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Pflaumen

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21.03.2016
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Pflaumen

»Dann wähle ich halt diese neue Partei.«

Eigentlich wollte ich gerade aufbrechen, ich hatte den Autoschlüssel schon in der Hand. Es würde bald dämmern, und ich fahre ungern im Dunkeln. Nun ließ ich den Schlüssel wieder sinken. Ich wusste: Das hier würde jetzt länger dauern.
Mama würde das bringen, aus purem Protest, weil die großen Parteien in ihren Augen seit Jahren an ihr vorbeipolitisierten, wie sie das nannte. Rente gekürzt, Steuern erhöht. Dabei hatte sie ihr Leben lang gearbeitet.

Nach der neunten Klasse runter von der Volksschule, zum Bauern. In Stellung, so nannte man das damals. Vierzehn Jahre alt war sie da. Zwei Mädchen waren auf dem Hof, sie und ein anderes. Umschichtig im Wochentakt eine im Haus, eine in Stall und Feld. Harte körperliche Arbeit.
»Der Bauer war gut. Jedes Jahr ein Kleid und zwei Paar Schuhe. Sogar nach Bremen ins Theater durfte ich mal mit. 20 Mark im Monat. Die hat er aber gleich zur Kasse gebracht. Später konnte ich mir dann ein Auto und das Grundstück kaufen.«
Dann hat sie ihren Dietmar kennengelernt. Heirat, Hausbau und immer Arbeit. Morgens um 5 Uhr in die Fabrik, zur Frühschicht. Bis nachmittags. Danach kurz etwas essen und ab zum Schlachter an den Verkaufstresen, bis in den späten Abend. Bei Spätschicht umgekehrt.
Dann kamen die Kinder. Zwei. Ein Junge, ein Mädchen, also ich. Und die Putzstellen, zusätzlich zum Zeitung austragen, fünfmal in der Woche bei Wind und Wetter.
Dann die Scheidung nach fünfundzwanzig Ehejahren. Viel zu spät. Und wieder in die Fabrik. Wurstdarmkonfektion, ganztags. Kaputte Hände, kaputte Gelenke.

All die Jahre hat sie Rot gewählt. Das war normal. In unserer Gemeinde leben Arbeiter, und die wählen Rot. Dann kam die Rot-Grüne Bundesregierung, und ihre Rente schmolz dahin.
In der Gewerkschaft ist sie bis heute aktiv, und natürlich im Sozialverband. Wenn ich mit den Jungs bei ihr bin, gellen die Trillerpfeifen durch den Garten. Die bringt sie ihnen immer von den Demos mit. Ich bin ebenfalls geschieden und arbeite Vollzeit. Unterhalt muss mein Mann mir nicht zahlen. Rot-Grünes Unterhaltsrecht, erklärte sie mir.

Mama schnaubt wieder. »Dann wähle ich halt mal die. Die Großen haben einen Denkzettel verdient.«
»Mama, das kannst du nicht tun.«
»Papperlappapp. Und ob.«
»Schon mal einen Blick in deren Wahlprogramm geworfen?«

Keine Antwort. Das ist selten. Höchst selten. Ich habe einen Nerv getroffen. Schon in einem ihrer Schulzeugnisse, sechste Klasse, glaube ich, stand: Lotte muss mehr lesen. In dieser altdeutschen Schrift. Hat sie alles aufbewahrt und fein säuberlich abgeheftet.
Aber ich darf sie jetzt nicht aufregen, dann macht sie ganz zu.

»Mama«, sage ich sanft, »da steht ... «

Sie unterbricht mich. »Und in die alte Sägerei haben sie schon wieder Flüchtlinge reingesteckt. Die laufen hier rum, und die Kinder kommen sogar in den Garten und holen sich Pflaumen.«

Ich seufze innerlich. Dörfliches Leben, so sehr ich mich oft im Großstadtalltag danach sehne, hat doch seine Tücken. Man muss sich nicht mit Fremden oder Fremdartigen auseinandersetzen. Die dafür zuständigen Regionen des Hirns und des Herzens werden so gut wie gar nicht stimuliert. Sie verkümmern. Wie schade. Ich denke an meine Jungs. Ihre Hirne und Herzen haben genug Gelegenheit zur kulturellen Stimulation. In der Schule gibt es eine internationale Vorbereitungsklasse, in der elf Flüchtlingskinder Deutsch lernen. Den Rest des Tages lernen sie mit den anderen Kindern in ihren Klassen. In der Kitagruppe sind zwei Mädchen aus Aleppo. Zu Kindergeburtstagen gibt es Geflügelwürstchen oder Rindfleischbällchen, weil mindestens ein Kind kein Schweinefleisch essen darf.
Innerlich hake ich den heimlich gehegten Wunsch nach ländlicher Wohnidylle erst einmal ab.

»Pflaumen?«, frage ich.
»Ja, die beugen sich übern Zaun und ziehen sich die Zweige rüber.»
»Aber dann kommen sie ja gar nicht in den Garten.«
Wieder keine Antwort. Aber dann, fast trotzig: »Wenn wir früher Pflaumen geklaut haben, ha, da gab's was hinter die Ohren. Wir hatten ja nichts. Der Krieg war just vorbei. Kartoffeln haben wir vom Acker geholt.«
»Ohne das Feld zu betreten?«
Sie überlegt kurz, und ich beiße mir auf die Zunge.
»Wir hatten Hunger. Wir hatten NICHTS. Und wenn die hierherkommen, dann bekommen die doch alles.«
Das ›die‹ zieht sie lang »diiiee!«.
Sie war lauter geworden, den Blick ins Innere gekehrt. Kurz schweigt sie und empört sich dann: »Die haben sogar einen Fernseher!«

Ich frage mich, was an einem Fernseher so Besonderes ist, dass es in einem herzlichen, allen Schwächeren wohlgesinnten Menschen, eine derartige Feindlichkeit aufbrechen lässt. Neid kann es nicht sein. Mama besitzt einen Fernseher. Niegelnagelneu, Flatscreen, HD.
Oder ist es Angst? Aber wovor? Und auf welcher Grundlage? Dass sie wieder heimlich Kartoffeln vom Feld sammeln muss?

Ihr Blick ist noch in weiter Ferne. Mittendrin in dem Kind, das sie einmal war, das hungerte, das Backpfeifen kassiert hat für eine Handvoll geklautes Obst, das beim Bauern schuften musste, schon als Schulkind, bevor sie endgültig dort ›in Stellung‹ ging, das sich alles, aber auch wirklich alles selbst erarbeiten musste.

Ein bisschen kann ich sie verstehen. Ich frage mich, ob sie jemals mit meinem Vater über dessen Flucht aus Pommern als damals Fünfjähriger gesprochen hat. Mit Mutter und großem Bruder, der war damals immerhin schon acht Jahre alt, nur mit einem Koffer in der Hand und den Klamotten am Leib, überstürzt auf das Schiff, dann mit der Bahn und zu Fuß weiter, bis hierher. Und auch hier sind sie nicht mit offenen Armen empfangen worden ...
Wie viel wussten meine Eltern eigentlich voneinander?

Es ist so still. Verdächtig still. Ich sehe hinaus in den großen Garten. Wo sind die Jungs? Sie stehen am Pflaumenbaum, auf unserer Seite des Zaunes. Sie biegen einen Ast vom Baum nach unten, voller Pflaumen. Auf der anderen Seite des Zaunes stehen zwei Jungen. Braune Gesichter, dunkle Haare, ungefähr im gleichen Alter. Mein Großer hält den Ast so, dass die beiden sich bequem die Taschen mit Pflaumen füllen können.
Aus den Augenwinkeln sehe ich meine Mutter aufstehen. Sie öffnet die Terrassentür. Sie will etwas sagen und holt tief Luft. Ich halte den Atem an. Dann lässt sie die Luft wieder aus den Lungen entweichen. Sie sagt nichts, schaut nur auf meine und auf die fremden Jungen auf der anderen Seite des Zaunes, die Taschen voll mit Pflaumen. Mein Kleiner hat inzwischen einen weiteren Zweig herabgebogen. Er ächzt vor Anstrengung. Sie holt wieder Luft. Tief, ganz tief. Dann ruft sie laut:

»Aber vor dem Essen die Pflaumen abwaschen!«

 
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Liebe Dora,

mir gefällt dein erster Text. Eine Geschichte im eigentliche Sinne ist es ja nicht und doch gelingt dir eine gelungene Darstellung des Phänomens. Wer hat da eigentlich am vorletzten Sonntag gewählt? Und warum? Die Mutter steht hier als Beispiel für die vielen, die nach den Verantwortlichen für die Misere der Politik, aber auch für ihr eigenes Leben suchen. Sie glauben, sie bei den Herrschenden auszumachen. Und denen gilt es, einen Denkzettel zu verpassen.

Du sprichst auch die Angst an:

Oder ist es Angst? Aber wovor?
Diese Angst ist diffus und nicht fassbar. Die kleinen Leute spüren die Veränderungen, können sie aber nicht einordnen, empfinden sie als Bedrohung und wehren sich. Dass sie den falschen Leute ihre Stimme geben, spüren sie vielleicht im Unterbewusstsein. Denn in ihnen gibt es auch diese andere, die ganz normal menschliche Seite:

»Aber vor dem Essen die Pflaumen abwaschen!«
Eine schöne Wende, die hoffen lässt.

Dein Text und die Behandlung des Themas hat mich angesprochen, ebenso wie dein Stil und deine Sprache. Ich begrüße dich bei den Wortkriegern und wünsche dir hier viel Spaß.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo Dora,

ein herzliches Willkommen auch von mir! Deine kleine Geschichte ist der beste Erstling, den ich hier seit Längerem gelesen habe. Sehr menschlich, sowohl im Verhältnis zwischen Mutter und Tochter als auch zwischen der Mutter und den Flüchtlingen.

Man sollte meinen, gerade die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen müssten am meisten Verständnis für die Flüchtenden haben, zumal wenn sie Vertriebene in der Familie haben. (Leicht gesagt, wenn man wie ich sehr viel später geboren ist.) Gleichzeitig spüren sie vielleicht am stärksten, was sie möglicherweise zu verlieren hätten. Diesen Zwiespalt beleuchtet dein Text sehr deutlich und verständnisvoll. Hoffentlich kriegen noch recht viele Leute die mentale Kurve wie die Mutter in deiner Geschichte.

Auch sprachlich finde ich deinen Text sehr überzeugend. Ein paar orthographische Winzigkeiten:

Das ›die‹ zieht sie langDoppelpunkt »diiiee!«.
Ich frage mich, was an einem Fernseher so Besonderes ist, dass es in einem herzlichen, allen Schwächeren wohlgesinnten Menschen[, Komma raus] eine derartige Feindlichkeit aufbrechen lässt.

Außerdem würde ich alle Zahlwörter lieber ausschreiben (zwanzig Mark, fünf Uhr).

Sehr gern gelesen!

Grüße vom Holg ...

 
Zuletzt bearbeitet:

Hej Dora,

das ist eine ruhige, feinfühlige und hochaktuelle Geschichte, die sehr angenehm zu lesen ist. Ich bin voller Verständnis und urteilsfrei, sowohl für die Mutter als auch für die Tochter.
Das muss man bei diesem Thema erst einmal hinbekommen. Respekt.

Schön, auch die Kinder darin zu sehen, die mit der Situation leben und aufwachsen.

Es ist so wie es ist und du hast es mit diesen Begegnungen sehr gut gezeichnet. Die Mutter konnte ich förmlich hören.:) und solch eine verständnisvolle Tochter wäre ich auch gerne.

Freundliche Grüß, Kanji

 

Hallo Dora,

ich hätte nicht gedacht, dass jemand in der aufgeregten Zeit nach den Wahlen so eine gelassene Geschichte hinkriegt. Du hast wichtige Aspekte in gut nachvollziehbare Charaktere und Bilder eingepackt. Ich wünschte, diese Einfühlsamkeit wäre die Grundlage für die jetzt anstehenden politischen Entscheidungen in den Parlamenten. Und ja, informieren sollte man sich immer. Das gilt für jeden.

Dein Schreibstil gefällt mir sehr.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Man muss sich nicht mit Fremden oder Fremdartigen auseinandersetzen.

Ist eine Pauschalisierung. Nicht jeder Provinzler ist ein Verkümmerter, der sich nicht um Multi-Kulti schert.

Zu Kindergeburtstagen gibt es Geflügelwürstchen oder Rindfleischbällchen, weil mindestens ein Kind kein Schweinefleisch essen darf. Und dann wird mir das als tolerant, weltoffen und weltmännisch verkauft?

Die Geschichte ist viel zu bieder und brav. Es gibt massive Probleme mit Flüchtlingen, bei allem Tollem und Schönem, was ebenfalls passiert, aber diese ganze Entwicklung provoziert doch vor allem eins: eine Diskussion über das, was wir "Werte" nennen. Ich kann die Menschen verstehen, die Angst haben, dass sie zu kurz kommen. Was ist mit den working poor, die sowieso schon am Hungertuch nagen? Die haben Angst, dass sie jetzt von noch billigeren Arbeitskräften abgelöst werden. Und was ist mit eigenen kulturellen Werten? Kennen wir die? Gibt es die, außer Bier und Fußball? Also, diese Geschichte ist mir da einfach zu inkonsequent, zuckersüß. Ich würde mir einen Bruch wünschen, so dass der Text auch irgendwo über sich selbst hinausweist, nicht nur diese Verbrüderung der unschuldigen Kinder, was immer so das letzte Mittel ist: Die sind noch nicht von der Gesellschaft und irgendwelchen Demagogen versaut, die sind noch zu vorurteilsfreiem Denken fähig. Naja, das ist wirklich etwas einfach, oder?


Konstruktiv: Ich wäre nach dem ersten, berichtenden Teil fast ausgestiegen, weil du die Mutter als Prot schon sehr unelegant einführst. Das würde mit einem Dialog, wo sie erzählt, dass sie immer Rot gewählt hat, viel besser gehen. Also mehr szenisch schreiben.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Dora!

Willkommen bei den Wortkriegern.

Nimm es nicht persönlich, aber dein Text hat mich wirklich in den Krieger-Modus versetzt. Aussagen wie: Die vom Dorf müssen fremdenfeindlich sein, weil sie nicht an Fremde gewöhnt sind, die Großstadtleute hingegen sind irre tolerant, nett und freundlich Fremden gegenüber - solche Aussagen machen mich wütend!
=> Ich gestehe dir natürlich zu, dass das nicht deine Aussage ist, sondern nur die deiner Protagonistin. Folglich kann ich dir sagen: Ich mag deine Protagonistin nicht.
=> »Mama, das kannst du nicht tun.« => Doch, Mama, du kannst. Wir leben in einer Demokratie. Deine Stimme zählt.
=> »Schon mal einen Blick in deren Wahlprogramm geworfen?« => Interessante Frage. Weil, wer liest eigentlich Wahlprogramme?
=> Und? Wen hat die Mutter nun gewählt? Und wie sieht es mit der Protagonistin aus? Immerhin ist die Frage nach dem, was gewählt werden soll, der Aufhänger deiner Geschichte. Ich hätte nun gerne eine Auflösung.

Grüße,
Chris

 

Liebe barnhelm (ich hoffe, die Ansprache ist richtig),

vielen Dank für deinen Beitrag zu meinem Erstling hier.
Du hast recht: Ich habe auch versucht, diese nebulöse Angst (oder das Unwohlsein) einzufangen, die doch viele von uns beim Thema "Fremde" umtreibt.
Ich freue mich sehr über dein Lob zu meinem Sprachstil und zum erdachten Schluss.

Lieben Gruß
Dora

 

Lieber Holg (auch hier hoffe ich, dass die Ansprache trifft),

herzlichen Dank für das Willkommen und für deine Kritik. Die "Winzigkeiten" habe ich berichtigt, und auch die Zahlwörter.

Herzlichen Dank!

Dora

 

Liebe wieselmaus,

gerade nach solchen (Wahl-)Ergebnissen ist Gelassenheit gefragt und sehr wichtig, finde ich. Herzlichen Dank!

Lieben Gruß
Dora

 

Hallo Kanji,

ich danke dir sehr, gerade für "Verständnis und urteilsfrei" (an der Zitierfunktion muss ich mich noch üben). So sollte es sein, aber es scheint (wenn ich nachfolgende Kritiken lese), dass ich es nicht ganz hinbekommen habe.

Lieben Gruß
Dora

 

Lieber jimmysalarman,

in einer Kritik weiter oben wird gelobt, die Geschichte sein "urteilsfrei". So sollte sie auch sein. Nun lese ich deine Worte und sehe, dass ich es nicht ganz hinbekommen habe.
Auch dir vielen Dank für deine Kritik!

Lieben Gruß
Dora

 

Lieber Chris Stone,

sei ein Krieger. Dafür sind wir hier.

Weiter oben habe ich schon geschrieben, dass ich recht urteilsfrei an die Sache herangegangen bin. Manche sagen, das ist mir gelungen, andere nicht, und das ist ja auch ok, denn was ich an den Kritiken sehe ist: Das Thema polarisiert.
Das sich der Aufhänger sich am Schluß auflösen muss, habe ich nicht gewusst, und das ländliches Leben mit Fremdenfeindlichkeit einhergehen muss, habe ich nicht geschrieben. Nur, dass es weniger Möglichkeiten gibt, Toleranz zu "trainieren". Ich werde mir diese Stelle noch einmal ansehen.
Und Wahlprogramme (oder besser "Parteiprogramme" - das werde ich im Text ändern) sollte wirklich jeder lesen.

Lieben Gruß
Dora

 

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