Pflaumen
»Dann wähle ich halt diese neue Partei.«
Eigentlich wollte ich gerade aufbrechen, ich hatte den Autoschlüssel schon in der Hand. Es würde bald dämmern, und ich fahre ungern im Dunkeln. Nun ließ ich den Schlüssel wieder sinken. Ich wusste: Das hier würde jetzt länger dauern.
Mama würde das bringen, aus purem Protest, weil die großen Parteien in ihren Augen seit Jahren an ihr vorbeipolitisierten, wie sie das nannte. Rente gekürzt, Steuern erhöht. Dabei hatte sie ihr Leben lang gearbeitet.
Nach der neunten Klasse runter von der Volksschule, zum Bauern. In Stellung, so nannte man das damals. Vierzehn Jahre alt war sie da. Zwei Mädchen waren auf dem Hof, sie und ein anderes. Umschichtig im Wochentakt eine im Haus, eine in Stall und Feld. Harte körperliche Arbeit.
»Der Bauer war gut. Jedes Jahr ein Kleid und zwei Paar Schuhe. Sogar nach Bremen ins Theater durfte ich mal mit. 20 Mark im Monat. Die hat er aber gleich zur Kasse gebracht. Später konnte ich mir dann ein Auto und das Grundstück kaufen.«
Dann hat sie ihren Dietmar kennengelernt. Heirat, Hausbau und immer Arbeit. Morgens um 5 Uhr in die Fabrik, zur Frühschicht. Bis nachmittags. Danach kurz etwas essen und ab zum Schlachter an den Verkaufstresen, bis in den späten Abend. Bei Spätschicht umgekehrt.
Dann kamen die Kinder. Zwei. Ein Junge, ein Mädchen, also ich. Und die Putzstellen, zusätzlich zum Zeitung austragen, fünfmal in der Woche bei Wind und Wetter.
Dann die Scheidung nach fünfundzwanzig Ehejahren. Viel zu spät. Und wieder in die Fabrik. Wurstdarmkonfektion, ganztags. Kaputte Hände, kaputte Gelenke.
All die Jahre hat sie Rot gewählt. Das war normal. In unserer Gemeinde leben Arbeiter, und die wählen Rot. Dann kam die Rot-Grüne Bundesregierung, und ihre Rente schmolz dahin.
In der Gewerkschaft ist sie bis heute aktiv, und natürlich im Sozialverband. Wenn ich mit den Jungs bei ihr bin, gellen die Trillerpfeifen durch den Garten. Die bringt sie ihnen immer von den Demos mit. Ich bin ebenfalls geschieden und arbeite Vollzeit. Unterhalt muss mein Mann mir nicht zahlen. Rot-Grünes Unterhaltsrecht, erklärte sie mir.
Mama schnaubt wieder. »Dann wähle ich halt mal die. Die Großen haben einen Denkzettel verdient.«
»Mama, das kannst du nicht tun.«
»Papperlappapp. Und ob.«
»Schon mal einen Blick in deren Wahlprogramm geworfen?«
Keine Antwort. Das ist selten. Höchst selten. Ich habe einen Nerv getroffen. Schon in einem ihrer Schulzeugnisse, sechste Klasse, glaube ich, stand: Lotte muss mehr lesen. In dieser altdeutschen Schrift. Hat sie alles aufbewahrt und fein säuberlich abgeheftet.
Aber ich darf sie jetzt nicht aufregen, dann macht sie ganz zu.
»Mama«, sage ich sanft, »da steht ... «
Sie unterbricht mich. »Und in die alte Sägerei haben sie schon wieder Flüchtlinge reingesteckt. Die laufen hier rum, und die Kinder kommen sogar in den Garten und holen sich Pflaumen.«
Ich seufze innerlich. Dörfliches Leben, so sehr ich mich oft im Großstadtalltag danach sehne, hat doch seine Tücken. Man muss sich nicht mit Fremden oder Fremdartigen auseinandersetzen. Die dafür zuständigen Regionen des Hirns und des Herzens werden so gut wie gar nicht stimuliert. Sie verkümmern. Wie schade. Ich denke an meine Jungs. Ihre Hirne und Herzen haben genug Gelegenheit zur kulturellen Stimulation. In der Schule gibt es eine internationale Vorbereitungsklasse, in der elf Flüchtlingskinder Deutsch lernen. Den Rest des Tages lernen sie mit den anderen Kindern in ihren Klassen. In der Kitagruppe sind zwei Mädchen aus Aleppo. Zu Kindergeburtstagen gibt es Geflügelwürstchen oder Rindfleischbällchen, weil mindestens ein Kind kein Schweinefleisch essen darf.
Innerlich hake ich den heimlich gehegten Wunsch nach ländlicher Wohnidylle erst einmal ab.
»Pflaumen?«, frage ich.
»Ja, die beugen sich übern Zaun und ziehen sich die Zweige rüber.»
»Aber dann kommen sie ja gar nicht in den Garten.«
Wieder keine Antwort. Aber dann, fast trotzig: »Wenn wir früher Pflaumen geklaut haben, ha, da gab's was hinter die Ohren. Wir hatten ja nichts. Der Krieg war just vorbei. Kartoffeln haben wir vom Acker geholt.«
»Ohne das Feld zu betreten?«
Sie überlegt kurz, und ich beiße mir auf die Zunge.
»Wir hatten Hunger. Wir hatten NICHTS. Und wenn die hierherkommen, dann bekommen die doch alles.«
Das ›die‹ zieht sie lang »diiiee!«.
Sie war lauter geworden, den Blick ins Innere gekehrt. Kurz schweigt sie und empört sich dann: »Die haben sogar einen Fernseher!«
Ich frage mich, was an einem Fernseher so Besonderes ist, dass es in einem herzlichen, allen Schwächeren wohlgesinnten Menschen, eine derartige Feindlichkeit aufbrechen lässt. Neid kann es nicht sein. Mama besitzt einen Fernseher. Niegelnagelneu, Flatscreen, HD.
Oder ist es Angst? Aber wovor? Und auf welcher Grundlage? Dass sie wieder heimlich Kartoffeln vom Feld sammeln muss?
Ihr Blick ist noch in weiter Ferne. Mittendrin in dem Kind, das sie einmal war, das hungerte, das Backpfeifen kassiert hat für eine Handvoll geklautes Obst, das beim Bauern schuften musste, schon als Schulkind, bevor sie endgültig dort ›in Stellung‹ ging, das sich alles, aber auch wirklich alles selbst erarbeiten musste.
Ein bisschen kann ich sie verstehen. Ich frage mich, ob sie jemals mit meinem Vater über dessen Flucht aus Pommern als damals Fünfjähriger gesprochen hat. Mit Mutter und großem Bruder, der war damals immerhin schon acht Jahre alt, nur mit einem Koffer in der Hand und den Klamotten am Leib, überstürzt auf das Schiff, dann mit der Bahn und zu Fuß weiter, bis hierher. Und auch hier sind sie nicht mit offenen Armen empfangen worden ...
Wie viel wussten meine Eltern eigentlich voneinander?
Es ist so still. Verdächtig still. Ich sehe hinaus in den großen Garten. Wo sind die Jungs? Sie stehen am Pflaumenbaum, auf unserer Seite des Zaunes. Sie biegen einen Ast vom Baum nach unten, voller Pflaumen. Auf der anderen Seite des Zaunes stehen zwei Jungen. Braune Gesichter, dunkle Haare, ungefähr im gleichen Alter. Mein Großer hält den Ast so, dass die beiden sich bequem die Taschen mit Pflaumen füllen können.
Aus den Augenwinkeln sehe ich meine Mutter aufstehen. Sie öffnet die Terrassentür. Sie will etwas sagen und holt tief Luft. Ich halte den Atem an. Dann lässt sie die Luft wieder aus den Lungen entweichen. Sie sagt nichts, schaut nur auf meine und auf die fremden Jungen auf der anderen Seite des Zaunes, die Taschen voll mit Pflaumen. Mein Kleiner hat inzwischen einen weiteren Zweig herabgebogen. Er ächzt vor Anstrengung. Sie holt wieder Luft. Tief, ganz tief. Dann ruft sie laut:
»Aber vor dem Essen die Pflaumen abwaschen!«