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Phantom
Hi, sagte ich. Hi, sagte sie. Wie geht’s dir, fragte sie.
Ganz gut, antwortete ich. Wie geht’s dir. Auch ganz gut.
Wie war dein Tag? – Weiß nicht, so wie immer. Deiner? – Auch, so wie immer.
Dann herrschte für einen Moment Stillschweigen.
Was machst du heute noch so? Weiß noch nicht. Du? Mal sehen.
Und dann, nach einer Weile:
Ich muss weiter, war nett dich zu sehen. Bis dann.
Warte noch kurz, ich... – Ja? Egal, bis dann.
Dann ging sie. Und er saß wieder alleine dort.
Eigentlich wollte er ihr so viel sagen, so unendlich viel mehr – lange zuvor hat er sich schon die Sätze zurechtgelegt, sie im Kopf formuliert, wieder verworfen, um sie wieder neu zu formulieren, mit passenderen Worten. Er hätte sie nur noch aufsagen müssen.
Eigentlich hatte er sich das auch fest vorgenommen, nicht zum ersten Mal. Und er hat es wieder nicht getan. Vielleicht beim nächsten Mal, vielleicht auch nicht, wahrscheinlich nicht. Er konnte es nicht. Vielleicht würde er es nie tun.
Als er sie eben sah, spürte er sein Herz schneller schlagen, befürchtend, sie würde an ihm vorbeigehen, und als sie vor ihm anhielt, fühlte er sich wohl und geborgen, nein, weit mehr als das, triumphierend darüber, dass er sich ihr gegenüber von einem Fremden unterschied, vergaß alles um sich herum, und wollte, dass dieser Moment, dieser Augenblick, wo sie vor ihm stand und er im Mittelpunkt ihres Interesses zu stehen schien, nicht zu Ende ging, wollte die Zeit verlangsamen, anhalten, wünschte, sehnte sich, bettelte innerlich darum, vergebens. Der Moment zog vorbei. Und er saß wieder alleine dort.
Und wieder konnte er nicht mit ihr reden. Er wusste, dass er sie vergessen muss, um dieser Qual zu entkommen, die ihn zugleich fortwährend hoffen lässt, ihm aber jederzeit aufzeigt, dass er das erhoffte Glück womöglich nie erreichen wird. Nur „womöglich“, denn er traute sich nicht, das „nie“ alleine stehen zu lassen: Stünde er vor der Wahl, sie aus seiner Erinnerung zu löschen und damit diesem Elend endgültig zu entgehen, so könnte er es doch nicht tun. Er würde Berge versetzen, um jeden Hauch einer Chance nutzen zu können, Französisch lernen, selbst in dem Wissen, dass es ihm nicht helfen wird. Er wusste, dass er sie nicht vergessen kann. Und all dies konnte er ihr nicht sagen.
Dann kam Montag, dann Freitag, dann ein Tag Wochenende. Dann kam April, dann Mai, dann August. So verging die Zeit, immer schneller – nicht, dass er mehr zu tun hätte, seine Wochen unterschieden sich nur nicht mehr – und dann verloren sie sich aus den Augen und er vergaß sie.
Sie wurde ersetzt durch eine tiefe Leere, oder vielmehr durch ein namen- und gesichtsloses Bild von ihr, das er in jedem Menschen suchte, aber nicht fand. Ab und zu suchte er größere Menschenmengen auf, war im Kino, war Feiern, in Diskotheken, doch er fragte sich, was er dort wollte, denn sein Fehlen hätte niemand bemerkt. Und so groß die Menschenmengen auch waren, er fand sie nicht:
Er hatte sich verliebt in jemanden, der nicht existierte.