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Peter von Gunten ist jetzt reif
Peter von Gunten ist jetzt reif
Seit dem gestrigen Abend ist der zwanzigjährige Peter von Gunten ein reifer Mensch. Da hat er nämlich vom Rektor das Maturazeugnis erhalten, in dem steht, er habe die Reifeprüfung erfolgreich bestanden. Und Peter hat das schon in der ersten Nacht festgestellt, ihm ist nicht entgangen, dass seine Träume eindeutig an Reife gewonnen haben. Jetzt sitzt Peter von Gunten stolz im Bahnhofsbistro an der Bar. „Ich bin ein reifer Mensch, und darum bestell ich jetzt ein Glas Rotwein, denn in vino veritas, und nur wer reif ist, kann die Wahrheit verstehen“, erklärt er dem Kellner, einem höchst unreifen Menschenwesen. „Du und reif, dass ich nicht lache “, fährt ihm ein unrasierter Bauarbeiter vom Tresen an den Karren. Eine widerliche Bierfahne schwappt Peter ins Gesicht. Aber Peter, der Reife, lässt sich nicht unterkriegen, das hat er schliesslich in der Schule so gelernt. Selbstbewusst greift er in seine Jackentasche und hält dem besoffenen Bauarbeiter sein Zeugnis unter die Nase. „Bitte sehr, hier steht’s schwarz auf weiss geschrieben: Peter von Gunten ist ein reifer Mensch. Und jetzt nimm ich den Zug und fahr an die ETH. Und künftig erweisen Sie einem reifen Menschen wie mir mehr Anstand und Respekt, ist das klar?“ „Ich bin tief beeindruckt und es tut mir sehr leid, wenn ich Hochwürden beleidigt habe“, flüstert der Bauarbeiter und zieht Leine. Peter aber ist stolz. Er hat seinen ersten Sieg errungen.
Im Zugwaggon muss Peter von Gunten lange suchen, bis er einen ihm an Reife würdigen Sitzplatz gefunden hat. Erst eine ältere, vornehm gekleidete Dame (ihr Haar zeugt unverkennbar von Weisheit) scheint ihm ebenbürtig. „Guten Tag, mein Name ist Peter von Gunten und ich bin ein sehr reifer Mensch. Ist dieser Platz noch frei?“, spricht er die ältere Dame höflich an. Ein kurzes Kopfnicken, das er als Zusage auffasst, lässt ihn Platz nehmen. „Wenn ich mir die Frage gestatten darf“, meint die ältere Dame Augenblicke später, „wie reif sind Sie denn, junger Mann?“ „87 Punkte“, antwortet Peter von Gunten wie aus der Pistole geschossen und macht grimmige Miene, denn sein Erzfeind hatte auch 87 Punkte, aber das war ungerecht, denn es war erwiesen, dass die Schulen in der Stadt ein viel schlechteres Bildungsniveau auswiesen. „Dann bist du aber ein sehr reifer Mann“, lobt die ältere Dame, und Peter von Gunten errötet. „Wissen Sie, ich bin zwar sehr reif,“ und zeigt ihr mit vielsagendem Blick sein Maturazeugnis, „aber ich kenne jemanden, der noch zwei Punkte reifer ist als ich.“ „Wie bescheiden!“, ruft die ältere Dame entzückt und lädt Peter von Gunten (der noch bescheidener entgegnet, dass dies eben ein Ausdruck von Reife sei) voll Übermut in den Speisewaggon zum Mittagessen ein.
Eine Woche später steht Student von Gunten wieder an der Bar im Bahnhofsbistro, zur selben Zeit, vor demselben Weinglas. Seit seinem ersten Tag an der ETH verkehrt Peter von Gunten nur noch in reifsten Kreisen. Und er hat ein neues Berufsziel: Er will Professor werden. Der grosse Rest, der vulgus, ist für ihn, den Reifbürger, Luft, denn die Menschheit hat schon immer eine reife Schicht benötigt, die die Geschicke der Unreifen in die Hand nimmt und sich klar von ihnen abgrenzt. Genau, und um seine Reife gewissermassen wie ein weisses Hemd rein zu halten, muss man mit allen Mitteln verhindern, dass sie mit Unreifem beschmutzt wird, ist Peter von Gunten überzeugt. Peter ist mittlerweile auch ein erfolgreicher Unternehmer: Er hat den Treffpunkt 80plus gegründet, ein Lokal, dass bereits kurz nach seiner Eröffnung zu den renommiertesten Adressen in der Region gezählt wurde. Nur Absolventen, die an den Maturitätsprüfungen mehr als achtzig Punkte erreicht haben und dies schriftlich belegen können, erhalten Zutritt. Maturanden aus der Stadt benötigen 85 Punkte. Drei Experten untersuchen die Zeugnisse auf ihre Echtheit. Betrug ist unmöglich. Und überdies kann Peter von Gunten Reifes von Unreifem wie kein Anderer unterscheiden.
Da donnert ein Zug durch den Bahnhof. Im Bistro rutscht eine Flasche reifsten Burgunders vom Gestell und saust hernieder. Der Bauarbeiter, zu unreif, um rechtzeitig das drohende Unglück abzuwenden, und der in seinem Suff drei Flaschen auf einmal sieht und sich deshalb für eine entscheiden muss, greift daneben. Peter von Gunten wird am Hinterkopf getroffen, stürzt zu Boden und ist auf der Stelle tot.