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Phänotyp
Die Häsin hat ihre schönen Ohren eng an den Körper gelegt. Die glänzenden Augen rollen nervös, doch die Blume ist eifrig in die Höhe gereckt. Karl muss Hector hinaufhelfen. Das verdrehte Bein hindert den Aufstieg, doch sobald die Häsin erklommen ist, verrichtet der Rammler seine Pflicht, bis er schließlich in der Bewegung erstarrt und wie tot ins Stroh hinabgleitet. Das rosa-blau melierte Narbengewebe in seiner Augenhöhle pulst rhythmisch und das zerfetzte Ohr kommt auf dem schimmernden Fell der schwarzen Häsin zu liegen, die sich nun zu putzen beginnt.
„Gut gemacht, alter Junge. Das war die Letzte“, sagt Karl und hebt den schwer atmenden Hector mit beiden Händen aus dem Käfig. Zwischen seinen Fingern spürt er die knotigen Verwachsungen auf Rücken und Flanke, die Tackernaht, an der das Fell ausgegangen ist, und muss sich zusammenreißen, den großen Rammler nicht fallen zu lassen. Hector fühlt sich an, als wiege er das Doppelte seiner sechs Kilos. Er hilft nicht mit beim Tragen, hat keinerlei Körpertonus.
Als Karl ihn in den Keller hinüberträgt, flüstert er beruhigend: „Gleich ist gut, mein Freund“, und denkt zurück an die schreckliche Gewitternacht vor sechs Wochen.
***
Karl lag neben Helga im Bett, als er plötzlich meinte, zwischen den Donnerschlägen hysterische Schreie zu hören. Er hielt die Luft an, um besser lauschen zu können und warf dann die Bettdecke zurück. Ohne auf Helgas Fragen zu reagieren, stieß er die Füße in die Schlappen und rannte im Nachthemd durch den strömenden Regen zum Kaninchenschuppen.
Dort erleuchtete ihm ein Blitz die Szene.
Der Hund ließ das reglose Bündel sofort fallen, als er Karl erblickte. Im nächsten Augenblick war alles schon wieder in Finsternis gehüllt und Karl spürte das feuchte Haar des flüchtenden Tiers an seinem nackten Bein vorbeistreifen. Er konnte sein Fell riechen.
Karl schaltete das Licht ein, ohne darüber nachzudenken, ob er sich des Anblicks, der ihn nun erwartete, überhaupt gewachsen fühlte.
Als er in sich zusammensackte, war ihm, als sei die Luft soeben flüssig geworden. Mit schmerzender Kehle schob er sich auf den Knien zu seinem Zuchtrammler hinüber, der flach atmend auf der Seite lag. Hectors mit 14,5 Punkten preisgekröntes Fell lag in großen Büscheln am Boden – blau und weiß; die Härchen der Unterwolle so fein, dass einige noch immer im Luftzug der geöffneten Tür tanzten und nun in Karls Nasenlöchern kitzelten.
Die kleine Nase mit dem perfekten Schmetterling bewegte sich schnell. Mit jedem Atemzug blubberten rosige Bläschen aus den Nüstern. Das linke Ohr, das fehlerlose linke Ohr war völlig zerkaut. Die starken Adern, deren Ornament Karl so gerne im Gegenlicht betrachtet und befühlt hatte, pumpten mit jedem Herzschlag hellrotes Blut auf den Estrich. Das Nackenfell um den makellos gezeichneten Keil war von Blut und Speichel völlig durchnässt, die Haut zerrissen. Eine lange Scharte lief neben dem Aalstrich das Rückgrat entlang und zerstörte die vollendete Symmetrie der Scheckung. Das verbliebene Auge starrte Karl aus seinem Ring heraus unverwandt an. „Flehentlich, ja flehentlich“, entschied dieser.
Als Karl schließlich zitternd und haarig zurück ins Haus schlurfte, saß Helga blass auf der Kücheneckbank, auf dem Schoß eines ihrer gutverarbeiteten Fellkissen.
„Du hast ihn nicht geschlachtet?“, fragte sie ungläubig, nachdem er ihr von Hectors Wunden erzählt hatte, von dem zertrümmerten Lauf und dem ruinierten Fell.
Karl schüttelte den Kopf und wischte sich die Nässe aus dem Schnäuzer: „Innen ist er noch immer Extraklasse. Wer weiß, vielleicht schafft er es.“
In dieser Nacht schlief Karl nicht, konnte er doch nicht vergessen, wie der großrahmige Körper bei jedem Tackerklacken gezuckt hatte und wie ihn die Augenpaare aus den umliegenden Käfigen angestarrt hatten, als er das in Mull gewickelte Fleischbündel zuletzt in einen intakten Käfig gebettet hatte.
Tatsächlich zeigte sich Hectors Körper von einem unbändigen Lebensdrang behaust. Allein, das verbliebene Auge blieb stumpf und das intakte Ohr unbeweglich. Außerdem wollte es Karl scheinen, als fräße der Bock nur widerwillig, kein Vergleich zu der Begeisterung, mit der er früher die Löwenzahnblätter mit seinen starken Zähnen durch die Drahtmaschen gezogen hatte.
„Er will nicht mehr“, sagte Helga und weigerte sich fortan, das „gruselige Tier“ zu füttern.
Während Hectors Wunden heilten, machte Karl sich auf die Suche nach frischem Blut. Er kaufte selbst Häsinnen, über die er normalerweise gelacht hätte: keine Ausstellungstiere, die Körperform unter aller Sau. Es würde viel Ausschuss geben, doch die Masse, so hoffte er, würde es machen: dreißig Häsinnen. Als es schließlich so weit war, verweigerten sich viele dem entstellten Hector.
„Wertlose Tiere“, brummte Karl und war sehr unglücklich, dass er Fremdtiere hatte einkaufen müssen, nachdem er seine eigene Linie in jahrelanger Kleinarbeit aufgebaut, die Körperform optimiert und das Zeichnungsbild verbessert hatte. Die Belohnung für all diese Mühen war Hector gewesen, mit 99 Punkten Deutscher Meister auf der Bundesrammlerschau – jetzt nicht mehr als ein Kinderschreck, ein Frankensteinkaninchen.
Und es schien, als pumpte Hector sich die gerade erst zurückerlangte Lebenskraft mit jedem Deckakt wieder aus dem Körper. Es war zum Schluss kaum mehr als ein mit Kaninchenfleisch und -sperma gefüllter und unsauber verarbeiteter Fellbeutel, den Karl von Käfig zu Käfig schleppte. Einzig in den wenigen Sekunden, in denen Hector folgsam aber wenig enthusiastisch auf den Häsinnen hoppelte, wirkte er zumindest halblebendig.
***
Die Haut löst sich nur schwer vom Körper, selbst nachdem Karl die Läufe abgeschlagen hat. An vielen Stellen ist sie in Wülsten mit dem Fleisch verwachsen. Karl schneidet diese Stellen grosszügig heraus und wirft sie in die Tonne, in der schon die Eingeweide dunkel glänzen, doch dann schüttelt er den Kopf, streicht sich den Schweiß mit dem Handgelenk aus der Stirn und wirft den ganzen Körper hinterher. Helga würde sich sowieso weigern, das zu kochen. Selbst das Fell ist völlig nutzlos. Sie wird es nicht für die Näharbeiten der Frauengruppe verwenden können.
Das Einzige, was Karl in den folgenden Wochen tröstet, ist zu beobachten, wie sich die Bäuche der Häsinnen runden und wie diese schließlich beginnen, sich das weiche Bauchfell auszurupfen, um in den Käfigecken Nester zu bauen. Es ist Hectors Vermächtnis, das dort heranwächst.
Und dann, endlich, ist der Tag gekommen. In den Nestern der fünf Häsinnen, die zuerst über Hector gezogen wurden, wuselt es. Karl öffnet den Käfig, streichelt die langen Ohren der hübschen Schecke – sie ist aus seiner eigenen Linie – und zupft vorsichtig Stroh und Haar von den nackten Körperchen, um die Totgeburten und die Weißlinge auszusortieren. Alle Tiere leben und recken zittrig ihre Köpfchen. Die Augen sind noch geschlossen, doch irgendetwas stimmt nicht.
Karl nimmt eines der Jungen heraus. Und nun, da er den Nestling in den Händen hält, fühlt er, dass etwas mit dem hinteren Beinchen nicht in Ordnung ist. Und erst jetzt, im Licht der Neonlampe, sieht er auch die dunkelroten Wülste, die sich nicht nur am Rückgrat entlangziehen. Die Haut spannt sich straff über einem Auge, doch über dem anderen hängt sie schlaff, wie über einem Hohlraum. Erschrocken lässt er das Junge zu Boden fallen, wühlt hektisch nach den übrigen und hebt sie nacheinander ins Licht, stürmt zu den anderen Käfigen und kontrolliert die Nester.
Schwindelig und schweißgebadet lässt Karl sich auf einen Ballen Heu sinken. Lange betrachtet er die rosigen Würmer, die sich auf dem grauen Boden winden, dann nimmt er einen tiefen Atemzug, rappelt sich auf und verlässt den Schuppen, um den Eimer mit Wasser zu füllen.