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Pflichtbesuch
Den Einkaufskorb in der Hand, stieg er die marode Holztreppe hinauf, die unter seinem Gewicht ächzte. Wie immer hing dieser durchdringende Geruch nach Urin, nach Alter und Zerfall im Stiegenhaus. Seit langem kam er nun schon regelmäßig in dieses Haus, aber daran würde er sich nie gewöhnen.
Im dritten Stock kramte er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Wohnungstür rechts von der Treppe auf. Er trat ein, und ein anderer Geruch schlug ihm entgegen. Sie hatte offenbar nicht gelüftet seit seinem letzten Besuch. Der süßliche Duft von billigem Parfum, der sich im Korridor ausgebreitet hatte, sollte seine Nase sicher von dem Mief ablenken. Er lächelte über ihren kindischen Täuschungsversuch.
„Dorchen, wo steckst du“, rief er in die düstere Wohnung.
„Hier, Jungchen“, drang ihre brüchige, aber dennoch fröhlich klingende Stimme durch die Tür zum Salon. Er stieß die Tür auf. Der Parfumgeruch wurde intensiver. Die Alte saß in ihrem Ohrensessel. Sie trug heute ein dunkelgrünes Wollkleid, hatte Rouge aufgelegt und sich etliche Ketten aus Glasperlen um den Hals gewunden.
„Du hast wieder keine frische Luft eingelassen“, stellte er statt einer Begrüßung fest, obwohl er wusste, dass dieser Vorwurf sie nicht beeindrucken würde. Sie lächelte kokett.
„Du weißt doch, Jungchen, dass meine alten Knochen nicht mehr so wollen. Ich habe keine Kraft, die Riegel zu öffnen, zumal sie verzogen sind und klemmen. Wolltest du sie nicht längst repariert haben?“
„Übertreib nicht, Dorchen!“ Er gab sich Mühe, streng zu klingen. „So schwächlich bist du nicht. Wie ich sehe, hast du es ja auch geschafft, die schweren Rollläden zu schließen. Du versteckst dich wieder, stimmt´s?“
Ihr Lächeln verschwand.
„Das verstehst du nicht“, sagte sie mit Bitterkeit in der Stimme. „Nein, das kannst du nicht verstehen. Du hast es nie erlebt.“
„Aber, Dorchen, wie oft soll ich dir noch sagen, dass es sie nicht mehr gibt. Es sieht heutzutage ganz anders aus da draußen, glaub mir.“
„Ich weiß, du meinst es gut, Jungchen. Deshalb bin ich dir auch nicht böse wegen deiner Flunkerei. Aber lass gut sein! Mir brauchst du nicht vorzumachen. Ich weiß Bescheid.“
Er wollte widersprechen, doch sie winkte nur träge ab. „Vergessen wir es, ja! Du darfst auch die Fenster öffnen. Solange du hier bist, fürchte ich mich nicht.“
Es hat keinen Zweck, dachte er. Sie wird es nie begreifen, und ich kann sie nicht zwingen, die Wohnung zu verlassen, um selbst festzustellen, dass ich nicht lüge. Irgendwann wird sie in diesem Mief sterben, ohne je erfahren zu haben, dass ihre Angst unbegründet gewesen ist.
„Was ist, Jungchen? Willst du mir nicht zeigen, was in deinem Korb ist? Komm, lass uns in die Küche gehen!“
Schwerfällig erhob sie sich aus dem Sessel und schlurfte voran. Sie musste Licht einschalten, bevor sie die Küche betrat, denn auch hier waren die Fenster und die Läden geschlossen. Im Schein der schwachen Glühbirne sah er, dass sie diesen Raum ebenfalls nicht mehr aufräumte. Das Geschirr von Tagen stand auf der Spüle, und der beladene Tisch zeugte noch vom gestrigen Abendbrot.
Abwartend schaute sie ihn an. Er sagte nichts, räumte stattdessen den Tisch ab und stellte den Korb darauf. Eines nach dem anderen holte er die Lebensmittel heraus. Sie wollte, dass er es langsam machte, denn immer, wenn seine Hand wieder zum Vorschein kam, enthielt sie eine neue Überraschung, die ihren neugierigen Blicken nicht entging. Als der Korb leer war, machte sie sich daran, Büchsen und Gläser im Schrank zu verstauen, wobei sie aufmerksam alle Etiketten las. Er spülte unterdessen das Geschirr ab, und säuberte auch den Herd und den Fußboden. Dann öffnete er alle Fenster der Wohnung. Die frische Luft tat ihm gut.
Am Nachmittag kochte er Tee, und sie aßen etwas von dem in Folie verpackten Kuchen aus dem Sonderangebot dazu.
„Ich habe gern gebacken früher“, erzählte sie. „Alle haben meine Kuchen gemocht. Oft habe ich auch welche für die Nachbarn gebacken. Sie versicherten mir stets, wie gut ich das könne. Aber später dann wollte niemand mehr meine Kuchen zum Geschenk. Sie hatten Angst, du verstehst?“
Er nickte. Es war ihm unangenehm, ihren Erinnerungen zuzuhören. Er befürchtete, sie könne wieder anfangen zu weinen, und er säße hilflos dabei.
„Weißt du was“, sagte er. „Wenn ich das nächste Mal komme, bringe ich dir alle Zutaten mit. Und dann backst du uns einen deiner Kuchen.“
Sie strahlte. „Oh, fein! Das werde ich tun. Du wirst staunen, wie gut ich backen kann.“
Er genoss ihre Freude. Ein Glück, dass ihm diese Idee gekommen war.
„So, Dorchen! Nun muss ich mich aber wieder auf den Weg machen. Ich habe noch Hände voll zu tun heute.“
Jetzt, da ihre Gedanken bei dem Kuchen waren, fiel es ihm leichter, sich zu verabschieden.
„Ist gut, Jungchen! Es hat mich gefreut, dass du da warst. Und wenn du nächste Woche kommst, bringe auf alle Fälle auch Anis mit, ja? Das ist wichtig!“
Er versprach ihr, das Anis keinesfalls zu vergessen. Den leeren Korb schon in der Hand, küsste er sie noch schnell auf die welken Wangen und verließ die Wohnung. Leichtfüßig sprang er die ausgetretenen Stufen hinunter, und als er von der Straße noch einmal hinauf schaute zum dritten Stock, gingen dort schon die Rollläden herunter.