüber spricht, und ihre Leidenschaft spüren …“ Er schaute auf seine Uhr. „Aber im Grunde geht es bei dem Ganzen hier“, er deutete erst auf sie und dann um sich herum, „um meine Forschung, auch wenn wir das Ganze so gestaltet haben, dass sie auch etwas davon hat.“ Er schmunzelte. „Ich bin zurzeit auf einem anderen, psychologischeren Gebiet tätig.
Wir sprachen vorhin über Furcht. Furcht ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs: Der Eisberg selbst ist die Panik. Sie gilt es im Kern zu besiegen. Ich glaube nämlich kurz gesagt, dass wir Menschen vollkommen werden sollen und auf diesem Weg unter anderem unsere Furcht und Panik überwinden müssen, denn das sind ja inzwischen weitgehend anachronistische Emotionen. Doch eigene Furcht und Panik lassen sich nicht inszenieren, wie kann man sich also darin üben?
Meiner Meinung nach ist der beste Weg, um ihnen aus sicherer Position heraus zu begegnen, ihr Wirken in einem anderen Menschen direkt mitzuerleben. Und das wiederum kann man inszenieren ...“
Frau Grothe fühlte sich, als hätte sie etwas am Fuß gepackt und zöge sie in einen Sumpf.
„Ein Nebenaspekt dabei ist, das wahre Wesen des Menschen zu enthüllen. Durch unsere Kultur, Ethik und so weiter haben wir uns so sehr von unserem Ursprung entfernt und verändert, dass wir gar nicht mehr wissen, wer oder besser: was wir im Kern sind. Und genau das interessiert mich eben.“ Er schaute wieder auf seine Uhr.
Frau Grothe hatte mit stetig wachsendem Entsetzen zugehört. An der Stelle mit den Kakteen hätte sie trotz allem fast hysterisch aufgelacht, so skurril war das Ganze, doch sie hatte es sich zum Glück verkneifen können. Eins war ihr jetzt allerdings klar: Sie hatte einen echten Wahnsinnigen vor sich.
Der Mann fixierte sie. „Sie empfinden Furcht, Frau Grothe. Ich könnte Sie vergewaltigen, Sie foltern, Sie töten. Sie, Sie, Sie.
Aber jetzt“, fuhr er verschwörerisch fort, „empfinden Sie Panik.“ Mit diesen Worten nahm er das schnurlose Telefon, stellte es zu ihr gerichtet in die Mitte des Tisches, beugte sich mit der Kamera vor und wartete. Gab der Furcht Zeit zu wachsen und zu Panik zu werden.
Sekundenlang saß Frau Grothe einfach nur da. Sie begriff nicht. Als sie es schließlich tat, fühlte sie sich, als würde der Boden unter ihr weggezogen. Sie schnappte nach Luft, blinzelte.
Auf den Lippen des Mannes zeigte sich ein ansatzweises Lächeln. Konzentriert schaute er auf das Kameradisplay.
„Es … Es geht gar nicht um mich“, hauchte sie. Ihr war, als stünde sie neben sich und beobachtete sich selbst. „Katja. Oh Gott ...“
Der Mann nickte. „Genau, es geht um Ihre Tochter Katja: Die einzige, die Ihnen blieb, als Ihr Mann vor fünf Jahren an einem Schlaganfall starb und zu der Sie schon immer diese manchmal beinahe telepathische Verbindung hatten. So wie damals, als sie als kleines Mädchen beim Baden vom Fluss mitgerissen wurde und Sie das Gefühl hatten, nach ihr sehen zu müssen und sie so retten konnten. Oder als sie als Fünfjährige in der Höhle im Wald verschüttet wurde und Sie sicher waren, dass sie da drin war. Oder als sie als Vierzehnjährige fast von ihrem Freund vergewaltigt wurde und Sie das verhindern konnten, weil Sie ein seltsames Gefühl gehabt hatten und früher losgefahren waren, um sie abzuholen.
Nicht zu vergessen die Male, wo sie gespürt hat, dass etwas mit Ihnen nicht stimmte. Etwa, als Ihnen gekündigt worden war und sie es geheim halten wollten. Oder als Sie alleine zu Hause waren, den Hexenschuss hatten, am Boden lagen und sich nicht rühren konnten ... “
Frau Grothe hatte angefangen zu zittern. Entsetzt starrte sie abwechselnd den Mann und das Telefon an. „Woher … wissen Sie das alles?“
Er lachte. „Aber Frau Grothe, gerade Sie müssen doch wissen, wie sich Menschen, besonders ältere, danach sehnen, dass ihnen jemand zuhört. Ist das nicht einer der Gründe, warum Sie ins Seniorenzentrum gehen? Das sind die reinsten Klatschtreffen. Und wenn man Informationen zu jemandem sucht, stößt man dort auf ergiebige Quellen …“
Frau Grothes Blick war vom Telefon gefangen. „Sie Schwein …“
„Vorsicht, Frau Grothe.“ Plötzlich waren da wieder diese unberechenbare Gefährlichkeit in der Stimme und das Blitzen in den Augen des Mannes. „Dieses Mal lasse ich es Ihnen noch durchgehen …“
„Was haben Sie mit Ihr gemacht, Sie …?“ Sie lauschte in sich hinein.
Schatz? Schatz, bist du da? Ist alles in Ordnung?
…
Nichts. Sie zwang sich, dem Mann ins Gesicht zu sehen. Dieser hatte das Display der Kamera fixiert und schob sie näher heran. „Was haben Sie -“
Drrrring!
Sie zuckten beide zusammen, als das Telefon laut klingelte.
Der Mann sah auf seine Uhr. „In Ordnung -“
Drrrring!
„Ist für Sie. Gehen Sie ran, stellen Sie auf Lautsprecher!“
Drrrring!
Ihre Stimme brach fast, als sie fragte: „Wer wird dran sein? Und was wird er mir sa-“
Drrrring!
„Tun Sie, was ich sage!“, donnerte er.
Frau Grothe schrie auf, hielt sich kurz die Ohren zu und griff dann nach dem Telefon. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie es umwarf.
Drrrring!
Jetzt hatte sie es und drückte auf das Lautsprechersymbol, während der Mann sich wieder auf seine Kamera konzentrierte. Leises Rauschen war zu hören. „Hallo?“ Frau Grothe hasste den weinerlichen Klang ihrer eigenen Stimme.
Eine Frau sagte von etwas weiter weg: „Deine Mutter. Sprich!“ Es raschelte. Dann tönte Katjas Stimme schwach, aber nah aus dem Gerät: „Mama …?“
Es war, als würde ein Blitz in Frau Grothe fahren. „Schatz?! Schatz, ist alles in Ordnung?! Was -“
„Mam-ahh …“ Katjas Stimme verlor sich im Hintergrundrauschen.
Eine eiskalte Faust schloss sich fest um Frau Grothes Herz. Einen Moment lang herrschte auf beiden Seiten der Leitung vollkommene Stille. Allen Anwesenden war klar, dass die Sprecherin mit diesem letzten Wort ihr Leben ausgehaucht hatte.
Dann raschelte es, die Leitung wurde unterbrochen und das Telefon tutete laut.
Frau Grothe schrie und schleuderte das Gerät von sich.
Der Mann betrachtete auf dem Kameradisplay, wie sie immer wieder mit beiden Fäusten auf den Tisch hämmerte und „Nein, nein, nein, nein …“ brüllte, unterbrochen von lauten Schluchzern. Dann stand sie auf, lief händeringend ziellos ein paar Schritte herum, wahrscheinlich ohne zu realisieren, was sie tat, und sank dann weinend auf den Teppich.
In der Tasche des Mannes vibrierte es – eine SMS. Ohne Frau Grothe aus dem Fokus zu lassen, holte er sein Handy hervor und rief die Nachricht auf:
So schnell.sorry,war
zu impulsiv!bin weg,
mach schnell fertig!x
Er drückte auf den grünen Hörer, hielt sich das Gerät ans Ohr und ließ es einmal klingeln, bevor er auflegte.
Sie hatte recht, es war tatsächlich schnell gegangen. Aber das war in Ordnung, er selbst hatte siebzehn Minuten Filmmaterial bis jetzt, mit der Panik höchstpersönlich und in deutlicher Ausprägung als Höhepunkt, und wer weiß, was sein Liebling von der Tochter aufgenommen hatte? Er würde die Panik später auf jedem einzelnen Frame untersuchen, und die besten würde er ausdrucken und aufhängen, damit er sie betrachten konnte, wenn er zum Beispiel am Schreibtisch oder auf dem Klo saß. Wenn er sich an die Panik gewöhnt hatte, würde er irgendwann ihr Wesen erkennen und verstehen. Und dann, wie man sie besiegen konnte. Das würden spannende neue Experimente werden ...
Doch inzwischen hatte sich Frau Grothes Panik wieder verzogen. Die alte Frau wurde jetzt nur noch von Leid getrieben, und davon wollte er sie erlösen, schließlich war er kein Sadist.
Er positionierte die Kamera wie vorhin mithilfe des Buchs und richtete sie auf den leeren Stuhl. Dann steckte er das Messer ein, erhob sich und bugsierte die jammernde Frau Grothe auf den Stuhl. Weder wehrte sie sich, noch half sie – wahrscheinlich nahm sie nicht einmal wahr, was passierte. Bedauernswert.
Mit der Linken griff er in ihr dünnes Haar, zog ihren Kopf hoch, klappte mit der Rechten das Messer auf und hielt es ihr an die Kehle. Vielleicht würde sich die Panik noch einmal zeigen, dann würde die Kamera es aufnehmen.
Erst realisierte die alte Frau die Klinge gar nicht, dann betasteten ihre zitternden Finger das Metall, doch sie zeigte keine Reaktion.
Er zog ihr die Klinge in einem schnellen, sauberen Schnitt durchs Fleisch.
Frau Grothe riss die vom Alter leicht trüben Augen auf, gab jedoch keinen Ton von sich und rührte sich nicht, während das Blut aus der klaffenden Wunde herauszupumpen und auf den Tisch zu spritzen begann.
Als der Strom nachließ, beugte sich der Mann hinab, flüsterte „Ich danke Ihnen“ in ihr Ohr und küsste sie auf die Wange. Dann ließ er ihren Kopf langsam sinken und richtete sich wieder auf. Er betrachtete die alte Frau noch einen Moment lang und glättete den Kragen ihres Nachthemds.
Anschließend steckte er sorgfältig die Kamera ein und verschwand aus dem Haus.