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Phantasienummern

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23.04.2003
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Phantasienummern

Vincent Blake saß auf dem lederbezogenen Stuhl vor dem großen Schreibtisch mit der Glasplatte und dem verchromten Metallgestänge im Arbeitszimmer seines Hauses. Auf dem Schreibtisch lagen zwei Fotografien, die seine Frau und einen ihm unbekannten Mann zeigten. Die Uhrzeit, gerade 19:58, wurde von einem kleinen Projektor in einer Digitaluhr in blauen Ziffern an die Wand links von ihm gestrahlt. Er hatte das Licht ausgeschaltet, damit seine Frau nicht gleich sehen konnte, was los war. Lediglich ein paar Lichtstrahlen der Straßenlaternen schienen durch die Spalten des Rollladens hinter ihm. In seinen Händen hielt er eine Tube Kunstblut, die er am Vormittag in dem Scherzartikelladen um die Ecke gekauft hatte. Er starrte mit gläsrigen Augen auf die Ziffern an der Wand. In einer Viertelstunde würde seine Frau aus dem Geschäft wiederkommen, in dem sie arbeitete. Genug Zeit also, um die Phantasienummer, die er schon seit heute morgen als er die Fotos bekommen hatte, in seinem Kopf abzog, noch einmal vor seinem geistigen Auge abzuspielen.

„Schatz, ich bin wieder Zuhause“, ruft sie, wie jeden Abend. Er hört das Geklapper von Kleiderbügeln, dann ihre Schritte auf der Treppe hinauf in das erste Stockwerk, in dem auch sein Arbeitszimmer liegt. Sie macht die Tür auf. Dunkelheit. Schemenhaft erkennt sie die Umrisse ihres Mannes. Sein Kopf ruht auf den verschränkten Armen auf dem Schreibtisch. Mit erstauntem Blick läuft sie hinüber zu ihm und knipst die Halogen-Arbeitslampe an. Ein Ausdruck des Entsetzens breitet sich auf ihrem Gesicht aus, als sie die Blutlache entdeckt, die seine Arme umgibt. Dann entdeckt sie die Fotos, die sie und ihren Liebhaber zeigen, direkt vor seinen Händen. Tränen kullern ihr Gesicht hinunter. Schluchzend beugt sie sich über ihren Mann, umfasst seinen Kopf.
„Was habe ich bloß getan? Ich habe meinen Ehemann, den Mann, den ich liebe, betrogen. Wie kann ich diesen Fehler nur wieder gutmachen?“, ertönen ihre wimmernden Worte in seinem Ohr. Daraufhin hebt er den Kopf, schaut sie an, zeigt ihr die Tube Kunstblut, die auf seinem Schoß gelegen hatte und spricht mit ruhiger Stimme:
„Ich wollte dich nur zum Nachdenken anregen. Es ist nichts passiert.“
Sie verzieht ihre Mundwinkel. Offensichtlich versucht sie zu lächeln. Mit geröteten Augen fragt sie:
„Kannst du mir verzeihen?“

Genau so wird es laufen und nicht anders, dachte er und beendete die Phantasienummer. Vincent liebte Melodramatik. Er war davon überzeugt, dass dieses Szenario ihr einen gehörigen Schrecken einjagen würde und sie daraufhin zur Besinnung käme und ihren Liebhaber vergessen würde. Doch schon einen Augenblick später bekam seine Selbstsicherheit die ersten Risse. Was ist, wenn sie etwas anderes sagen wird? Was ist, wenn sie mich in dem Blut sieht und sagt:
„Ich habe mal einen Mann geliebt, der sein Glück nicht von anderen Menschen abhängig gemacht hat. Er konnte zufrieden sein mit dem, was er hatte und mit dem, was er war. Das war seine Kraftquelle und sein Weg zum Glück. Und das war auch das, was mich an ihm faszinierte. Dieses Selbstbewusstsein, diese Stärke, diese Kraft. Doch nun schau dich an, mein lieber Vincent. Was ist nur aus dir geworden? Ein kümmerliches Häufchen Elend, was sich umgebracht hat, weil seine Frau ihn betrogen hat.“
So wie ich ihre Liebe zu mir teste, will sie vielleicht mein Selbstbewusstsein, meine Lebenseinstellung auf die Probe stellen?! Nein, das kann nicht sein, dachte Vincent und schob die Zweifel beiseite. Jeder Mann würde unglücklich werden, wenn er herausfinden würde, dass seine Frau ihn betrügt.

Die blauen Ziffern an der Wand zeigten mittlerweile 20:13 an. Vincent schraubte den Verschluss von der Tube Kunstblut ab und verteilte den Inhalt auf seinem Schreibtisch. Dann verschränkte er die Arme vor sich auf der Glasplatte und legte seinen Kopf darauf. Ein bisschen aufgeregt war er schon, aber auch nur ein bisschen. Die Ärmel seines weißen Hemdes sogen langsam das Kunstblut auf. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis er die Haustür hören würde.
In einer nett anzusehenden Animation wechselte die Anzeige an der Wand auf 20:14. Er spürte seinen Herzschlag, denn seine Aufregung wurde sichtlich größer. Was mache ich, wenn sie doch nicht so antwortet, wie ich mir das vorgestellt habe? Was ist, wenn sich meine Zweifel bestätigen und sie daraufhin noch einen Arzt ruft und solange hier bleibt, bis dieser eintrifft? „Madame, ihr Mann ist wohl Schauspieler?“, würde dieser dann sagen. Peinlich wäre das, verdammt peinlich. An der Wand stand nun schon 20:15. In einem quälenden Kampf zwischen Selbstsicherheit und Zweifel ging Vincent noch einige Situationen im Kopf durch, doch die Realität erfasste er nie.

Seine Frau kam an diesem und allen darauffolgenden Abenden nicht mehr nach Hause.

 

Hi Thec!
Eine runde Geschichte hat mir gefallen. Allerdings ist es nicht unbedingt eine, an die ich mich lange erinnern werde. Sie ist gut, aber nichts Spezielles.

Du beschreibst sehr viel und zum Teil auch gelungen. Aber an manchen Stellen hätte ich mir ein bisschen weniger Beschreibung, dafür aber mehr Gedanken vom Protagonisten gewünscht. Zum Beispiel die Zeitangaben könntest du weglassen, stattdessen die Zeitspanne anders versuchen darzustellen.

Den Schluss finde ich gut.

Liebe Grüsse,
Marana

 

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