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Phantom

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20.10.2013
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Phantom

Hi, sagte ich. Hi, sagte sie. Wie geht’s dir, fragte sie.
Ganz gut, antwortete ich. Wie geht’s dir. Auch ganz gut.
Wie war dein Tag? – Weiß nicht, so wie immer. Deiner? – Auch, so wie immer.

Dann herrschte für einen Moment Stillschweigen.

Was machst du heute noch so? Weiß noch nicht. Du? Mal sehen.

Und dann, nach einer Weile:

Ich muss weiter, war nett dich zu sehen. Bis dann.
Warte noch kurz, ich... – Ja? Egal, bis dann.

Dann ging sie. Und er saß wieder alleine dort.

Eigentlich wollte er ihr so viel sagen, so unendlich viel mehr – lange zuvor hat er sich schon die Sätze zurechtgelegt, sie im Kopf formuliert, wieder verworfen, um sie wieder neu zu formulieren, mit passenderen Worten. Er hätte sie nur noch aufsagen müssen.
Eigentlich hatte er sich das auch fest vorgenommen, nicht zum ersten Mal. Und er hat es wieder nicht getan. Vielleicht beim nächsten Mal, vielleicht auch nicht, wahrscheinlich nicht. Er konnte es nicht. Vielleicht würde er es nie tun.

Als er sie eben sah, spürte er sein Herz schneller schlagen, befürchtend, sie würde an ihm vorbeigehen, und als sie vor ihm anhielt, fühlte er sich wohl und geborgen, nein, weit mehr als das, triumphierend darüber, dass er sich ihr gegenüber von einem Fremden unterschied, vergaß alles um sich herum, und wollte, dass dieser Moment, dieser Augenblick, wo sie vor ihm stand und er im Mittelpunkt ihres Interesses zu stehen schien, nicht zu Ende ging, wollte die Zeit verlangsamen, anhalten, wünschte, sehnte sich, bettelte innerlich darum, vergebens. Der Moment zog vorbei. Und er saß wieder alleine dort.

Und wieder konnte er nicht mit ihr reden. Er wusste, dass er sie vergessen muss, um dieser Qual zu entkommen, die ihn zugleich fortwährend hoffen lässt, ihm aber jederzeit aufzeigt, dass er das erhoffte Glück womöglich nie erreichen wird. Nur „womöglich“, denn er traute sich nicht, das „nie“ alleine stehen zu lassen: Stünde er vor der Wahl, sie aus seiner Erinnerung zu löschen und damit diesem Elend endgültig zu entgehen, so könnte er es doch nicht tun. Er würde Berge versetzen, um jeden Hauch einer Chance nutzen zu können, Französisch lernen, selbst in dem Wissen, dass es ihm nicht helfen wird. Er wusste, dass er sie nicht vergessen kann. Und all dies konnte er ihr nicht sagen.

Dann kam Montag, dann Freitag, dann ein Tag Wochenende. Dann kam April, dann Mai, dann August. So verging die Zeit, immer schneller – nicht, dass er mehr zu tun hätte, seine Wochen unterschieden sich nur nicht mehr – und dann verloren sie sich aus den Augen und er vergaß sie.
Sie wurde ersetzt durch eine tiefe Leere, oder vielmehr durch ein namen- und gesichtsloses Bild von ihr, das er in jedem Menschen suchte, aber nicht fand. Ab und zu suchte er größere Menschenmengen auf, war im Kino, war Feiern, in Diskotheken, doch er fragte sich, was er dort wollte, denn sein Fehlen hätte niemand bemerkt. Und so groß die Menschenmengen auch waren, er fand sie nicht:

Er hatte sich verliebt in jemanden, der nicht existierte.

 
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Servus Gehinnn,

die Dialogszene schreibst du in einer einigermaßen ungewöhnlichen Form, ohne Anführungszeichen, ohne Zeilenwechsel. Aber als Stilmittel fand ich das gar nicht mal unattraktiv, muss ich sagen, irgendwie entspricht diese karge Form der Darstellung dem ja eher inhaltslosen Geplauder der beiden Figuren. Und zieht einen auch förmlich in die Geschichte rein.

Dann ging sie. Und er saß wieder alleine dort.

Dass allerdings der anfängliche Ich-Erzähler plötzlich zum Er mutiert, irritierte mich dann doch ein wenig. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass dir da ein Versehen passiert ist, aber sollte es ein bewusster Kunstgriff sein, erschließt sich mir dessen Sinn überhaupt nicht. Um mit verschiedenen Erzählperspektiven zu experimentieren, ist die Geschichte eindeutig zu kurz.

Na ja, eigentlich egal, weil die vier folgenden Absätze dann leider ohnehin nicht das halten, was der beinahe atemlos erzählte Anfang mir zu versprechen schien.
Irgendwie beginnst du, dich nach dem Dialog stilistisch zu verzetteln.

spürte er sein Herz schneller schlagen, befürchtend, sie würde ...

Braucht es hier wirlich dieses unschöne Partizip?
Und im weitern Verlauf drehen sich die Sätze eigentlich nur mehr um sich selbst. Irgendein Er ist hoffnungslos verliebt, seine Angebetete erhört ihn nicht, bzw. ignoriert ihn, bzw. nimmt ihn nicht wahr, er schmachtet, er leidet, er versucht sie zu vergessen, blablabla. Also wirklich nahe gehen konnte mir das nicht. Ich dachte mir gerademal, warum zum Teufel versucht dieses Traummännlein nicht seinen Arsch in die Höhe zu bekommen, das Leben ist kurz genug, und die Liebe fällt einem doch nicht einfach in den Schoß.

Und wieder konnte er nicht mit ihr reden. Er wusste, dass er sie vergessen muss, um dieser Qual zu entkommen, ...

Ich als Leser weiß leider überhaupt nichts, einfach deshalb, weil ich aus dem Text im Grunde nichts erfahre.
Nichts von dem Typen, nichts davon, warum er seinen Mund partout nicht aufkriegt und schon gar nichts von seiner Angebeteten. Mir mangelt es hier schlicht an begreifbaren, lebendigen Figuren.
Und ohne Figuren, die mein Interesse wecken, ist das auch keine Geschichte für mich, eher so eine Art Stimmungsbild. Ja, ein Phantom irgendwie, lässt mich ein bisschen ratlos zurück

Nun ja, Gehinnn, lass dich von meinem nicht gerade enthusiastischen Empfang bitte nicht entmutigen. Dein Umgang mit der Sprache scheint mir schon mal sehr sicher zu sein, jetzt solltest du halt noch versuchen, den Figuren etwas mehr Leben und der Geschichte mehr Nachvollziehbarkeit einzuhauchen.

offshore

 

Hallo offshore,

vielen Dank für dein Feedback!
Ich versuche mal darauf einzugehen und zu reflektieren, was ich mir dabei so gedacht habe.

die Dialogszene schreibst du in einer einigermaßen ungewöhnlichen Form, ohne Anführungszeichen [...]
Das hat mehrere Gründe: Der Trivialste ist, dass Anführungszeichen den Text sehr unübersichtlich machen würden, zumindest wenn er so kompakt steht. Ich hielt es aber für wichtig, ihn soweit zu komprimieren und zu reduzieren, wie es ging - denn, und darum habe ich diesen Text auch unter "Gesellschaft" veröffentlicht, viel mehr persönliche Worte wechseln Leute, z.B. in der Bahn oder im Bus auch nicht. Und solche Fragen wie "Wie gehts" sind auch selten ernst gemeint, deswegen habe ich auf das Fragezeichen verzichtet. Und selbst mit Freunden sprechen viele nur noch auf eine sehr karge oder sehr sachliche Art und Weise, zumindest habe ich das so an meiner Schule aber auch an anderen Orten beobachten können. So wie ich das sehe, werden Gefühle in meiner Generation nicht mehr verbal ausgetauscht. Vielleicht über Facebook, aber das weiß ich nicht.

Dass allerdings der anfängliche Ich-Erzähler plötzlich zum Er mutiert, irritierte mich dann doch ein wenig.
Du hast recht, der Sprung ist eigentlich schon komisch, aber dass er so komisch wirkt, ist mir nicht aufgefallen.
Ich wollte halt über etwas reden, und nicht aus der Sicht von jemanden. Diese Entscheidung war aber mehr unbewusst, vielleicht wollte ich auch vermeiden, dass es zu sehr zu einem Monolog ausartet ;)
Auch soll der zweite Teil erläutern, was im ersten Teil alles im Stillen abgelaufen ist, ohne es im ersten Teil bereits zu nennen. Bietet sich für so etwas nicht sogar ein Erzählerwechsel an? Um noch einmal zu zeigen, dass die Geschichte jetzt aus einer anderen Sicht dargestellt wird?

Braucht es hier wirlich dieses unschöne Partizip?
Ich habe hier schon öfters in Kritiken gelesen, dass Partizipien nicht so gern gesehen werden. Warum eigentlich? (Ich hatte Latein, seitdem gefallen mir Partizip- oder Infinitiv-Konstruktionen richtig gut)
Wäre "in der Befürchtung" besser? Oder sollte so etwas lieber aktiv formuliert werden?

Und im weitern Verlauf drehen sich die Sätze eigentlich nur mehr um sich selbst.
Ich habe versucht, den beschriebenen Moment, der satztechnisch über sieben Zeilen geht, möglichst endlos und die Rückkehr zum Realität möglichst abrupt wirken zu lassen. Allgemein habe ich wahrscheinlich zu viel mit den Sätzen herumgespielt...

Ich dachte mir gerademal, warum zum Teufel versucht dieses Traummännlein nicht seinen Arsch in die Höhe zu bekommen, das Leben ist kurz genug, und die Liebe fällt einem doch nicht einfach in den Schoß.
Das ist meine Kritik an der Gesellschaft: Menschen sind unkommunikativ. Wer grüßt denn schon zurück, wenn er gegrüßt wird? Und wer bitteschön versucht von sich aus, soziale Bindungen aufzubauen, wenn er es nicht muss?
Wie viele neue Leute lernt man beim Bus- oder Bahnfahren heutzutage denn kennen, die man vorher noch nicht kannte?
Wenn man allein durch die Innenstadt läuft, wie oft passiert es schon, dass man angesprochen wird, und zwar nicht von Leuten, die dabei ein kommerzielles Interesse verfolgen?
Mit dieser Liebesgeschichte wollte ich das ganze etwas überspitzen.

Nun ja, Gehinnn, lass dich von meinem nicht gerade enthusiastischen Empfang bitte nicht entmutigen. Dein Umgang mit der Sprache scheint mir schon mal sehr sicher zu sein, jetzt solltest du halt noch versuchen, den Figuren etwas mehr Leben und der Geschichte mehr Nachvollziehbarkeit einzuhauchen.
Wie bereits gesagt: Danke für deine Rückmeldung! Und als Naturwissenschaftler finde ich negative Kritiken sogar fast besser, da man mit ihnen arbeiten kann.

Vielleicht komme ich mal dazu, eine etwas umfangreichere Geschichte mit einer Handlung auszuarbeiten. Wie dir aufgefallen ist, habe ich mich hier eher weniger auf die Handlung konzentriert, ich wollte mehr meine Gedanken in einen Text verpacken.

 
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Interessant, Gehinnn,

was du über deine Kritik der Gesellschaft schreibst. "Kommunikationsarmut"?
Ich weiss nicht.

Mir kam ein anderes Bild für deinen Plot: Nimm an, du bist arm. Du bekommst einen Briefumschlag mit einem Geldschein drin, dessen Wert du nicht kennst. Mach den Brief nicht auf, sondern lege ihn in den Tresor. Schliesse den Tresor zweimal ab, nimm den Schlüssel mit und verliere ihn nach einiger Zeit. Und vergiss nicht, immer an den Geldschein zu denken! Er hätte dein Leben ändern können. Jetzt bist du richtig arm dran.

Das ist das Rezept für deine Phantomliebe. Solche Storys wirken auf den ersten Blick nicht plausibel, wenn man sie auf den Punkt bringt. Und trotzdem kennen wir genug Fälle, in denen läuft's genau so. Manche haben sogar unangenehm mit uns selbst zu tun... warum kriegen wir in den Momenten, von denen wir uns einbilden, es seien die entscheidenden, den Mund nicht auf? Warum ist uns zum Schluss das Phantom lieber als die echte Liebe?

"Kommunikationsarmut". Welche Rolle spielt eine unsichere Selbsteinschätzung (in dem Wissen, dass man sich selbst nicht liebt) oder eine gewisse Überheblichkeit, die Divergenz zwischen Selbst- und Fremdbild, die Angst vor dem Verlieben, die Angst vor dem Verletztwerden, die Furcht, das Gegenüber zu entmystifizieren, die Flucht in Wachträume, um nur einige zu nennen? Warum schafft sich der Prot eine Projektion, entkörpert sie, bläst sie auf und lässt sie fliegen wie einen Luftballon, der am Horizont verschwindet... und sucht sie dann überall? Das Thema ist gut, der Schluss stringent. Den Typen zum Leben zu bringen und den Plot besser verständlich zu machen, wäre eine Überarbeitung wert.

Viele Grüsse, Alec

 

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