Mitglied
- Beitritt
- 05.04.2002
- Beiträge
- 73
Petras Fantasien
Sie schloss die Tür zu ihrem Appartement auf und hängte ihre Jacke samt Schal an die Garderobe. ‚Was für ein Sauwetter.’, ging es ihr durch den Kopf. Einen Moment sah sie sich noch die Eiskristalle an, die auf dem braunen Ledermantel in kleine Wassertropfen verwandelten und dann Richtung Boden abperlten.
Dann hatte der Feierabend sie fest im Griff. Zufrieden ging sie in die Küche ihrer 3–Zimmer-Wohnung. Dort erwartete sie auch schon mit leuchtenden Augen Bert. Er sprang vom Stuhl und strich ihr um die Beine, als sie Milch in seinen Napf goss. Es faszinierte sie immer wieder, wie er es fertig brachte, gleichzeitig zu trinken und zu schnurren.
Sie holte einen halben Eisbergsalat aus dem Kühlschrank. „Was meinst du, Bert: Öl oder Joghurt?“ Doch Bert schaute nur kurz auf, mit dem Blick <Hat gut geschmeckt> und trollte sich mit erhobenem Schwanz ins Wohnzimmer.
„Wie du meinst.“, sagte sie belustigt und öffnete die Flasche mit dem Joghurtdressing.
Sie war noch nicht fertig mit essen, als das Telefon klingelte. Glücklich für jede Gesellschaft, die sie ihr Single – Dasein zu mindestens bis heute Abend vergessen lassen würde, lief sie erwartungsvoll in den Flur und sah auf das Display. Klaus.
Wollte er am Wochenende doch mit ins Kino?
Seit Jahren waren sie gut befreundet. Sie wusste, dass er was vor ihr wollte, aber sie empfand nur freundschaftliche Gefühle für ihn, und das wusste wiederum er.
Schmunzelnd nahm sie den Hörer ab: „Schwedische Kunstleder Gerberei GmbH, was kann ich für sie tun?“
Sie liebte diese Scherze, besonders wenn sie Andere damit überrumpelte. Es war ihr auch schon gelungen, dass ihr Gesprächspartner stammelnd um Verzeihung bat und auflegte. Doch Klaus kannte ihre Spielchen und würde die Szene aus Spaß einen Moment lang mitspielen.
Doch da hatte sie sich geirrt. Zuerst hörte sie nur ein Knistern, dann ein leises schmerzhaftes Stöhnen. Sie war sich nicht sicher, ob es Klaus war. Es klang nicht nach seiner Stimme, wenn sie so darüber nachdachte, eigentlich nicht einmal menschlich. Sie hatte das Gefühl, dass der Andere (oder DAS Andere?) versuchte ihr etwas mitzuteilen.
Schlagartig war ihre Kehle wie ausgetrocknet. Sie versuchte zu Schlucken, aber damit verstärkte sie nur noch das Kratzen im Hals. „Was willst du von mir!“, wollte sie schreien, wollte die Angst in ihre Schranken verweisen, doch wie gebannt hing sie an den schmerzverzerrten Tönen, die in ihrem Kopf sich scheinbar zu Silben zusammen fügten, deren Sinn ihr jedoch gänzlich verwehrt blieb. Auf einmal fauchte es hinter ihr. Vor Schreck lies sie fast den Hörer fallen. Ärgerlich drehte sie sich herum, um ihren Kater zu schellten, da legte die andere Seite auf.
Und es stand kein Kater hinter ihr.
Erst im Nachhinein fiel ihr auf, dass das Fauchen sich nicht nach einer Katze angehört hatte und aus dem Hörer gekommen war. Es war nur grundlegend verschieden zu den anderen Geräuschen gewesen, so dass sie es aus Reflex einer anderen Quelle zugeordnet hatte. Es hatte eindeutig wütend geklungen und anfangs leise war es schnell lauter geworden, als wenn es sich mit großer Geschwindigkeit dem Hörer genähert hätte. Wie gebannt starrte sie auf ihr Telefon.
‚Was war das?’
Im ersten Moment überschlug sich ihre Fantasie dabei immer grausamere Horrorszenarien auszumalen. Schwarze Spinnen, so groß wie Küchentische, mit beharrten Beinen und unterarm langen Kauwerkzeugen, die Klaus mit schnürsenkeldicken Fäden in einen milchweißen Kokon einwob, während er vom Gift gelähmt bei vollem Bewusstsein die Tortur über sich ergehen ließ.
Sie rief sich aus ihren Gedanken zurück. Dies war die Realität und nicht einer ihrer Lieblingsfilme. Wahrscheinlich war das nur ein Fehler in der Verbindung gewesen. Störungen, die seine Stimme leiser machten und merkwürdig bis zu Unkenntlichkeit verzerrten, und die zum Schluss ein Zischen verursachten. Sie selber kannte sich zwar damit nicht aus und hatte so etwas auch noch nie erlebt, aber sie hatte gehört, dass es beim Internet häufig Fehler bei der Verbindung gab. Warum nicht auch beim Telefon?
Trotz der beruhigenden Gedanken saß der Schreck tief in ihr. Selbst die Gänsehaut wich nicht von ihr.
Sie ging zurück in die Küche, doch sie konnte sich nicht überwinden weiter zuessen. Der Appetit war ihr gründlich vergangen.
Sie ließ sich ein Bad ein, wie sie es sich schon auf dem Heimweg vorgenommen hatte, und stellte das Telefon neben die Wanne. Vielleicht würde der Fehler gleich behoben sein und Klaus ruft noch mal an. Sie sprach es laut aus, wie eine Beschwörungsformel. „Bitte ruf an.“ Erschrocken über das Zittern in ihrer Stimme verstummte sie wieder.
Sie zog sich aus und legte sich in die Badewanne, doch sie konnte sich in dem warmen Wasser nicht entspannen. Während sie vor sich hin starrte, liefen weitere Folgen von „Klaus’ Monsterparade“ vor ihrem inneren Auge ab. Hässliche, schleimige Kreaturen mit beliebig vielen Armen und Beinen, manchmal Menschenähnlich, die Klaus wahlweise zerrissen, auffraßen, mit Schnittwunden übersäten oder in kleine Würfel zerteilten. Ihre letzte Vision zeigte einen über vier Meter großen Mehlwurm, aus dessen eitrigen Wunden, die über den gesamten Körper verteilt waren, kleine Maden krochen. Klaus lag in der Mitte seines Wohnzimmers auf dem Boden in einem Heptagramm gefesselt. Die Maden fielen auf Klaus, bohrten sich in seine Haut und fraßen ihn von innen auf. Doch eins hatte alle Kreaturen gemeinsam: Sie zischten unentwegt, dieses Zischen, was ihr immer noch in den Ohren klang.
Sie würde Klaus sofort anrufen, wenn sie aus der Wanne raus war, bevor sie sich noch selber verrückt machte.
Ein Knarren unterbrach ihren Gedankenfluss. Sie hatte die Badezimmertür nur angelehnt, nun schwang sie langsam auf. Aufkeimende Panik ließ sie hektisch den Raum absuchen. Sie brauchte etwas Großes, Hartes, eine Waffe, mit der sie sich wehren konnte. Ihr Blick fiel auf den Blumentopf auf der Fensterbank gegenüber der Wanne. ‚Zu weit weg.’, schoß es ihr durch den Kopf. Da schlug die Tür auch schon gegen den Stopper und Bert sprang auf den Wannenrand.
„Bin ich froh, dass diesmal DU mich erschreckt hast.“ Die Erinnerung ließ ihr einen weiteren kalten Schauer über den Rücken laufen. „Jaja, ich weiß, ich sollte nicht mehr so viele halb-elf-Filme sehen. Na, ist die Milch schon wieder durch? Ich gebe dir gleich was.“
Ihre Erleichterung war nur gespielt, ein Versuch sich selber zu beruhigen. Ein ungewollter Blick glitt durch den Türrahmen, suchend nach dem Monster ihrer Träume. Im nächsten Moment ärgerte sie sich darüber.
Sie stieg aus der Badewanne und trocknete sich hastig ab. Nur halb angezogen gab sie Bert Dosenfutter und ging danach zum Telefon.
Bedächtig trug sie es in den Flur zurück. ‚Was ist, wenn er nicht dran geht? Was ist, wenn ES dran geht?’
Die Lächerlichkeit ihres letzten Gedankens bewog sie dazu, endlich seine Nummer zu wählen. „<Tut>... <Tut>... <Tut>“ „Na los, geh’ schon dran.“, entfuhr es ihr. „<Tut>... <Tut>“ Nervös fing sie an mit der weißen Stoffmaus zu spielen, die als Dekoration auf dem kleinen Schränkchen saß. „<Tut>“ Ihr fiel ein, dass sie die Maus von Klaus geschenkt bekommen hatte. Als hätte sie sich verbrannt, zog sie ruckartig die Hand zurück. Dabei fiel das Plüschtier auf den Boden. Mit dem Blick auf es gerichtet, hörte sie: „<Tut>, <Klick>, Hallo. Dies ist der Anschluss von Klaus Berger. Ich bin wohl gerade nicht zuhause. Bitte hinterlass mir eine Nachricht.“
Nach dem obligatorischen Piepton fing sie hastig an zu sprechen: „Hi Klaus, ich bin’s, Petra. Ich glaube, du hast vorhin versucht mich zu erreichen... Ruf mich an, wenn ...“
Sie wurde unterbrochen von einem unharmonischem Klicken, Knacken und Rauschen. Und dann ertönt das Besetzt-Zeichen. ‚Was soll das denn jetzt?’ Wenn schon nicht mit Übertragungstechnik, so kannte sie sich zu mindestens mit Anrufbeantwortern gut aus. Da musste jemand manuell die Aufnahme abgestellt haben.
Sie war sauer. Stinksauer. Wütend hub sie den Hörer auf die Gabel und stampfte ins Wohnzimmer. Bert floh erschrocken und sprang mit einem Satz auf seinen Kletterbaum. Sie ließ sich in ihren Sessel fallen.
‚Was soll das? Will der mich verarschen? Psychospiele mit der Horrorfanatikerin, stark, gib mir mehr! Sitzen wahrscheinlich zu dritt bei ihm mit Bier in der Hand (oder Fanta?) und freuen sich `nen Ast. Erst komische Geräusche machen und dann unerreichbar sein. Jaja, aber vergessen den AB abzuschalten. Ich habe euch durchschaut. Sehr lustig, Ha! Ich kann das Lachen bis hier hören: Andreas mit seinem Schalke-Käppy, Jörg mit seiner großen Fresse in der Mitte und ... Klaus? Wieso Klaus? Er hat doch noch nie bei so etwas mitgemacht. Er ist immer so lieb und gefühlvoll. Nein das glaube ich nicht. Ich werde das jetzt klarstellen!’
Mit diesem festen Vorsatz lief sie in den Flur, zog sich die gefütterten Schuhe an, schnappte sich Mantel und Schal und verließ die Wohnung.
Auf der Straße blies ihr ein eiskalter Wind entgegen. Es hatte aufgehört zu schneien, dafür war die Temperatur noch um ein paar Grad gefallen.
Bis zu Klaus waren es nur drei Querstraßen, daher verzichtete sie auf ihr Auto. Wahrscheinlich würde ihre alte Karre bei diesem Wetter eh nicht anspringen. Der knöcheltiefe Schnee ließ, angestrahlt von den Laternen, die Welt in einem freundlichen Licht erstrahlen. Doch ihre Stimmung besserte sich dadurch kein bisschen. ‚Denen werde ich es schon zeigen!’
Je näher sie der Wohnung kam, desto mehr meldete sich die Angst zurück. Vielleicht wahr ihm etwas passiert und er hat versucht auf sich aufmerksam zu machen.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Als sie das Haus erreichte, sah sie hinauf. Alle seine Zimmer waren hell erleuchtet, jedoch konnte sie durch die Gardinen nichts erkennen. War doch alles in Ordnung, und sie würde sich nur lächerlich machen, wenn sie jetzt schellte? Nein, nun war sie schon so weit gelaufen, da würde sie auch der Sache auf den Grund gehen.
Sie trat an die Haustür und fand zielsicher den richtigen Klingelknopf. Einen Moment verharrte ihr Zeigefinger darüber. Was sollte sie sagen, wenn er sich ganz normal meldete? Dann drückte sie. Keine Reaktion. Es fielen wieder ein paar Schneeflocken. Diesmal drückte sie den Finger länger auf den Knopf. Immer noch nichts.
Er musste das sein, sonst hätte er das Licht ausgemacht. Nun übernahm es ihre Sorge um ihn ihr die schlimmsten Visionen vor Augen zu führen.
Wie er da lag mit einem Hexenschuss oder im Bad ausgerutscht und sich dabei den Rücken verknackst (gebrochen?) hat. Bei dem Versuch an Telefon zu gehen das Kabel aus der Wand gerissen, vielleicht ist ihm noch der Apparat auf den Kopf gefallen.
Sie musste da hoch, sofort. Sie musste ihm helfen. Sie klingelte zwei Knöpfe tiefer. Ein langgezogenes „Ja?“ ertönte von einer kratzigen Bassstimme aus der Gegensprechanlage.
„Guten Tag Herr Beyer. Ich bin’s, Petra. Können sie mich wohl herein lassen? Ich will Klaus überraschen.“
„Aber sicher.“
„Danke.“
Sie zog schon an der Tür, bevor der Summer ertönte und hechtete die Treppe hoch. Unterwegs überlegte sie, wie sie die Tür aufbekommen sollte. Vielleicht hätte sie den Hausmeister doch von ihren Befürchtungen erzählen sollen, auf die Gefahr hin sich zu blamieren. Sie hatte gehört, wie man Türen mit Kreditkarte öffnen konnte, war sich aber nicht sicher, ob sie das auch schaffen würde.
Doch es blieb ihr erspart: Die Tür war nur angelehnt.
Sie bleib einen Moment stehen und atmete tief durch, bis ihr Puls sich einigermaßen wieder beruhigt hatte.
„Sport statt Horrorfilme würde mir gut tun.“, sinnierte sie, dann war ihre Aufmerksamkeit auf die Tür gerichtet. Vorsichtig schob Petra sie auf und blickte den Gang entlang, der ins Wohnzimmer führte. Die Tür dorthin stand offen.
„Klaus?“ Ihre Stimme zitterte und war bei weitem nicht so laut gewesen, wie sie es beabsichtigt hatte. Sie betrat die Wohnung und schloss reflexartig die Tür hinter sich. Die Badezimmertür zur linken des Flurs war geschlossen, jedoch nicht verschlossen, wie sie mit einem kurzen Blick auf den weißen Punkt unterhalb der Plastikklinke erkannte. Sie ging weiter und öffnete die Wohnzimmertür. Der Anblick war so vertraut wie immer: das 3-er Sofa, der Ohrensessel, gegenüber der Fernseher in der Schrankwand, in der Mitte der kleine Glastisch, links der Durchgang zur Küche, rechts die Tür zum Schlafzimmer, ... Nur das Telefon fehlte, und Klaus.
„Klaus?“ Ihre Stimme war wieder fester geworden, dafür konnte man ihre Nervosität deutlich heraus hören. Sie schaute in die Küche, fand ihn auch dort nicht und trat zur Schlafzimmertür. Vorsichtig klopfte sie an. Für sie war das Schlafzimmer ein wichtiger Teil der Privatsphäre. Sie hätte es nie ohne Erlaubnis betreten, genauso wie sie erwartete, dass man sie vorher fragt.
Als sie keine Antwort hörte, öffnete sie die Tür, betrat den Raum jedoch nicht. Das war auch nicht nötig, denn jetzt sah sie ihn. Vor dem Fußende seines Bettes auf einem roten, runden Teppich kniend, wandte er ihr seinen Rücken zu. Er schien nichts gehört zu haben, denn er regte sich nicht. Stumm schien er in einem Gebet versunken zu sein.
Das Letzte was Petra wahrnahm, war der Teppich, der niemals ein Teppich gewesen war, sondern Klaus Blut.
Der Kommissar betrat die Wohnung und wandte sich zielstrebig an den Polizeiinspektor, der im Wohnzimmer stand. Aus dem Schlafzimmer zuckten ab und zu ein paar Blitze aus einem Fotoapparat.
„Bericht.“, bat er müde.
„Der Mann wohnte hier, ihm wurde die Kehle durchgeschnitten. Die Frau schien eine Freundin gewesen zu sein, aber keine feste Bindung. Ihr wurde der Hinterkopf zertrümmert, wahrscheinlich mit einem Baseballschläger. Sie liegen Beide friedlich nebeneinander im Bett.“
„War es wieder das gleiche Schema?“
„Ja, sie war die erste Nummer in seinem Adressbuch.“
[ 28.04.2002, 17:36: Beitrag editiert von: Jack Lyric ]