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Phillips Tag
Es war sein Plan gewesen, sich die Woche hindurch dermaßen zu betrinken, dass der 31. Oktober unbemerkt an ihm vorübergehen würde. Aber Michael hatte sich verkalkuliert: Die letzte Wodkaflasche war leer, sein Alkoholvorrat damit aufgebraucht und von einem schmerzlosen Zustand der Bewusstlosigkeit war er meilenweit entfernt. Stattdessen fühlte er sich hundeelend, dabei aber fast schon wieder nüchtern.
Und er wusste nur zu gut, welcher Tag heute war: der 31. Oktober, Halloween. Obwohl er sich nicht sicher war, meinte er sogar, durch den sich allmählich auflösenden Schleier der Trunkenheit gelegentlich die Türklingel gehört zu haben. Die Kinder aus der Nachbarschaft waren also auch dieses Jahr wieder unterwegs und das obwohl der Abend nass und kalt war. Gerade jetzt fegte ein heftiger Regenschauer durch die Straßen, die dicken Tropfen platterten gegen die Scheiben.
Michael rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. Das Rauschen des Regens vermischte sich in seinen Ohren mit dem Heulen des Windes. Beinah hörte es sich an wie ein vielstimmiges Flüstern. Kinderstimmen, die ihm etwas ins Ohr sagten.
Und dabei klang es gar nicht, als kämen die Geräusche von draußen. Eher schon aus dem dunklen Keller oder aus den verwaisten Zimmern oben im Haus.
Als er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, fühlte es sich seltsam taub an. Langsam stand er auf. Dabei kam es ihm vor, als sei sein Kopf mit einer zähen Flüssigkeit gefüllt, die bei der Bewegung schwer hin und her schwappte. Für einen Moment war ihm, als müsse er sich übergeben. Er hielt sich an der Lehne des Sessels fest, stand still da.
Er fühlte sich zu nichts weiter in der Lage, als einfach so zu stehen und zuzusehen, wie die Regentropfen die schmutzige Scheibe der Verandatür hinunterrannen. Das Bild beruhigte ihn. Allmählich legte sich die Übelkeit.
Er fuhr zusammen, als sich draußen im Garten etwas bewegte. Direkt neben dem alten Wallnussbaum, nur einen Atemzug lang sichtbar, etwas Weißes in der Dunkelheit.
Michael stürzte durchs Zimmer, riss die Tür auf trat auf die Veranda. „Phillip!“, rief er laut hinaus. „Phillip!“, noch einmal. Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren schrill und brüchig. Er hatte den Eindruck, Wind und Düsternis müssten sie verschlucken, kaum dass der Ruf seinen Mund verließ.
Binnen Sekunden war sein Haar durchnässt, die Kleidung klebte ihm am Körper. Jetzt wusste er, dass er sich getäuscht hatte. Weiße Mäuse, dachte er bitter.
Und dennoch rief er noch einmal und dann noch einmal: „Phillip!“ Obwohl er es besser wusste.
Und er wusste längst nicht mehr, wie oft er gerufen hatte, als er wieder ins Wohnzimmer trat, die Verandatür hinter sich zuzog. Er fror erbärmlich und nun erst sah er, wie trostlos das ganze Zimmer war: Leere Flaschen standen herum und überall war Staub und alles sah aus wie eben so hingestellt und gar nicht wirklich bewohnt. Das Licht der Deckenlampe wirkte grell, die Schatten abgrundtief.
Zitternd, auch vor Kälte, setzte er sich wieder in den Sessel. Er zog die Beine an den Körper, vergrub das Gesicht in der Rückenlehne und begann hemmungslos zu weinen.
Oft hatte Michael darüber nachgedacht, ob die Menschen die Schnitte in ihrem Dasein erst mit zeitlichem Abstand wahrnehmen. Ob sie die Kapitel im Roman ihres Lebens erst nach Jahren abgrenzen und benennen. Letztlich war er zu dem Schluss gekommen, dass es ihm vollkommen egal war.
Ihm jedenfalls war es immer so vorgekommen, als habe dieser verfluchte Nachmittag vor genau zwei Jahren – am 30. Oktober vor zwei Jahren – sein Leben fein säuberlich zerteilt. In vorher und nachher.
Das Gesicht des Doktors und der Ausdruck darauf, das war es, woran er sich noch genau erinnerte. Das Drumherum, das Davor, das Danach: nur noch Schemen. Der Anruf aus dem Krankenhaus – wer war dran gewesen? Ein Mann, eine Frau? Er wusste es nicht mehr. Wie er zum Krankenhaus gefahren war – weg. Wie sie hinterher nach Hause gefahren waren – ausgelöscht. Manchmal fragte er sich, ob all das wirklich stattgefunden hatte.
Aber dieser Ausdruck auf dem Gesicht des Arztes, so unglaublich … Es war alles so unglaublich banal, wie in irgendeiner dämlichen Krankenhausserie. Der Arzt – älteres Semester, graue Haare, faltige Stirn – sah abwechselnd in seine Akte, dann wieder ihn an. Er dozierte in ernstem Tonfall unter Verwendung verschiedener Fachbegriffe die Michael nicht verstand. Und er guckte wirklich genau wie in einer dieser Serien: ernsthaft und auch mitfühlend – aber nicht zu mitfühlend. Professionell mitfühlend, aber trotzdem nicht kalt. Perfekt angemessen. Michael hörte, dass der Arzt redete. Er fühlte sich wie betäubt, er dachte nur: Wow.
Der Teil des Gesagten, der zu ihm durchkam: Erst so spät erkannt. Noch ein Jahr, vielleicht zwei. Und natürlich: Es tut mir leid. Das gehörte halt zur Vorstellung.
„Papa, werde ich sterben?“
Michael erstarrte in der Bewegung. Aber nur kurz, dann zog er den Stuhl zurück und setzte sich seinem Sohn gegenüber an den Frühstückstisch.
„Sterben? Nein. Phillip, wie kommst du denn darauf?“ Michael war ein schlechter Lügner und er wusste es. Auch der Junge musste es merken. Aber sein kleines Gesicht verriet nichts, zeigte nur eine Mischung aus Neugier und beständigem Staunen. Michael spürte, wie es ihm das Herz zusammenzog.
„Wegen der Medizin, die ich immer nehmen muss.“
Vielleicht wäre es besser, dem Jungen die Wahrheit zu sagen. Und Michael verfluchte sich dafür, dass er es nicht konnte. Phillip schob seinen Teller, auf dem noch ein Rest von seinem Brot lag, von sich und sah ihn erwartungsvoll an.
„Das … ist so eine Sache, das haben viele Kinder in deinem Alter. Das habe ich dir doch erklärt.“ Er versuchte, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben. Aber irgendwie hörte sie sich nur seltsam und falsch an.
„Aber als ich im Kindergarten … als ich da hingefallen bin und alles schwarz war? Wo ich dann im Krankenhaus war und Mama und du mich abgeholt habt?“
„Das hat auch mit dem Wachstum zu tun. Weil du jetzt älter und größer wirst.“
„Wirklich? Ist es wirklich deswegen?“
„Ja. Deswegen.“
„Und du lügst mich nicht an?“
„Nein. Bestimmt nicht.“
Phillip dachte nach. Er schaute zur Seite und auf seiner Stirn zeigten sich Falten. „Aber du würdest mir sagen, wenn ich sterben müsste?“
„Ja“, sagte Michael. Aber er dachte: Nein! Nein!, dachte es in heller Panik, schrie es in Gedanken – wollte es heraus schreien und den Tisch umtreten und aus dem Haus rennen und die Straße runter und schreien und weinen und dabei lachen und sich auf den Boden werfen und … Beinah kamen ihm wirklich die Tränen. Aber er hielt sie zurück.
„So, jetzt ist es aber Zeit, dass du deine Tablette nimmst. Wir müssen dich gleich zur Schule bringen.“ Seine Finger zitterten ganz leicht, als er die winzige Pillendose öffnete und die Tablette in Phillips Hand legte. Der Junge hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, beugte sich vor und brachte sein rechtes Auge ganz nah heran, während er das andere zukniff. Dann schob er sie in den Mund, spülte sie mit einem Schluck Orangensaft hinunter.
„Das hast du gut gemacht“, sagte Michael und stand auf. „Aber jetzt müssen wir los.“
„Okay.“ Auch Phillip stand auf, schob seinen Stuhl an den Tisch.
Als sie eben zur Tür raus gingen, umarmte Michael seinen Sohn. „Phillip?“
„Ja?“
„Ich hab dich lieb.“
Und in diesem Augenblick wusste er, dass er die Wahrheit sagte. Dass er vielleicht zum ersten mal in seinem Leben die Wahrheit sagte – dass er vielleicht die einzige Wahrheit aussprach, die es im Universum überhaupt gab.
Michael schrak in seinem Sessel hoch. War er eingeschlafen? Was hatte ihn geweckt?
Das Licht der Deckenlampe drang heiß in seinen Schädel, als seien seine Augen Brenngläser. Und der Regen peitschte heftig gegen die Fenster.
Unsicher kam er auf die Beine, machte sich auf den Weg ins Obergeschoss. Die Stufen waren schmal, er lehnte sich beim Gehen zurück, zog sich mehr am Geländer hinauf als dass er ging. Der Drang loszulassen und die Treppe herunterzustürzen.
Ins Bad. Er kniete sich vor der Toilette auf die kalten Fliesen und würgte. Ihm war nicht einmal schlecht, aber er hoffte, sich hinterher weniger miserabel zu fühlen.
Tatsächlich war der Schwindel nachher verschwunden. Stattdessen fühlte er sich ausgelaugt, bis an die Grenze geschwächt, als sei er aus dünnem Papier.
Papier, das war es: dünnes Papier, an einer Schnur befestigt, vor dem Küchenfenster, drehte sich über der warmen Heizungsluft.
Halloweendekoration, ein grinsender Kürbis und ein weißes Gespenst, das ihm die Zunge herausstreckte, wenn er von der Arbeit kam. Michael verabscheute die beiden und er verabscheute Halloween. Warum musste dieses importierte Kommerzfest jetzt auch noch bei ihm zu Hause stattfinden?
Die Antwort war simpel: Weil Phillip es sich so gewünscht hatte. Und weil man einem sterbenskranken Jungen, der sich wünscht, Halloween zu feiern, nicht erklärt, dass es sich dabei nur um eine weitere Erfindung der Süßigkeiten-Industrie handelt, um die Zeitspanne zwischen Ostern und Weihnachten zu überbrücken. Das sah auch Michael ein.
Aber auch abseits dieser Vorbehalte spürte er in sich einen inneren Widerwillen, den er sich selbst nicht recht erklären konnte. Wenn er das Papier-Gespenst und den Papier-Kürbis in der Küche sah – die Keramikkürbisse mit den Teelichtern im Wohnzimmer – das Fruchtgummi in Form von Hexen und Totenschädeln – da machte sich in seiner Magengegend ein heftiges Unwohlsein breit. Ihm drängte sich das Gefühl auf, als habe er etwas hereingelassen, das besser draußen geblieben wäre. Etwas Unsichtbares, Ungreifbares.
Natürlich kam Michael seine eigene Angst angesichts von ein paar billigen Massenartikeln selbst albern vor. Und letztlich hätte er sich mit der Sache arrangieren können.
Womit er nicht klarkam, war das Kostüm, Phillips Kostüm. Michaels Sohn hatte beschlossen, sich als der Tod zu verkleiden.
Seine Großmutter, Michaels Mutter, hatte ihm aus einem großen Stück schwarzen Stoffs eigenhändig eine Kutte gemacht. Dazu trug er weiße Handschuhe und eine Totenkopf-Maske aus dem Supermarkt.
Und die Maske … Michael hasste sie. Hasste sie so sehr, dass er ein paar mal kurz davor war, sie einfach wegzuwerfen, obwohl er wusste, wie sehr Phillip an dem Ding hing. Es war einfach dass …
Er wusste nicht, was es war. Objektiv gesehen, war an der Maske wenig Erschreckendes. Es war nicht einmal eine besonders gute Maske, irgendwie zu comichaft, das Totenkopfgrinsen wirkte total überzogen. Und trotzdem konnte Michael sich nicht erinnern, jemals seit seiner eigenen Kindheit vor einem bloßen Gegenstand solche Angst gehabt zu haben.
Seit das Kostüm komplett war, etwa eine Woche vor dem Einunddreißigsten, trug Phillip es fast pausenlos. Er trug das Kostüm und spielte Tod. Und tatsächlich konnte man glauben, es habe für ein Kind nie ein besseres Spiel gegeben: Den Tag über unterhielt er sich ganz allein, in Maske und Kutte. Sein Spiel war ein stilles Spiel.
Um so mehr erschrak Michael, wenn er Phillip plötzlich im Flur entgegen kam. Er schlich den Flur entlang, ohne das leiseste Geräusch, schlich durch die Zimmer des Hauses, die Treppe runter, wieder hoch.
Oder er saß auf seinem Bett, Beine und Arme an sich gezogen, gegen die Wand gelehnt und flüsterte etwas vor sich hin.
Was Michael in solchen Augenblicken fühlte, war blanke Furcht, gemischt mit einer Spur Wut. Es kam ihm vor, als werde er verhöhnt, als mache sich jemand über seine Angst lustig.
Und gleichzeitig fragte er sich, ob der Junge etwas ahnte.
Als es geschah war Michael mit den Kindern im Wohnzimmer.
Sie waren gerade von ihrem Beutezug zurückgekommen und der Anblick hatte etwas Seltsames: Wie etwa ein Dutzend kleiner Gestalten auf dem Teppichboden saßen und sich gegenseitig die Süßigkeiten aus ihren Stofftaschen präsentierten. Eine ungewöhnliche Zusammenkunft von zwei Gespenstern, dem Teufel, einer Hexe und anderen Schreckgestalten.
Allerdings hatten wohl nicht alle Kinder aus der Nachbarschaft den Witz von Halloween verstanden: Auch eine Fee und ein Astronaut waren mit von der Partie.
Und Phillip, in sein schwarzes Kostüm gehüllt, wirkte unnatürlich groß, als er langsam, ganz unvermittelt, aufstand. Die anderen Kinder wurden plötzlich still, sahen mit offenen Mündern zu ihm hoch.
Ein einzelner Tropfen Blut fand seinen Weg durch eines der Löcher, die in der Maske ausgespart waren, um das Atmen durch die Nase zu ermöglichen. Noch einer.
Sie landeten auf Phillips Brust und färbten das Kostüm dort dunkler. Schwärzer als Schwarz.
Und Phillip streckte eine Hand aus, als wolle er sich an etwas festhalten – aber da war nichts. Die Hand schwebte in der Luft, zitterte, wie ein trockenes Blatt im Wind.
Auch Michael erhob sich aus seinem Sessel, aber es war, als folge sein Körper ihm nur mit Verzögerung, unendlich langsam.
Ein dünner Rinnsal suchte seinen Weg aus dem Mund der Maske, das weiße Kinn hinab, durchtränkte den Kragen. Phillip schwankte, etwas wie ein Husten schüttelte ihn – und klang so fremd, fast wie ein Grunzen.
Michael durchquerte das Zimmer, immer noch wie in Zeitlupe – und fühlte sich in seinem eigenen Körper so fremd, als sei er sich selbst unbekannt.
Aber als Phillip fiel, da hatte er ihn. Der kleine Körper landete in seinen Armen und wirkte dabei so unendlich zerbrechlich.
Und alles danach war wieder verwischt, hatte wenig mit ihm zu tun.
Die Kinder, die kreischten und weinten. Das kleine Mädchen, das in Ohnmacht fiel.
Die Fahrt ins Krankenhaus, vergeblich, umsonst.
Das gehörte nicht mehr zu ihm, fand keine Beachtung.
Denn eins wurde ihm nun so unbestreitbar klar, dass es keine Leugnung erlaubte. Er hatte es erwartet und nun war es geschehen.
Er hatte seinen Sohn geliebt, doch er hatte gewusst, dass der Tag kommen würde. Und nur für das Danach hatte er weitergelebt.
Ihm wurde bewusst – so sehr er sich dafür hasste – dass er darauf gewartet hatte.
Schweißtropfen auf Michaels Stirn. Ein leichtes Zittern der Hände und ein Augenblick der Desorientierung.
Schließlich wandte er sich nach links, blieb vor der Tür am Ende des Flurs stehen. Lies den Kopf hängen und lauschte. Ein feines Kribbeln breitete sich von der Brust her in seinem Körper aus. Er hob die zitternde Hand und als seine Fingerkuppen die Tür berührten, war ihm, als durchzucke ihn ein Stromschlag. Endlich drückte er die Klinke runter und schob die Tür auf.
Das Zimmer lag beinah im Dunkeln. Das einzige Licht spendete eine Straßenlaterne, die schräg herein schien. Aber Michael wusste ohnehin, wie es hier aussah. In der ersten Zeit hatte er oft so auf der Schwelle gestanden und geschaut. Erst in den letzten Monaten war es ihm unerträglich geworden.
Eine fast greifbare Kälte füllte das Zimmer, drückte ihm gegen die Brust. Eine scharfe, bösartige Kälte, wie – Michael wollte den Gedanken unterdrücken, er kam aber doch herauf – wie in einer Leichenkammer.
Und doch wirkte das Zimmer nicht unbewohnt: Das Bett war nicht gemacht, die Decke zurückgeschlagen, als sei gerade jemand aufgestanden. Auf dem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster lagen Blätter und zwei Hefter. Der rote – war das nicht Phillips Deutsch-Hefter gewesen? Darüber, hinter dem Fenster, schwankten die Äste und Zweige des Wallnussbaumes.
Michaels Blick glitt über das Regal mit den Comics, blieb an dem Garfield-Kalender hängen. Und trotz der Dunkelheit konnte er das fettgedruckte Datum erkennen: 31. Oktober – vor einem Jahr.
Er löste sich davon, schaute wieder hinüber zum ungemachten Bett, das so aussah wie eben benutzt, gerade eben benutzt, vor einer Minute und – hatte er das Bett denn nicht gemacht, damals? Hatten sie damals hier nicht Ordnung gemacht? Er hielt den Atem an, während er verzweifelt nach der Antwort suchte. Er fand sie nicht. Und es war so unglaublich kalt.
Michael blinzelte. War da nicht eben …? Ganz leise nur … Er lauschte.
Nichts.
Aber trotzdem …
„Phillip?“ Sein Flüstern übertönte nicht einmal das Regenrauschen vor dem Fenster. Aber er konnte einfach nicht lauter sprechen in dieser entsetzlichen Kälte und mit diesem Druck auf der Brust.
Plötzlich kam ihm das Zimmer viel größer vor, als noch vor ein paar Augenblicken. Unübersichtlich und voll dunkler Schatten …
„Phillip? Bis du da?“
Wieder lauschte er. Wartete auf eine Antwort, von der wusste dass sie kommen musste, von der er wusste, dass sie nicht kommen konnte.
Langsam kehrte der Schwindel zurück. Vor seinen Augen begannen helle Flecken zu tanzen.
Rasch zog er die Tür zu, kehrte ihr den Rücken.
Michael spürte die Kälte aus Phillips Zimmer im Nacken, als er die Treppe ins Wohnzimmer wieder hinunter ging. Er beschleunigte seine Schritte, versuchte gleichzeitig krampfhaft, die Ruhe zu bewahren – und blieb auf der letzten Stufe abrupt stehen.
Er konnte sich nicht erinnern, unten das Licht ausgeschaltet zu haben.
Hastig tastete er nach dem Schalter an der Wand, fand ihn nach einer gefühlten Ewigkeit. Klack.
Nichts. Im Wohnzimmer bleib es weiterhin dunkel. Und kalt.
Für einige quälende Augenblicke wusste Michael nicht mehr weiter. Er stand still, die Hand auf dem Lichtschalter und hörte nur das Geräusch seines eigenen Atmens. Da fiel es ihm auf: Es hatte aufgehört zu regen.
Endlich gelang es ihm, sich aus seiner Starre zu lösen. Er ging zu seinem Sessel hinüber und drückte den Schalter der Stehlampe daneben. Aber – es blieb weiterhin finster.
„Oh Gott“, hörte er sich selbst flüstern. Nur ein Stromausfall, sagte eine vernünftige Stimme in seinem Kopf. Aber Michael hatte Schwierigkeiten, ihr zu glauben.
Sein Hirn arbeitete fieberhaft, er überlegte verzweifelt, was er tun könnte. Das Licht im Flur ausprobieren – aber im Flur war es dermaßen dunkel, dass Michael von hier aus keine Handbreit hinein sehen konnte, als lauere dort das schwarze Nichts – und nach oben konnte er einfach nicht mehr. Er wagte kaum noch sich zu bewegen. Er konnte seine Angst körperlich spüren, als Schlinge lag sie um sein Herz und zog sich von Sekunde zu Sekunde enger zusammen.
Erst kam das Zittern, dann fühlte es sich an, als spannten sich alle Muskeln seines Körpers auf einmal und wie von selbst an.
Und dann: dieses unerwartete Gefühl der Wärme, dann Hitze. Es breitete sich von seiner Brust her aus, weiter und immer stärker, als blühe dort eine Sonne auf. Hoch zum Hals und endlich war es, als stehe auch sein Kopf von innen her in Flammen.
Die Kraft verließ seine Beine und Michael sank vornüber auf die Knie. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gefühlt. Und irgendwie konnte er sogar noch Verwunderung empfinden, darüber, dass seine Augen sich noch immer nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten: Es war jetzt als habe die Welt sich aufgelöst und es gab nur noch ihn: Michael, kniend, in der Dunkelheit.
Und als sich dann doch Bilder aus dem Dunkeln schälten, da waren es solche, die er selbst vor einem Jahr dorthin verbannt hatte.
Michael, wie er am frühen Morgen des 31. Oktober in der Küche stand. Den Kopf gesenkt starrte er die zwei Tabletten in seiner Hand an, als hinge sein Leben davon ab. Aber es ging hier nicht um sein Leben.
Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, in seinem Mund herrschte brennende Trockenheit. Schon die letzten Male war es die Hölle gewesen, heute war es beinah unmöglich. Wenn er es heute wieder tat, gab es vermutlich kein zurück mehr.
Eine der Tabletten war rot und rund, die andere länglich, zur Hälfte gelb zur andern weiß. Phillip konnte jeden Moment zum Frühstück kommen.
Es war Michaels Aufgabe, darauf zu achten, dass der Junge die Tabletten nahm. Und in diesem Moment verfluchte er das Schicksal dafür. Warum wurde ihm erlaubt, das hier zu tun?
Wenn er noch länger darüber nachdachte – mit einer raschen Bewegung warf er die Tabletten in die Spüle. Es geht einfach nicht mehr.
Er drehte das Wasser auf, wieder zu. Die Tabletten waren im Abfluss verschwunden.
Nein.
Michael sackte zur Seite, drehte sich auf den Rücken. Stöhnte. Dieses Brennen.
Und dieses Pochen in seinem Kopf, als würde eine gewaltigen Faust gegen eine Holztür hämmern. Lasst ihn doch herein!, dachte Michael hysterisch, zusammenhanglos und musste fast grinsen. Es gelang ihm lediglich, das Gesicht zur Grimasse zu verziehen.
Dieses Pochen – wie – Schritte. Jetzt erkannte Michael es. Schritte von der Treppe her, leichte Schritte, wie …
Es gelang ihm irgendwie, den Kopf zur Seite zu drehen. Oh Gott, ich verbrenne!
Da war eine Bewegung in der Dunkelheit, am Fuß der Treppe jetzt. Fließend, irgendwie, als ob – Michael hob den Blick ein wenig weiter. Oh Nein.
Etwas Weißes stach aus der Dunkelheit. Eine weiße Scheibe oder – es kam näher, ganz langsam.
Und Michael wollte einen Arm heben, konnte aber gerade noch die Hand öffnen. Die Angst löschte jetzt alles andere aus, drängte sogar den Schmerz an den Rand. Er spürte heiße Tränen, die seine Wangen hinabrannen und er wollte betteln und bitten und um Gnade flehen.
Aber endlich, als das weiße Etwas genau über ihm schwebte, aus zwei schwarzen Augen auf ihn herunter sah, da wusste er, dass jetzt nicht die Zeit dafür war. Dass es für ihn jetzt nur noch eins zu sagen gab: „Es tut mir so leid.“