Phantasieflocken
Leise fielen die dicken Schneeflocken vom Himmel und bedeckten die sanft geschwungen Hügel und die grossen Bäume vor dem Fenster. Im Innern des kleinen, gemütlichen Hauses mit dem schönen Garten, der im Frühling in allen Farben des Regenbogens zu leuchten schien, sass die ganze Familie vor dem flackernden Kaminfeuer und lauschte den Geschichten der Grossmutter. Dies war die schönste Zeit im Jahr für Lena und ihren kleinen Bruder Peter. Sie liebte den Winter, der mit seiner dicken Schneedecke die ganze Welt in einen glitzernden, weissen Mantel zu hüllen schien. Auch die Stille und Ruhe der langen Winterabende mochte sie sehr gern. Das Beste aber waren die Geschichten. Ihre Grossmutter schien einen nie enden wollenden Vorrat an solchen zu haben. Heuteabend erzählte sie die des kleinen Pinguins der nicht schwimmen konnte.
Lena zog die Beine an und rollte sich behaglich in ihrem grossen Ohrensessel zusammen. Sie kannte diese Geschichte bereits, aber da sie für Peter neu war, hatte sie nicht auf eine neue bestanden. Mit einem Ohr lauschte sie den Worten ihrer Grossmutter und träumte dabei ein wenig vor sich her. „Lustig, wie Paul immer mit den Hauptdarstellern mitleidet. Ist kaum zu Glauben wie viele Geschichten Grossmutter kennt. Ob sie die alle selber von ihrer Grossmutter gelernt hat?“ Solche und ähnliche Gedanken zogen an Lena vorbei.
„Das war aber eine schöne Geschichte“ hörte sie gerade Paul rufen. Lena hatte gar nicht bemerkt, das ihre Grossmutter geendet hatte. „So Kinder, jetzt ist aber Zeit ins Bett zu gehen. Morgen ist ein neuer Tag der ein Recht auf ausgeschlafene Besucher hat“. Diesen Satz hörten sie jeden Abend. Ihre Grossmutter war der Meinung, dass die Zeit die wir auf Erden haben wie ein langer Besuch in Gottes Garten war. Man musste sich also benehmen wie es sich für einen guten Gast gehörte. Am Ende jeden Lebens ging man nach Hause in den Himmel zu den Engeln und wenn man sich auf Erden nicht benommen hatte, musste man sich eine gehörige Standpauke gefallen lassen.
„Oma, wie werden Geschichten gemacht?“ Die Grossmutter war erstaunt über diese Frage von Lena. „Das ist eine eigene kleine Geschichte, die ich dir und Peter Morgen erzählen werde“ und mit diesen Worten scheuchte sie die Kinder auf Ihre Zimmer zum Schlafen.
Am nächsten Abend, es hatte aufgehört zu schneien und die Welt glitzerte im Mondlicht wie mit tausend Diamanten bedeckt, machten es sich Lena, Peter und die Grossmutter wie immer vor dem Kamin gemütlich. „Also, ich habe euch Gestern versprochen zu erzählen wie die Geschichten in die Welt kamen“. Lena und Peter hörten gespannt zu.
„Vor langer, langer Zeit kannten die Menschen keine Geschichten. Ihr ganzes Dasein wurde durch Arbeit bestimmt. Das war ein trauriges Leben, ohne Phantasie und Lachen. Die Engel im Himmel mochten schon gar nicht mehr zu Besuch auf die Erde fliegen. Die Menschen waren so langweilig. Immer nur arbeiteten sie, assen oder schliefen. Es musste doch noch etwas Anderes geben, als dies. Lange überlegten sie, aber ohne Erfolg. Ihnen fehlten einfach die Ideen. Angela, ein kleiner Engel der noch nicht einmal seine Flügel hatte, sprach plötzlich mit leiser Stimme: „Wie wäre es, wenn wir den Menschen Phantasie schenken würden? So könnten sie sich Geschichten ausdenken und gegenseitig erzählen“. Die anderen Engel waren begeistert und bereits am nächsten Tag streuten sie einen ganzen Sack voll Phantasie auf die Erde und freuten sich über den Anblick der grossen, weissen, weichen und glitzernden Phantasieflocken die nun das Land bedeckten. Die Menschen auf der Erde wussten zu Anfang nicht was sie damit anfangen sollten. Sie erschraken recht fest, als plötzlich so komisches weisses Zeug vom Himmel viel. Als dem Ersten eine kleine Flocke Phantasie auf die Nase flog, schaute dieser verdutzt und rief dann mit einem Lächeln aus: „Dies muss Schnee sein!“
Die Engel freuten sich, denn es hatte geklappt. Der erste Mensch hatte mit Phantasie (wen auch auf der Nase) einen Namen für das unbekannte Phänomen erfunden. Von da an, sassen die Menschen jeden Abend nach der Arbeit zusammen und erfanden und dichteten Geschichten. Das sie damit auch die Engel im Himmel erfreuten wussten sie nicht, aber es hätte sie sicher gefreut.“
Lena schaute ihre Grossmutter lächelnd an. Es war doch einfach schön, eine Grossmutter zu haben, die in einem Haus lebte das ganz und gar von Phantasieflocken bedeckt war.
„So, das war’s für Heute, Morgen ist ein neuer Tag der ein Recht auf ausgeschlafene Besucher hat“ sprach die Grossmutter und schickte die Kinder zu Bett.