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Petulia
Warum Petulia an einem Mittwoch um Dreiviertel Zwölf auf einen Baum stieg, konnte niemand sagen. 'Vielleicht will sie wissen, wie die Welt von weiter oben ausschaut', mutmaßten die Eltern, '… oder ob sie von dort über die Dächer bis zum Meer sehen kann?' Aber was wussten Eltern schon? Jedenfalls nicht, warum Petulia auf den Baum gestiegen war, und erst recht nicht, warum sie nicht mehr herunterkam. Dabei war es so einfach, das zu wissen, wenn man Petulia war. Sie hatte nur einmal 'Ja' gezwinkert und zweimal 'Nein'. Damit war es ausgemacht. Soll ich auf den Baum klettern? Zwinker. Soll ich wieder runter? Zwinker zwinker. Tausenddreihundertsiebenundfünfzig Tage würde sie den Boden nicht mehr betreten, so viel stand fest. Als sie überlegte, was das ungefähr in Jahren bedeutete, wurde ihr schwindelig und Schwindel ist kein guter Zustand für ein Mädchen auf einem Baum.
Petulia hatte für jedes ihrer Jahre einen Finger. Jedes Jahr verdiente einen eigenen, denn immer, wenn sie den entsprechenden Finger ausstreckte, war das Jahr da, mit allem Wichtigen, das darin passiert war. Nur den kleinen Finger der rechten Hand, den zählte sie schneller als die anderen und und kniff dazu die Augen zusammen. Im Kleinen-Finger-Jahr war Oma Else gestorben.
Der rechte Daumen für die Zehn war erst vor wenigen Tagen dazugekommen. Ein Teil von ihr fühlte sich nun vollständig und vollständig war ein sehr gutes Gefühl. Ein anderer Teil fragte sich, was denn nächstes Jahr werden sollte, wenn sie einen elften Finger bräuchte? Sie dachte an ihre Zehen. Wenn sie mit den Zehen wackeln konnte, würden sie auch zum Zählen taugen. Aber wie sollte sie mit den Zehen zählen, wenn sie die ganze Zeit in Schuhen versteckt waren? Und was sollte sie tun, wenn jemand nächstes Jahr fragte, wie alt sie sei? Meistens taten das ja die Nachbarinnen, vor allem die tüdelige Zitschke. Sollte sie 'Einen Moment, Frau Zitschke!' sagen, erst den linken Schuh ausziehen, bevor sie antwortete, und das alles nur für die blöde Elf? Abgesehen davon war es eine blöde Idee, auf einem Baum den linken Schuh auszuziehen, damit er derjenigen, die gefragt hat, womöglich auf den Kopf fällt. Wobei, bei der Zitschke konnte das nicht mehr viel anrichten.
Natürlich hatte sie in der Schule schon weiter gezählt, im Kopf hinter geschlossenen Augen. Als die Lehrerin, Frau Bommel, 'Petulia' gerufen hatte, war sie bei tausenddreihundertsiebenundfünfzig gewesen und das hatte sie laut ausgesprochen, als Antwort auf eine Frage, die leider niemand gestellt hatte.
Alle hatten gelacht, nur die olle Frau Bommel nicht. Das lag aber wahrscheinlich eher daran, dass Petulia aus Versehen noch 'Frau Ollebommel' gesagt hatte. Seitdem war sie beim Rechnen von einer Zwei auf eine Vier gerutscht, wie Frau Bommel flugs in der nächsten Stunde kundtat. Ihre Nase hatte sie dabei gerümpft und ein wenig mehr Richtung Decke gehalten als sonst.
Trotzdem blieb tausenddreihundertsiebenundfünfzig Petulias ganz eigene Antwort auf ungestellte Fragen. Und sie wurde zu ihrer Lieblingszahl, auch wenn sie natürlich niemand kannte, der so viele Finger und Zehen hatte. Selbst einem Tausendfüßler fehlten ja noch dreihundertsiebenundfünfzig, vorausgesetzt, er hatte an jedem Beinchen nicht mehr als einen Zeh. Und es war gut, dass niemand so alt werden konnte, denn manchmal kam sie schon jetzt mit zehn Fingern durcheinander. Und wie mochte das erst sein, wenn man seine unzähligen Jahre ganz ohne Hilfestellung in die Reihe bringen musste?
Jedenfalls stieg Petulia bis in die Spitze der riesigen Kastanie und sah tatsächlich zum ersten Mal die Welt von ganz oben. Die beiden tiefen Teiche, die nach dem letzten Deichbruch vor langer Zeit geblieben waren, glitzerten im Sonnenlicht. Oma hatte erzählt, als sie selbst ein junges Mädchen gewesen war, hatte das Meer vor und hinter dem Haus große Strudel gedreht und dabei zwei riesige Kuhlen in die Erde gebohrt. Das Meer ging zurück, die Teiche blieben. Oma Else nannte sie die 'Augen des Meeres', der vor dem Haus hieß Karlchen, der dahinter Fiete. Seit sie das gesagt hatte, fühlte sich Petulia immer ein wenig beobachtet. Ein ganz klein wenig. Aber sie wusste, das Meer würde ihr nichts tun, weil es neben den Kühen schon die beiden Brüder von Oma geholt hatte und auch ein Meer musste schließlich wissen, wann es genug ist.
Der neue Deich war weit vor den Überresten des alten errichtet und auf dem grasigen Marschland dazwischen standen neue Kühe. Eine Allee hoher Bäume zog sich Richtung Dorf, nur der Kirchturm ragte über die Wipfel.
Als der Wind die Kronen auseinanderbog, sah sie die Kirchturmuhr. Dreiviertel Zwölf. Sie war also an einem Mittwoch um Dreiviertel Zwölf in die Kastanie gestiegen. Wer wusste schon, wozu es gut sein mochte, das zu wissen? Den Turmschlag hörte sie nur an manchen heißen Sommertagen, wenn auch der Westwind Urlaub machte – und auf dem Weg zur Schule.
Aber zur Schule würde sie ja nicht mehr gehen, auch nach den Sommerferien nicht, was den Vorteil hatte, dass sie in Ruhe weiter als tausenddreihundertsiebenundfünfzig zählen könnte, wenn sie das mal wollen sollte.
Hauptsache, sie würde den Neuen, den Hauke nicht mehr wiedersehen. Der Hauke war ein Blödian und dabei war er erst seit ein paar Wochen in der Klasse.
'Petusilia' hatte er sie am letzten Schultag vor den Ferien genannt und selbst ein grimmiges Doppelzwinkern hatte ihn nicht aufhalten können. In ihrem kleinen Finger zog es ein wenig, als er 'Petusilia' sagte. Vielleicht zog es im Finger, weil laut Mama die Oma den Namen für sie ausgesucht hatte und dabei hatte sie sicher nicht an Petersilie gedacht. Obwohl, wer wusste das bei Oma schon?
'Tausenddreihundertsiebenundfünfzig' hatte sie den neuen Hauke angeschrien und ihn mit runzliger Stirn stehen lassen – was sie als kleinen Triumph feierte, zumal auch die Allermeisten mit dem Lachen aufhörten, nur Frau Ollebommel nicht. Ihr Lachen hatte etwas Wieherndes, weil sie zwischendurch immer wieder mit einem pfeifenden Schnarchen Luft holte. Das war so selten wie lustig und allemal besser als der scharfe Blick, mit dem sie sonst alles Laute abrasierte.
Als dann irgendwer mit Händen und Oberschenkeln einen Galopp nachmachte, konnten die anderen nicht mehr an sich halten und prusteten los. Und das Lachen der Klasse war so ansteckend, dass selbst der blöde Hauke mit einfiel. Nur Petulia nicht.
Das erste, woran Petulia nicht gedacht hatte, war der Wind. Aber das war wirklich nur das erste. Wenn ein Mädchen an einem Mittwoch um Dreiviertel Zwölf auf einen Baum steigt, weil es erst einmal und dann zweimal zwinkert, fehlt ein wenig die Vorbereitung. Zu der Windjacke, die Petulia vermisste, gesellten sich bald Durst, Appetit und Bedürfnisse, die für denjenigen, der gerne unter Bäumen spazieren geht, höchst unangenehm werden können. Unangenehmer als ein linker Schuh, der aus einem anderen Grund herunterfällt.
»Petulia, in zehn Minuten gibt es Essen«, rief Papa aus der offenen Terrassentür.
Er konnte nicht wissen, dass sie zweimal gezwinkert hatte und selbst wenn er es gesehen hätte, hätte er nicht gewusst, was es bedeutete.
»Hab keinen Hunger«, rief Petulia von oben zurück, was so nicht stimmte, aber alles andere wäre für Papa zu schwierig zu verstehen gewesen.
Papa legte den Kopf in den Nacken und schaute in die Kastanie. Wer schon einmal in der Spitze einer riesigen Kastanie gesessen hat, der weiß, wie dicht so ein Sommerblätterdach sein kann. So dicht jedenfalls, dass einfaches Gucken nicht ausreicht. Da Papa aber nicht mehr tun wollte, als einfach zu gucken, zuckte er mit den Schultern und als er damit fertig war, ging er wieder ins Haus.
Blöd nur, dass er die Tür offenließ und aus der offenen Tür ein Duft nach oben stieg, der Petulia verriet, dass Mama Grünkohl mit Pinkel machte und Grünkohl mit Pinkel war mit Abstand das Leckerste, das aus Mamas Küche kam.
Da sie aber zweimal gezwinkert hatte, konnte sie nicht mir nichts dir nichts vom Baum steigen, ins Haus spazieren und sich an den Tisch setzen. In der Spitze einer Kastanie zu sitzen, mit knurrendem Magen und dem Duft ihres Lieblingsgerichts in der Nase, ging aber ebenso wenig.
Also stieg Petulia auf den nächstgrößeren Ast, der wie eine Brücke zu einer großen Linde wuchs, und kletterte hinüber. Hier roch sie das Essen nicht mehr und das war gut, denn ihr Magen knurrte immer noch, als hätte sie eine ganze Bärenhorde verschluckt. Möglicherweise ließ sich der Aufenthalt hier oben verkürzen, vielleicht auf tausenddreihundertsiebenundfünfzig Stunden? Das wären dann immerhin bestimmt noch die ganzen Sommerferien.
Von der Linde kletterte sie auf eine Lärche und von dort aus auf den großen Kirschbaum von Frau Zitschke. Dass sie das ein oder andere Mal dabei doch den Boden berührte, nahm sie als unvermeidbares Übel, aber Fliegen hatte sie noch nicht gelernt. Jeder Schritt fühlte sich an wie ein Wassertropfen, der auf einer heißen Herdplatte tanzt, weil er da nicht hingehört. Vielleicht war das der erste Schritt zum Fliegen, wenn jeder Schritt auf dem Boden zischt?
Petulia liebte Süßkirschen und der Baum hing gerappelt voll damit, weil die Zitschke nicht nur ihr Alter vergaß, sondern auch, dass ein Kirschbaum in ihrem Garten stand.
Nachdem sie einige Hände voll gegessen hatte, machte Petulia eine Pause. Süßkirschen sind köstlich, unbestritten, aber bei jemand, der wenige Minuten vorher Grünkohl mit Pinkel in der Nase hatte und bei dem das nun mal das Lieblingsgericht ist, haben es auch die leckersten Kirschen auf Dauer schwer. Also pflückte sich Petulia einen kleinen Vorrat in ihre Kapuze und hangelte sich hinüber zu den Pappeln entlang der Straße, die zum Kirchturm führte.
Kurz vor dem Kirchturm endete die Allee an einer knorrigen Eiche. Petulia musste in den wilden Garten des alten Kapitänshauses wechseln, das letztens erst neue Besitzer bekommen hatte. Das Strandgut hatten die Neuen schon von der Terrasse geräumt und dafür ein Baugerüst aufgestellt. Nur die vom Salz angefressene Schiffsglocke hing noch.
Und schon hatten sie in die alte Eiche ein Baumhaus gezimmert. Eines, das mal ganz um den Stamm herumging, mit Teerpappe, Geländer und allem Schnick und Schnack. Es war noch nicht fertig, aber wo die Strickleiter festgemacht war, gab es eine Falltür und in die hatte jemand ein großes Ha geschnitzt.
Petulia kannte niemand, dessen Name mit einem Ha anfing, nur blöde Wörter wie Haflinger, Husten und Hibiskus. Wobei … jasses, einen gab es.
»Petusilia«, rief Hauke, »was machst du denn da oben auf meinem Baumhaus?«
Abgesehen von dem kleinen Finger, der wieder pochte, hatte Petulia mit einem Mal große Lust, beide Schuhe auszuziehen und auf den Blödian zu pfeffern. Und dann würde sie die Hose runterziehen und ... nee, das doch nicht.
»Nenn mich nicht so, Hauke Kackfresse, ich heiße Petulia, weil meine Oma Else den Namen für mich ausgesucht hat.«
Kackfresse war übel und es war ihr rausgerutscht. Es war sogar übler als das übelste Schimpfwort, das Petulia bis dahin je gesagt hatte und wahrscheinlich übler, als alles, was Hauke je sagen würde, aber da war noch dieses Bild im Kopf. Und schließlich war er ja der Grund, warum sie hier oben hockte, statt zuhause am Tisch Grünkohl mit Pinkel zu essen. Aber das war nicht der einzige Grund, noch nicht einmal der eigentliche. Der eigentliche war, dass sie abgesehen davon, in der Klasse die Jüngste zu sein, einfach anders war als die anderen. Und deshalb lachten auch alle über sie, statt ihr zur Seite zu stehen.
Hauke machte den Mund auf und wieder zu, wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, und Petulia dachte, dass der hierhin passte, der Fisch, hier in den Garten des Kapitänshauses. Außerdem dachte sie noch, wo sie es ihm gerade halbwegs zurückgezahlt hatte, würden ja vielleicht auch tausenddreihundertsiebenundfünfzig Minuten Baumzeit reichen und zwinkerte einmal dazu.
Hauke stand unten am Fuß der Eiche und schluchzte, zumindest hörte sich das für einen Moment so an. Er hatte die Augen zusammengekniffen und holte Luft. Und gerade, als er kurz davor war, Petulia leid zu tun, lachte er aus vollem Hals los. Nicht so wiehernd wie Frau Ollebommel und nicht so keckernd wie die tüdelige Frau Zitschke, sondern richtig nett und geradeaus.
»Kackfresse, das ist … echt übel, Petulia. Jasses, das ist so übel, das werde ich immer im Ohr haben, wenn ich dich sehe.«
'Hatte er gerade Petulia gesagt?', fragte sich Petulia im Stillen und merkte, wie ihre Wangen warm wurden. Laut sagte sie: »Tschuldige, ist mir rausgerutscht.«
Da sie das aber nicht wirklich so meinte, aß sie eine Kirsche aus der Kapuze und spuckte ihm den Kern auf den Kopf.
»He du, … na warte«, rief Hauke, griff nach der Strickleiter und machte sich an den Aufstieg. Petulia stellte sich auf die Falltür, bis er von unten dagegen bollerte.
»Lass mich hoch«, sagte Hauke. Petulia zwinkerte zweimal.
»Jawoll, Herr Kapitän, aber erst, wenn du mir zwei Fragen beantwortest.«
»Von mir aus.«
»Die erste: Wie alt bist du?«, fragte Petulia.
»Elf, wieso?«
»Die zweite: Wie fühlt sich das an … ich meine … du hast nur zehn Finger.« Petulia kniff feste die Augen zu und hoffte ganz doll, dass er sie nicht auslachte, weil sie wusste, wie speziell diese Frage war. Dazu hielt sie die Luft an und biss auf die Zähne, bis es wehtat. Das Knarzen der Strickleiter im Wind war lauter als das Rauschen der Blätter, ein doppelter Turmschlag, es war halb.
»Hm, ich glaub, ich weiß, was du meinst«, sagte Hauke. »Am Anfang hab ich immer noch den kleinen linken Zeh dazu genommen, aber dann war es mir zu lästig, immer den Schuh auszuziehen. Jetzt denke ich ohne Finger an die Jahre und an das Besondere, was in jedem Jahr passiert ist. Geht auch.«
»Hm, ... geht auch«, sagte Petulia leise. Tausenddreihundertsiebenundfünfzig Sekunden waren sicher schon vorbei. Sie zwinkerte einmal, in ihren Wimpern hing ein wenig Nebelwasser. Vollständig war ein gutes Gefühl.
»Komm, wir pflücken Kirschen bei der Zitschke.« Petulia sprang von der Falltür und griff in die Blätter der ersten Pappel. Hinter ihr schlug die Falltür mit einem Quietschen auf.
»Grünkohl mit Pinkel wär mir lieber«, maulte Hauke grinsend und begann, hinter ihr her zu hangeln. Petulia hätte beinahe danebengegriffen. Als sie das hörte, wurde ihr schwindelig und Schwindel ist kein guter Zustand für ein Mädchen auf einem Baum. Doch dann dachte sie ans Fliegen und an Schritte, die auf dem Boden zischen und griff den nächsten Ast. Zwei Pappeln weiter dachte sie, Mama würde es nichts ausmachen, zwei große Teller Grünkohl mit Pinkel in die alte Kastanie hochzureichen. Sie würden in der Baumkrone sitzen, trotz der Sonne im Wind frieren und beim Essen den glitzernden Augen des Meeres namens Karlchen und Fiete zukniepen, die sie beobachteten, aber nur ein ganz klein wenig. Es war Mittwoch Dreiviertel Eins.