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Pflegeversicherung
Jetzt wartete ich schon eine halbe Stunde. Aber das machte mir nichts aus. Ich musste nicht zur Arbeit, zuhause wartete niemand und mein nächster Arzttermin war erst übermorgen. Also genoss ich mit geschlossenen Augen den Luxus dieses großen, bequemen, braunen Ledersessel. Er gab mir ein bisschen das Gefühl eines englischen Lords, der in seinem Herrenhaus sitzt, Zigarre raucht und von einer hübschen Bediensteten im kurzen, schwarzen Zimmermädchenkostüm rundum bedient wird.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich die kühle Athmospäre des Empfangsbereichs. Dieser Sessel passte so gar nicht hier her. Dafür entschädigte der Anblick der Sekretärin. Sie hatte lange, braune, glänzende Haare, die ihr als wilde Löwenmähne ins Gesicht hingen. Ihre, für den schlanken Körper zu üppige Oberweite hatte sie, vermutlich mit Aufwendung aller ihr zur Verfügung stehenden Kräfte, in ein hautenges, blaues Kleid gezwängt. Jede Wette, dass sie beim Treppensteigen Atemnot bekam. Den Unterteil Ihres Fahrgestells konnte ich nicht sehen. Dafür stellte ich mir vor, wie die vom Minirock nur knapp bedeckten Schenkel in lange, schlanke Beine übergingen, die in schwarzen, hochhackigen Stiefeln endeten. Nur eines störte. Sie hatte eine Piepsstimme, die meinen durch Tinnitus ohnehin schon gequälten Ohren weitere Schmerzen verursachten. Und sie telefonierte ununterbrochen. Das silberne Headset, dass an ihrem linken Ohr befestigt war, ließ mich unweigerlich an Lieutenant Uhura denken. Ich versuchte nicht hinzuhören.
Über ihr, an der braunen Holzwand, prangte in großen, silbernen Lettern der Name der Firma 'suffer care'. Mein erster Gedanke war damals, dass es sich um eine Hilfseinrichtung für Alkoholiker handelte. Aber der Leitspruch, der darunter stand, erklärte, dass es eine dieser neuen Versicherungen war: „Wir nehmen Ihnen Ihr Leid“
In Gedanken versunken bemerkte ich erst gar nicht, dass mich die Piepsstimmenlady ansprach: „...nen jetzt reingehen!“
„Ah ja. Danke.“ Ich erhob mich mühsam aus dem tiefen Sessel und ging zu dem Durchgang auf den sie deutete. Sie betätigte einen Knopf und mit einem tiefen Summen öffnete sich die große Holztür. Etwas nervös und mit feuchten Händen trat ich ein.
„Einen wunderschönen guten Tag, Herr Schneider. Willkommen bei 'suffer care'. Ich hoffe, dass sie nicht solange warten mussten.“
Genau das hatte ich erwartet. Vor mir stand ein typischer Versicherungsvertreter. Er war jung. Vielleicht gerade mal 25. Aber er hatte sicher schon jede Menge Erfahrung auf diesem Gebiet, sonst hätte er nicht diesen Job. Sein maßgeschneiderter Anzug aus Kohlefaser saß wie angegossen. Der musste mindestens zehn Monatsgehälter gekostet haben. Naja, meine Monatsgehälter.
Er deutete auf einen Sessel, der genauso aussah wie der im Empfangsbereich. Ich würde mich also weiter wie ein Lord fühlen können.
„Bitte nehmen Sie Platz! Ich gratuliere ihnen, dass sie sich für 'suffer care' entschieden haben. Sie werden es sicher nicht bereuen.“
Ich nahm Platz und versank auch hier im weichen Leder.
„Ja, Danke. Ich interessiere mich für diese neue Pflegeversicherung. Ihr Prospekt habe ich schon geschickt bekommen und im Netz habe ich mich auch schon infor...“
„Na das ist ja super.“, fiel er mir ins Wort, „Solche Kunden wie sie müssten wir öfters haben. Dann hätten wir viel weniger Arbeit.“
Er lachte gekünstelt. Oh, wie ich dieses Verkaufsgequatsche hasste.
„Sehen sie,“ fuhr er fort, „in unserer heutigen Zeit ist es gut, wenn man sich absichert. Unsere Gesellschaft wird immer älter. Der Arbeitsmarkt gibt nicht mehr viel her. Es kommen immer weniger Leute für die Versorgung der Alten und Kranken auf.“
Er redete ununterbrochen. Ich frage mich, ob er zwischendurch atmete.
„Wussten Sie, dass mittlerweile in den Pflegeheimen auf 100 Patienten nur ein Pfleger kommt. Da ist keine Zeit mehr für individuelle Betreuung. Da muss alles schnell gehen. Wie am Fließband. Und seit der letzten Reform im Gesundheitswesen wird auch an Medikamenten gespart. Schmerzmittel wurden um 25% gesenkt. Rheumamittel sogar auf nur noch die Hälfte.
Sie können sich sich das Leid in den staatlichen Pflegeheimen vorstellen, wenn Sie unsere Informationen studiert haben.“ Ich bestätigte das mit einen kurzen Nicken. Für einen Einwand war ohnehin keine Möglichkeit gegeben. „Und da kommt 'suffer care' ins Spiel.“, sprach er weiter, „Wir können sie davor bewahren. Wenn sie rechtzeitig vorsorgen.“
Ich holte tief Luft und unterbrach ihn.
„Deswegen bin ich ja hier. Aber ich hätte noch ein paar Fragen.“, warf ich ein, bevor er weiterreden konnte. Er lehnte sich zurück und zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Wie oft finden die Besuche Ihrer Mitarbeiter statt?“
Er verzog das Gesicht. Diese Fragen hatte er sicher schon tausendemale gehört. Es stand ja auch in den Broschüren, aber sowas möchte man gerne aus dem Mund des Verkäufers hören.
„Nun, das ist abhängig davon, was wir beim Vertragsabschluss eintragen. Es ist für sie ja sicher auch ein Kostenfrage. Unsere Mitarbeiter sind in der Lage, sie jährlich, halb- oder vierteljährlich oder sogar monatlich zu kontaktieren.“
„Ah gut. Und ab wann finden die Besuche statt?“ Das war sicher auch so eine Standardfrage, was man an seinem Blick sehen konnte. „Auch das ist vom Vertrag abhängig. Wir können dies auf ein bestimmtes Datum oder Alter festlegen. Oder, wenn Sie, wie ich den im Netz angegebenen Daten entnehme, die zusätzliche Heimoption mitbestellt haben, unmittelbar nach der Einlieferung in das Pflegeheim. Jenachdem, was zuerst eintritt. Und danach werden sie in den vereinbarten Abständen kontaktiert.“
Ich bohrte weiter nach. „Und wenn ich die Vereinbarung nicht einhalten kann oder möchte...“ „...wird der Vertrag umgehend beendet.“, vervollständigte er den Satz.
„Hmm, gut, dann ist ja alles klar.“ Ich rückte auf dem Sessel nach vorne und setzte mich auf die Kante. „Welche Besuchsintervalle wünschen Sie?“ Er drehte den schon vorausgedruckten Vertrag zu mir hin und deutete auf die betreffende Stelle.
„Ich glaube, dass sechs Monate ausreichend sind.“, antwortete ich. Aber kürzere Abstände konnte ich mir mit meiner kargen Rente nicht leisten.
„Eine gute Entscheidung.“ Er setzte wieder sein Verkäuferlächeln auf. Ich unterschrieb den Vertrag mit leicht zitternden Händen.
„Wir freuen uns, sie als Kunden von 'suffer care' begrüßen zu dürfen.“ Er reichte mir die Hand, die er ausgiebig schüttelte.
Dann hatte ich nur noch eine Frage.
„Äh, wie werden eigentlich die Terminierungen durchgeführt?“
Abwehrend hob er die Hände.
„Wir bevorzugen den Begriff 'Erlösungen'. Das ist ein Betriebsgeheimnis von 'suffer care'. Aber ich versichere ihnen, dass alles vom Staat genehmigt ist und regelmäßig überprüft wird. Und außerdem hat sich hinterher noch niemand beschwert.“ Er lachte etwas gequält.
Ich verabschiedete mich und ging, nicht ohne die Löwenmähne der großbusigen Piepsstimmendame noch mal zu bewunden.
Erleichtert verließ ich das 'suffer care' Gebäude. Meine anstehende Herzoperation sah ich nun mit anderen Augen. Jetzt konnte mir nichts schlimmes mehr passieren. Ich würde jedenfalls nicht jahrelang in einem der staatlichen Pflegeheime dahin vegetieren. Sondern nur solange bis ich das vereinbarte Kennwort nicht sagen konnte. Oder wollte.