Mitglied
- Beitritt
- 18.05.2017
- Beiträge
- 6
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Peter Bach
Peter Bach
Wenn ich jetzt tough bin, hab ich die Stelle. Wieder eine Stelle. Die würden mich nehmen, ich riech das. Vorsicht, Peter, du musst jetzt die Kurve kriegen. Der Brillenmann mit der kleinen Nase sagt:
„Ihrem Lebenslauf entnehme ich, dass Sie in den vergangenen viereinhalb Jahren dreimal den Arbeitgeber gewechselt haben und nun seit fast einem Jahr ohne Arbeit sind. Sie werden verstehen, dass ich Sie nach dem Hintergrund fragen muss.“
Sie werden verstehen. Sicher. Das verständlich zu machen, ist eine Übung, die ist für mich schon Praxis.
„Ja, also, ich bin eigentlich nicht der Typ, der wechselt, ich meine, eigentlich fallen mir Wechsel schwer, wenn das Klima stimmt, aber das Klima, das ist für mich wichtig.“
Sie schauen mich an, schon mit Unmut.
„Und das hat nirgendwo gestimmt?“
„Doch. Schon. Bei der ersten Firma. Das war wie eine Familie. Aber die ist in Konkurs gegangen, tja, Pech.“
„Was macht denn für Sie ein gutes Klima aus?“
Ich schaue schwärmerisch über die Köpfe und aus dem Fenster, dann auf meine Schuhe. Mit der Antwort auf die Frage mach in den Sack zu. Danke, du luzides Mitglied der Personalkommission.
„Dass alle an einem Strang ziehen, dass sich einer auf den anderen verlassen kann, auch wenn man mal einen schlechten Tag hat. Dass nicht immer so ein Druck ist.“
„Tja, das wäre wirklich schön“, der Personaloberonkel klingt, als würde ihn seine gelbe Krawatte strangulieren.
„Danke. Wir danken Ihnen für das Gespräch. Sie hören von uns. Wir müssen um ein wenig Geduld bitten, es hat sich doch eine sehr große Zahl von Bewerbern auf die Stelle gemeldet.“
„Ja, vielen Dank, ich würde mich freuen, wenn es klappen würde.“
Natürlich würde es mich nicht freuen, in diesem beschissenen Laden zu arbeiten, und doch kann mir das Amt nichts nachweisen. Warum sollte es mich freuen? Seit ich ohne Job bin, geht es mir so viel besser. Früher habe ich gern gearbeitet, ich war damals nämlich „motiviert“, sogar „hoch motiviert“ und ich war in meiner ersten Firma eines der „high potentials“, einer, dem man alles zutraut. So wie ich mir selbst nach einem grandiosen Start. Schon nach vier Jahren Abteilungsleiter Verkauf, das hat vor und nach mir keiner geschafft. „Penetration“, so hieß meine Aufgabe, „Marktpenetration“, geil war das. Bewunderung und Neid jede Menge, ich habe beides gut verkraftet, damals. Mein Karrieretraum so einfach: mit Volldampf in Richtung Vorstand. Und als Abteilungsleiter mit fast 150 Leuten in meiner Division stand ich kurz vor dem Ziel. Wie motiviert man seine Leute? Indem man selbst motiviert ist, indem man sie alle zu Kriegern macht, indem man einen Feldzug startet. Unsere gute, gerechte Sache wird siegen. Die Welt braucht unsere Phones. Ich war stolz, wenn ich jemanden traf, der eines unserer Geräte benutzte. Aber der Glaube hatte flache Wurzeln. Ich war erfolgreich, solange ich ein Freak war. Man sollte nur für sich kämpfen, dann kämpft man für einen lebenslang bleibenden Wert. Loyalität heucheln und die Schäfchen ins Trockene bringen. So hätte ich es auch machen sollen. Vielleicht hätte ich es dann noch länger geschafft, mich und die anderen mitzureißen. Aber die Arbeit verwandelte sich in einen Feind, bekam Heißhunger auf mich, ließ mir immer weniger Raum, wurde total. Wollt ihr die totale Arbeit? Uferlos, atemlos, als wenn es um Leben und Tod ginge. Aber darum ging es auch, um Leben und Tod der Firma. Zehn Prozent Marktanteil waren der Tod, dreizehn Prozent das Leben, ab fünfzehn Prozent hätte der Himmel begonnen – wenn die Preise nicht nachgaben, wenn die Zulieferer bei der Stange blieben, wenn die Forschungsabteilung Nachschub für die nächste Schlacht lieferte, wenn zwanzig Prozent nicht besser als fünfzehn gewesen wären. Am Ende hingen wir bei fünf Prozent. Habe ich nicht meine Pflicht erfüllt, indem ich Jahre meines Lebens Blut geschwitzt habe, immer bessere Phones immer billiger zu verkaufen? Heute gehe ich in den Supermarkt und kaufe mir billiges Bier. Was weiß ich, wessen Blut dafür geschwitzt und vergossen wurde? Was weiß ich von den Marken, die nach verzweifelten Kämpfen aus dem Regal vertrieben wurden? Hauptsache, es schmeckt und es funktioniert. So sehen wir es doch alle – und so sehen wir die Sache richtig. Wir laufen hintereinander her und jeder hält dem nächsten eine Waffe in den Rücken. Treiben und getrieben werden. Wo ist der Ausgangspunkt der Bewegung? Eine ehrliche Arbeit, um ein nützliches Mitglied der menschlichen Gemeinschaft zu werden, so hat es früher in den Schulbüchern geheißen. Immer noch eine gute Idee. Wer aber macht heutzutage nützliche und ehrliche Arbeit? Die Bauern? Die Handwerker? Die Ärzte? Die Buchhalter? Die Wasserwerker? Wer hat keinen Dreck am Stecken? Man wundert sich, dass bei all dem Misstrauen und der Gleichgültigkeit noch sauberes Wasser aus dem Hahn fließt. Ist es nur die Angst vor Strafe, die fürs Funktionieren sorgt? Das kann nicht die ganze Antwort sein. Damals war ich stärker, damals war ich kein Philosoph. Was heißt Philosoph? Ein langsamer Grübler, das bin ich geworden. Philosophen sind Professionelle, akademische Workaholics, sie leben in Konkurrenz der Hirne. Ich lebe jetzt von der Konkurrenz der anderen Hirne, trinke das billige Bier, das sie mir brauen, und glotze in den billigen Fernseher, den sie mir gebaut haben. Ich habe mit anderen Worten alles, was ich brauche. Damals habe ich eine Menge Geld verdient und eine Menge ausgegeben, einen Teil habe ich zur Seite geschafft, muss das Amt nicht wissen. Mit meinem kleinen, geheimen Schatz und dem kleinen Geld der hilfreichen Beitragszahler komme ich zurecht. Aus dem Netz hole ich die beste Musik. Sogar eine Bibliothek gibt’s noch in der Stadt, wie gemacht für Leute wie mich. Das ist ein Paradies, davon haben die Menschen jahrtausendelang geträumt. Wie barbarisch ich gewesen bin, als ich ganz in Arbeit aufging. Wie barbarisch es ist, keine Zeit zu haben. Jetzt bin ich ein kultivierter Parasit, der Heerscharen von Menschen für sich arbeiten lässt, wie ein Fürst oder Zinsenfresser. Der Staat kassiert bei den Arbeitssoldaten die Steuern ab und dann stellt er mit dem Geld neue Titel in die Ausleihe, dann jagt er Busse und Metros durch die Stadt, dann lässt er heißes Wasser aus der Dusche im Schwimmbad rauschen. Für mich und meinesgleichen – alles zum Parasiten-Sonderpreis. Und die Verachtung? Und der Status? Ich scheiß drauf. Und was ist es für ein Gefühl, ein Parasit zu sein? Ich sage: Parasiten sind keine Versager, sondern hochspezialisierte, ökologisch unverzichtbare Tiere. Zur Ökologie des Lebens gehören die Parasiten.
Dabei sehe ich nicht aus wie eine dicke Zecke. Ich pflege mich, ich bin – den Anspruch erhebe ich hoch in diese faulige Luft – sogar eine gediegene Erscheinung, wie man früher sagte. Schließlich habe ich mehr Zeit, meine Schuhe auf Hochglanz zu reiben, meine Fingernägel zu feilen und im Schwimmbad schnelle Runden zu drehen. Wer sonst ist Anfang vierzig noch so in Form? Ab und zu schreibe ich was, es fällt mir ungeheuer schwer, immer schwerer. Konsumkritik, das ist mein Thema. Hab dazu schon mal einen Beitrag veröffentlicht. Schreiben ist eine tierische Tortur. Ist es nicht verrückt, sich sechs oder sieben Monate für einen Roman zu quälen, wenn man sich an jedem Kiosk für zwei Dollar einen kaufen kann? Hat Mark Twain mal gefragt, zu Recht. Konsumkritik kostet nicht mal einen Cent, die gibt’s im Netz in beliebigen Mengen, ist längst selbst Ramschware. Ich schreibe, weil es meinen Status verbessert. Dann kann ich, wenn ich will, mein Parasitendasein verstecken und vermeiden, mit den Pennern in einen Topf geworfen zu werden. Manchmal ist es schon wichtig, den Unterschied zu betonen. Das Schreiben kommt vor allem bei den Frauen gut an. Das gibt mir ein wenig Aura. Aber noch wichtiger ist, dass ich Zeit habe für sie, ich höre ihnen zu, bei mir bleiben sie nicht vor einem abgespannten, Lass-mich-jetzt-bloß-in-Ruhe-Gesicht stehen. Ich bin kein Zombie, der am Ende eines nutzlosen Arbeitstages an ihnen vorbei zum Eisschrank schlurft. Ich bin für sie da – und dann sind sie auch für mich da. Die Frauen gehen nicht mit mir ins Bett, weil ich sie so scharf mache, sie legen sich zu mir, weil sie meine Geduld und mein Verständnis belohnen. Ihr armen Arbeitssoldaten, wenn ihr wüsstet, was hinter der Front in der Heimat los ist – aber ihr wollt es ja nicht wissen. Eine Menge Frauen sind ins Soldatenlager übergelaufen, sogar zu den Offizieren, nun auch in Schlachtpläne eingeweiht, im Kampf eingespannt. Und nun auch müde nach der Schlacht, nicht erreichbar. Aber die Vernünftigen haben ihr Engagement reduziert, die haben nicht diese stolz-glasigen Geheimauftrag-Augen, weil ihnen der Chef einen sensationellen kleinen Leckerbissen in Aussicht gestellt hat, sie sind nicht bereit, den Firmenmärtyrertod zu sterben, sie sind und bleiben nüchterne Wesen. Die Wahrheit ist eben eine Frau. Als Mann muss man älter werden, um so ein Leben auszuhalten – und dann zu genießen. Früher hätte es mich wahnsinnig gemacht, im Abseits zu stehen. Jetzt weiß ich, dass nicht ich was verpasse, sondern unsere Helden der Arbeit. Manchmal bin ich kurz davor, mich für meine Zufriedenheit zu schämen. Ich darf nicht zu dick auftragen, die Arbeitsoffiziere sind allergisch gegen die Zufriedenheit ihrer Parasiten, sie würden mich und meine Parasitenglaubensbrüderbrut jederzeit zertreten, zumindest in ein Arbeitslager werfen lassen. Sie sind allergisch gegen „die ganze Haltung“ durch die sie sich bedroht und verhöhnt fühlen, die sie brechen wollen. Ich bin ein gefährliches Vorbild, ein falscher Prophet, ein Defätist, der die Moral der Truppe aufweicht. Ich verstehe den Affekt, ich hatte ihn selbst. Im Kommunismus hätten sie mich wirklich längst ins Lager oder in die Psychiatrie gesteckt. Es ist schon eine Ironie, dass nur dieses System die Freiheit verschenkt, ihm nicht nur nicht zu dienen, sondern es obendrein zu schmähen – und dann noch von ihm zu profitieren. Morgen muss ich wieder zum Amt, um meinen „Berater“ zu sprechen, das ist allerdings Pflicht – wenn ich das Geld weiter will und das will ich. Ohne Geld geht es nicht. Das ist es, was die Welt zusammenhält, auch für mich. Auch meine kleine Welt braucht ein paar Tropfen von diesem wunderbaren Klebstoff.
„Guten Tag, Herr von Sambeck“, sage ich zu meinem Berater mit Schwung in der Stimme. Das muss man sich vorstellen, von Sambeck heißen und in so einem Amt als eine so kleine Nummer arbeiten. Wie hält der Mann das aus?
„Immer gut gelaunt, wie?“ Von Sambeck bekommt die kleinen, verächtlichen Lippen in seinem Hängebacken-Gesicht kaum auseinander. Er hasst mich, weil er weiß, was für ein Kunde ich bin, aber er hat nicht den Schatten einer Chance, mir einen Job zu verpassen.
„Ich hab heute was für Sie, eine Arbeit, Ihnen wie auf den Leib geschnitten, regelrecht ein Maßanzug. Setzen Sie sich doch.“
Von Sambeck schaut mich über den Rand seiner schwarzweißen Hornbrille an. Er wollte beweisen, wie unkonventionell und mutig er ist, aber er sieht mit dieser Brille aus wie ein schwabbeliger Clown.
„Wie auf den Leib geschnitten, eine abwechslungsreiche Aufgabe, Herr Bach.“
Was für eine ölige Stimme er hat und was für eine Ladung Verachtung er in meinen einsilbigen Namen packt. Unvorstellbar, was er mit längeren Namen anstellt.
Ich setze mich hin. „Sie machen mich neugierig, was ist es?“
„Hier, ein neuer, großer Verlag, er sucht einen junior relationship manager. Also auf Deutsch jemanden, der sich um die Kontakte zu den Händlern kümmert.“
„Hört sich super an“, sage ich voller Begeisterung „was Sie immer für mich finden, wann darf ich mich vorstellen?“
Von Sambecks Blick ist gesättigt mit Hass und Misstrauen, der Mann hat das Zeug zum Amoklauf. Warum arbeitet er bloß hier, gerade er würde am besten wissen, wie er das Amt bescheißt, aber sein Hirn ist für diesen Gedanken nicht bereit und wird es nie sein.
„Ich mache Ihnen einen Termin, ich rufe gleich an. Wenn das wieder ohne Ergebnis bleiben sollte, müssten Sie eine Qualifikation machen, weil Sie nun ein Jahr arbeitslos sind. Das sehen die Vorschriften so vor.“
Das ist neu und das hört sich nicht gut an.
„Was für eine Qualifikation?“
„Nun, zum Beispiel einen IT-Kurs, Sie werden umgeschult zum IT-Fachmann, da ist zurzeit wieder mal eine praktisch unbegrenzte Nachfrage.“
„Phantastisch, ist das denn auch was für meine Augen?“ Jetzt muss ich improvisieren, um dem Tod von der Schippe zu springen.
„Was ist mit Ihren Augen?“ Ich bin froh, dass von Sambeck unbewaffnet ist, ich habe wirklich Angst, er könnte die Contenance verlieren.
„Ach, ich dachte, das stünde in meiner Akte. Blau-Gelb-Schwäche und Verschiebung der Paralaxe um rund 12 Prozent, stärker als man durch eine Brille ausgleichen kann. Mehr als eine halbe Stunde am Bildschirm ist da nicht drin.“
Jetzt sieht Sambeck angegriffen aus. Als wenn man ihm das „von“ geklaut hätte. „Das habe ich nicht gewusst, über die Qualifikation sprechen wir noch. Ich mache Ihnen jetzt erst mal einen Termin bei dem Verlag. Haben Sie Ihre Handynummer noch? Ich rufe Sie an.“
„Danke, schönen Tag. Immer positiv denken, darauf kommt es an, haben Sie mir gleich am Anfang gesagt und ich halte mich dran. Sie bringen mich noch gut unter, das weiß ich.“
Von Sambeck ist erledigt, ganz müde, er sagt nichts mehr, er steht auf und geht aus dem Zimmer, das hat er noch nie getan, wo ist er hin? Egal, ich haue ab. Wieso gerade Blau-Gelb? Und was ist eine Paralaxe?
Ein Verlag, interessant. Welche Masche zieht da? Ich muss mich über den Laden informieren. Letzten Endes ist immer die kulturelle Frage entscheidend. Sind es Falken oder Tauben? Darauf kommt es an. Welchen Symbolen folgen sie? Glauben sie an die Macht oder an die Liebe? Wenn es Falken sind, gebe ich das Weltverbesserungsweichei und sind es Tauben, trete ich aggressiv auf wie ein Drill-Sergeant. Ich habe dem Wort Vorstellungsgespräch einen neuen Sinn gegeben. Ich kann das inzwischen fast hören, wie sich einer Personalkommission die Fußnägel aufrollen, wenn ich meine Nummer abziehe. Da kann die Papierform sein, wie sie will – aber so ein Typ wie ich, der passt einfach nicht ins Team, undenkbar. Was soll man da machen? Da kann man eben nichts machen, da kann man nur auf die nächste Chance warten, Und solange die Zeit gut nutzen. Am besten geht das bei Rosa Schnabel. Ein bescheuerter Name, aber eine göttliche Frau. Ihr Mann arbeitet die Woche über in einer erfreulich fernen Stadt, keine Kinder, gar nicht lange sind sie zusammen und doch ist der Hunger nach Verständnis und Geduld schon so mächtig. 10.15, 11.30, 12.24, 13.33 was soll es? Einfach miteinander liegen bleiben, wozu die Eile? Was hat die Männer so schnell gemacht? Die Gelegenheit nutzen und schnell weiter zur nächsten „challenge“. Da ist was schiefgegangen, jetzt so atemlos im Büro, immer in Bewegung, immer zappelnd, geile Geschäfte befruchten wollen und ausgerechnet für die Frau keine Zeit mehr. Rosa ist gut aufgelegt, sie reißt die Tür auf und zieht mich hinein. „Wir müssen uns heute beeilen, in einer Stunde geht mein Zug.“ Na gut, dann beeile ich mich heute eben. Wir kennen uns schließlich. Rosa hat so wunderbare Füße, eine unglaublich elegante Linie vom großen Zeh bis zur Ferse; und die Sohlen – so weich und schimmernd. Das ist selten, denn das kostet Pflege und Zeit. Man sollte mehr auf Füße achten, aber auch dafür hat kaum jemand Zeit. Immerhin passt das zusammen: Für das schnelle Gucken reichen Netzstrümpfe über die Schwielen oder noch besser: Licht aus, alles aus und bloß nicht nachfühlen. Doch heute haben wir eben wirklich keine Zeit. Zum Bahnhof bringe ich sie nachher lieber nicht. Wir dürfen nicht unvorsichtig werden. Außerdem hat Rosa eine prima Musikanlage.
Aber von Sambeck ruft mich an, als ich gerade den Kopfhörer aufsetzen will, Sambeck, der störende Clown. Er hat sich wieder gefangen, damit habe ich nicht gerechnet. Ob ich am Nachmittag zu dem Verlag gehen kann. Bildschirmarbeit spiele da gar keine große Rolle. Mir fällt nichts ein, ich sage ja, das ist eigentlich viel zu schnell. Um Gottes Willen, warum habe ich nur ja gesagt? Von Sambeck, der Hund. Geht das? So telephonisch? Von jetzt auf gleich? Wieso lässt er mich nicht in Ruhe? Hätte er mir nicht einen Brief schreiben müssen: „Sehr geehrter Herr Bach, bla, bla, bitten wir Sie am um in zu kommen.“ Aber ich habe „ja“ gesagt. Dumm, sehr dumm. Das Internet sagt: Der Verlag ist neu, aber er ist eine Fusion aus zwei großen Verlagen, das übliche Neusprech, content management, fokussieren, Synergien auf neue Art nutzen. Arschlöcher. Aber Tauben oder Falken? Was hat sich in der Auswahlkommission durchgesetzt? Ist es überhaupt eine Kommission? So schnell wird das nicht gehen, wahrscheinlich nur ein Gespräch mit dem Personalchef und noch jemandem. Vielleicht sollte ich einfach ein bisschen abwesend erscheinen, nur ein klein wenig, das ist unglaublich irritierend, wenn man auf eine Frage mit Verzögerung reagiert, nicht weil man dann mit der besten Antwort rauskommt, sondern weil man mit den Gedanken ganz woanders war. So einen stellt man nicht ein, der ist seltsam, der hat genug mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen, der kann niemals unsere heilige Mission erfüllen, der kriegt den Marktanteil keinen Zentimeter hoch. Das versuch ich, ist zwar riskant, so eine neue Nummer ohne sorgfältige Vorbereitung, aber was soll ich machen?
Versenkt. Die nehmen mich nicht. Antwortverzögerung, eine furchtbare Waffe, sollte ich mir patentieren lassen. Aber ihr Einsatz hat mich selbst mitgenommen. Jetzt fühle ich mich so kaputt, wie ich erschienen bin. Vielleicht ist die Wirkung so stark, weil es um einen Verlag ging, da wollte ich arbeiten, als ich sehr jung war, das prägt, aber dann hab ich bei den smarten Phones die dicke Kohle bekommen. Jetzt fühle ich mich wie ein Versager, hat sich versagt, der Herr Bach. Das schwächt. Gefährlich, solche Termine, bei denen mein Körper immer noch die alte, tödliche Versuchung zum Erfolg spürt. Jetzt erst mal Pause, Ruhe, Stille. Ich muss mich setzen, in ein Café. Cafés, das sind die letzten Refugien der Menschlichkeit, oder sie waren es einmal. Viele neue Cafés haben hohe Bänke mit kurzen, schräggestellten Sitzflächen, damit man sich nicht halten kann und schnell wieder verschwindet, denn es gibt keinen Umsatz mit Fettärschen, die sich auf richtigen Stühlen vor einer Tasse Kaffee stundenlang festsaugen. Ein altes Café kenne ich, hier in der Nähe, aber nicht weit vor der Schließung, denn die beiden Schwestern, die es betreiben, werden bald nicht mehr können. Braun und grau und ruhig ist es hier, ein Duft, der unbezahlbar ist: Kaffee von dreißig Jahren, die letzte Zigarre von Ludwig Erhard, Kaffeetantenkölnischwasser und die Ragouts – jetzt aus der Mikrowelle, Zeitungen in runden Holzröhrenfächern und eine dicke, alte Bedienung mit Brille, kein cooles Girl. Das ist die Rettung. „Einen Kaffee bitte und einen Windbeutel.“ „Kommt, der Herr.“ Ich beneide die dicke Bedienung, obwohl sie es viel schwerer hat als ich. Aber sie hat es auf einfache Weise schwerer. Sie hat es einfach nur schwer. Sie ist dick, hat wenig Geld, quält sich jeden Tag herum mit was weiß ich, mit ihren Knien, mit ihrem Mann, dem Vermieter, den alten Schwestern – und trotzdem. Mein Gott, war ich nicht heute Morgen noch zufrieden und satt? Und jetzt glotze ich voll Selbstmitleid der dicken Bedienung hinterher, wie sie wieder auf ihren Stuhl sackt, sich mit heruntergezogenen Mundwinkeln eine Lesezirkel-Illustrierte mit ausgewaschenem Umschlag greift und sich in ein Kreuzworträtsel vertieft. Das ist es, was ich beneide: die heruntergezogenen Mundwinkel, die Unbewegtheit. Diese Frau ist ein Panzer und sie bleibt selbst auf dem Schrottplatz noch ein Panzer, stark, geschlossen und groß. Sie bringt mir den Kaffee und einen breiigen Windbeutel und kümmert sich einen Scheiß um mich, sie wird nur sauer sein, wenn ich ihr kein Trinkgeld gebe. Aber sonst gebe ich ihr keinen Anlass zum Nachdenken, nur ihre dicken Beine werden ihr wichtig sein oder die alten Schwestern mit dem Pagenschnitt, die missbilligend zu ihr rübersehen, weil sie nicht gleich aufsteht, nun, wo ein Kunde erkennbar schon bereit ist, was zu bestellen. Mit ihren Chefinnen hat sie Stellungskrieg, aber sie weiß, dass sie nichts riskiert, schon x Jahre geht das so und die Alten werden es nicht wagen, sie rauszuschmeißen. Wie sollten sie eine neue Bedienung suchen? Den Stress halten sie nicht aus. Und selbst wenn, irgendwie wird’s weiter gehen. So ein Panzer müsste man sein, nicht ein Nervenbündel wie ich. Dann wäre eigentlich egal, was man macht. Für Nervenbündel wird die Welt immer zu aufdringlich, eine Zumutung. Überempfindlich, beim kleinsten Geräusch die Zeiger im roten Bereich, übersteuert. Verdammt, wie mich diese Verlagsärsche aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Die Tour versuch ich nicht mehr. Nur noch Falke oder Taube, das kann ich, aber nie wieder die Masche mit der zu späten Antwort. Mach es gut, alter Panzer, halte Kurs. Was weiß ich, wie es wirklich in Dir aussieht? Vielleicht alles vollgepackt mit sensibelster Elektronik, Frühwarnsystemen, 360 Grad Radars, Echoloten und Frequenz-Scannern – und sich dann auch hier im Café versteckt, damit die Zeiger nicht verrücktspielen.
Meine Wohnung ist klein. Seit ich ohne Arbeit bin, muss ich sparen. Aber die zwei Zimmer sind genug, ich habe, was ich brauche. Das Amt zahlt mir einen Zuschuss zur Miete. Männer mögen Wohnungen ohne diesen ganzen Kram, der sie wohnlich machen soll und doch nur nervt. Bei mir gibt es keine Kunstholz-Bilderrähmchen, keine Bodenvasen, keine buntbemalten Gipshähne und Wattepadsdöschen. Ich habe nicht einmal einen Esstisch. Wozu? Niemand kommt mich besuchen. Mir reicht mein Sessel. In dem lese ich, esse ich, gucke ich fern und hole mir – in immer größeren Abständen zugegebenermaßen – vor dem Bildschirm einen runter. Mir reichen mein Sessel, mein Bett und mein Schrank. Es kostet Disziplin, diese Leere zu erhalten. Selbst eine so arme Socke wie ich, ist ständig bedroht, selbst bei mir drückt der Müll auf die Wohnungstür. Im Baumarkt gab es einen Set Beistelltischchen, der mich mit seinem unfassbar niedrigen Preis überrumpelt hat. Jetzt stehen drei Tischchen neben dem Sessel und an der Wand, hochgestapelt mit Büchern und alten Zeitungen. Eine Niederlage, die ich beim nächsten Sperrmüll in einen Nachholsieg verwandeln werde. Doch ich will nicht heucheln, mehr Geld wäre gut. Sehr viel mehr Geld, Millionen am besten. Dann brauchte ich von Sambeck nicht mehr zu bescheißen, dann könnte ich mehr reisen und nur noch Taxi fahren. Aber dringend ist das nicht. Rosas Füße sehen, das ist dringend. Morgen sind sie wieder da.
Da sind sie wieder, zurück von ihrer dienstlichen Reise. Rosa macht Öffentlichkeitsarbeit für eine Pumpenfirma. Ungewöhnlich bei einer Frau. Pumpen sind was für Holzkopfmänner, aber Rosa kennt sich mit Technik aus. Wenn wir im Bett sind, macht sie dumme Witze über meine „kleine Pumpe“, die sie in ihren Katalog aufnehmen will, als einzige mit variabler Größe. Solche Späße machen nur Frauen, Männern ist es viel zu ernst, wenn es um ihr Ding geht, das ist heilig, jenseits aller Scherze. Rosa hat sich noch nicht angezogen, sie ist gerade mit dem Frühstück fertig, ihr Mund schmeckt nach Kaffee und Honig. Es ist schön, bei Rosa zu sein. Was ist mit deinen Füßen, Rosa? Rosa hat merkwürdige Strümpfe an. Zieh die Strümpfe aus. Rosa lacht. Geht nicht. Warum? Sind vom Arzt, muss ich anlassen. Was hast Du? Einen Ausschlag. Ach so. Rosa will weiter machen, sie zieht mich aufs Bett. Nackt mit Strümpfen. Wieso hat sie die nur an? Sind die von innen beschichtet? Rosa ist das sicher egal, sie ist gut in Fahrt, aber ich nicht, ich bin auf null, an die Wand geknallt. Ich kann nicht weiter machen. So geht das nicht. Was ist los? Jetzt hat Rosa es gemerkt. Was soll ich ihr sagen? Ich liege auf dem Rücken, ein Kissen auf dem Bauch, und nichts tut sich. Das hat es mit Rosa noch nie gegeben. Was ist los? Sind es die Strümpfe? fragt sie. Ich sage nichts. Sie sagt: „ARSCHLOCH, was kann ich dazu? Mach doch die Augen zu, wenn’s Dir nicht gefällt.“ Okay, Rosa, Du hast Recht. Tut mir leid, ich weiß auch nicht, ich hatte gestern einen Termin, bei einem Verlag, seitdem bin ich irgendwie aus dem Gleichgewicht. Rosa hat Verständnis, aber sie ist indigniert. Am besten ginge ich, aber wie den Abgang plausibel hinlegen? Bücher? Ich erzähle ihr über einen französischen Film, den ich gesehen habe, aber es bleibt unter der Glasglocke. Gefasel. Ich muss los, Rosa, ich habe noch einen Vorstellungstermin um zwei, mach’s gut, ruf mich an, wenn Du wieder Zeit hast. Ja, gut. Eine Umarmung. Ach, Rosa, was soll ich sagen? Ich bin weg.
Die verdammten Strümpfe, grau-blau und viel zu eng mit irgendeinem bescheuerten Medizin-Text aufgedruckt, da ist mir das Blut weggesackt, ist doch verständlich. Hätte Rosa auch verstanden, aber ich hab’s ihr nicht gesagt, wir hätten drüber lachen können. Warum haben wir nicht drüber gelacht? Jetzt kann ich sie doch nicht übermorgen wieder anrufen und sie fragen: Sag mal, Rosa, hast du diese Strümpfe noch an? Keine Stelle, eine Rosa, die sauer ist, aber ein gesichertes Parasitenleben. Und vorgestern noch so zufrieden! Was ist bloß mit mir los? Muss ich mir was Neues einfallen lassen? Wie wär’s, wenn ich an meine große Zeit als Autor anknüpfte und etwas in der Wochenendbeilage unserer Lokalzeitung unterbrächte? Sehr lustig, Herr Bach. Oder: Da beschloss ich, Politiker zu werden. Eine aufregende Variante für gescheiterte Existenzen. Aber ich kann mich ja nicht mal selbst anfeuern. Oder ich bewerbe mich im Fernsehen bei einer dieser Shows, das sind Tummelplätze für Leute, die sonst nichts Vernünftiges im Programm haben. Ich bleibe ein Jahr auf einer präparierten Insel und mobbe alle anderen weg. Nein, ich bin zu verkorkst, mich würden sie als ersten rauswählen. Dann eine Quizshow. Ich lese viel, ich weiß viel. Oh Gott, das ist doch alles völlige Scheiße! Ich darf so nicht weiter denken, das ist demütigend. Ja, ich hätte heiraten sollen, ich hätte meinen Job nicht verlieren sollen, ich hätte mit Steffanie oder mit Fausta Kinder haben sollen, ich hätte mir ein Lebens-Korsett bauen sollen, das mir Halt gibt und mir die Fragen vom Leib hält. Warum bin ich nicht mit meiner Italienerin zusammen geblieben? Mit der ich für immer zusammen bleiben wollte. Warum hat „immer“ nur 6 Jahre gedauert? Weil wir uns nichts mehr zu sagen hatten. Weil wir uns nichts mehr sagen wollten. Weil es uns zu anstrengend wurde, weil es sich nicht mehr lohnte, die Missverständnisse wegzuräumen und das Unverständnis darüber, wie der andere so denken und so fühlen konnte, wie er es tat. Unser Gespräch ist erloschen. Eine große, wärmende Flamme, die langsam kleiner wird, anfängt zu qualmen und zu stinken – und dann ausgeht.
Ich muss mich zusammenreißen, schwimmen gehen. Sport macht glücklich. Die besten Pausen sind die Erschöpfungspausen. Die ersten Bahnen noch Unglück, aber dann wird es heller im Kopf, kippt die Stimmung. Aber heute Morgen kippt nichts, nur ein wenig kaputter bin ich geworden. Ich habe einfach kein Programm. Wenn man kein Programm hat, wird man sich selbst zum Programm, das ist sehr privat, zu privat und das Niveau geht entsprechend runter. Die Leute arbeiten doch vor allem deshalb, damit sie wissen, was sie machen sollen, bis sie abends ins Bett sacken. Wo hab ich das gelesen? „Der Durchschnittsmensch, der nicht weiß, was er mit diesem Leben anfangen soll, wünscht sich ein anderes, das ewig dauern soll.“ Volltreffer! Unter der Dusche stehen bleiben, das heiße Wasser über Kopf und Rücken laufen lassen. Noch eine Minute, noch eine halbe Minute, noch ein paar Sekunden. Noch ein wenig länger, noch ein wenig länger, der freundliche Herr Staat zahlt für mich. So warm. Wo sonst finde ich diese Wärme, jetzt, wo es Winter ist? Ist das nicht von Hölderlin? Ich hätte nie in die Phonehölle gehen sollen. Die kleinen Bäche rinnen an meinen Beinen über meine Füße herunter auf die grauweißen Kacheln mit den mürben Fugen in den Abfluss. Weg sind sie. Ist sonst noch jemand im Duschraum? Gerade nicht, dann vergolde ich Bachs Bäche mit Goldstich, tut gut, da soll noch jemand sagen, ich bewirkte nichts. Vielleicht gibt es durch den Peter Bach Schmetterlingspisse-Effekt in einer Woche eine Sturmflut in Südhelgoland. Schon ist das Wasser wieder ganz klar und immer noch heiß, wieder den groben Druckknopf, noch mehr Wasser. Was mach ich nur mit Rosa? Ob ich mich bei ihr noch mal blicken lassen kann? Wird der Zauber der Ferne stärker als die Plastikstrümpfe und mein schlechter Abgang? Noch nicht. Mein Gefühl sagt mir: Peter, du hast erst mal verschissen bei Rosa. Was heißt erst mal? Wahrscheinlich für immer. Wäre mir auch zu wenig, wenn ich zu 80 Prozent zwei Füße wäre.
Andere Frauen? Andere Frauen. So viele Frauen. Die Blonde vorhin in dem schwarzen Badeanzug. Ich hab zu ihr rüber geguckt und sie hat so getan, als merkte sie nichts. Das Standardprogramm. Aber sie hat nicht – auch nicht für den Bruchteil der Sekunde – das Ekelgesicht gemacht, das sonst auch dazu gehört. Nur die Mindestverteidigung sozusagen. Wieso denke ich jetzt erst darüber nach? Ich bin ein Trottel. Ob ich noch mal ins Bad zurückgehe? Soll ich draußen auf sie warten?
Fünfzehn Minuten, ich friere mir den Arsch ab. Kommt sie überhaupt noch raus oder ist sie schon weg. Ich hab lange unter der Dusche gestanden, andererseits ist sie erst nach mir ins Becken gekommen und ihre Haare, die muss sie im Winter erst trocknen, bevor sie rausgeht. Was sag ich ihr überhaupt? So was Beklopptes habe ich noch nie gemacht, oder vielleicht mit siebzehn und hab es vergessen.
Da kommt sie, sie ist riesengroß, im Wasser konnte ich das nur ahnen, aber sie ist einen halben Kopf größer als ich und sie hat Raketenbrüste. Schöne blonde Engelslocken und ein Gesicht wie Michelle Pfeiffer, genau der gleiche Typ. Die Augen sind nicht ganz so weit auseinander und die Nase ist größer. Aber gut, sehr gut sieht sie aus, wieso habe ich sie mir bisher nicht genauer angeschaut? Sie war doch schon öfter hier. Haben mir Rosas Füße den Jagdinstinkt ausgetreten? Ich muss sie jetzt sofort ansprechen, gleich, wenn sie aus dem Eingang kommt, ich kann nicht neben ihr herlaufen und sie dann später von der Seite anquatschen.
„Entschuldigen Sie, wir waren gerade zusammen schwimmen.“
Das ist nicht besonders gut, aber mit dem richtigen Schwung und Ton vorgebracht. Sie schaut mich mit ihren Tweety-Augen an. „Ja?“
„Möchten Sie noch einen Kaffee trinken gehen?“
Sie scheint aus starkem Holz zu sein, überhaupt nicht überrumpelt oder auf Flucht aus.
„Ja, warum nicht, aber ich habe nicht viel Zeit.“
„Ich eigentlich auch nicht, das Café ist gleich hier vorne.“
Wir gehen nebeneinander los Richtung Café. Nach fünf Metern frag ich sie „Gehen Sie oft schwimmen?“
„Zweimal die Woche, normalerweise.“
Ihr Ton ist ziemlich hart, ich bin noch längst nicht mit ihr im Bett. Ich muss ganz herunterschalten, das wird ein breit angelegtes, zeitaufwendiges Manöver. Eine Lüge am Anfang kann nicht schaden:
„Ich wollte Sie schon oft einladen, aber ich hab mich nicht getraut, Sie anzusprechen.“
„Ach ja? Warum so mutig heute?“
„Weiß ich auch nicht. Muss was im Wasser gewesen sein.“ Na also, Bach, du bist immer noch ein Improvisationsgenie.
Jetzt sind wir im Café, eins von den schnellen Rutschbankcafés. Einen Vorteil haben die: Unverbindlicher kann ein Ort nicht sein, an dem man sich treffen und was trinken kann. Wir können jetzt an einem dieser randalierfesten, nobel verkleideten Steintischchen stehen, vier Minuten, uns unterhalten, und dann ohne einen störenden Ruck getrennter Wege gehen. Im Café T34 bei dem alten Panzer wäre das gleich Stühle rücken, Verlegenheit, eine Tragödie. Ich bringe Michelle den Kaffee. Ich nenne sie erst mal Michelle, vielleicht werde ich ihren Namen nie erfahren, dann ist es gut, wenn ich sie selbst getauft habe. Mich irritiert, dass sie nicht verlegen ist. Frauen sollten gehetzt wirken, wenn ein Mann sie jagt. Michelle nicht. Sie wirkt ganz ruhig. Oder spielt sie nur besonders gut? Aber sie rührt ihren Kaffee um, als sei ich gar nicht da. Sie ist wirklich verdammt groß. Ich muss ihr eine große Frage stellen: „Wie lange machen Sie das schon, regelmäßig schwimmen?“ Oh Gott, warum ist mir nichts Größeres eingefallen? Sie schaut mich mit ihren kühlblauen Augen an, wie Riesen-Tweety aus sicherem Käfig auf ein Miezekätzchen. „Ungefähr zwei Jahre.“
Während sie die drei Worte langsam spricht, wandert ihr Blick schnell und ungeniert über mein Gesicht. Ich werde rot wie ein Feuerkäfer. Seit wann bin ich nicht mehr rot geworden? Verdammte Scheiße, das alte, blinde Miezekätzchen hat sich eine ausgeruhte Löwin als Opfer ausgesucht. Das ist Stress, kalte Hände. Ihre Raketenbusen zeigen genau auf mich, wenn sie jetzt auf den Auslöser drückt, wird nur mein Kaffeelöffel übrig bleiben, den ich viel zu fest in der Hand halte.
„Wissen Sie, dass Sie wie Michelle Pfeiffer aussehen?“
„Was Sie nicht sagen.“
Meine erste und letzte Platzpatrone verschossen, ejaculatio praecox, so was ist per Definition unfreiwillig. Ich nehme meine Tasse und trinke. Ich setze die Tasse ab. Ich greife sie wieder, als hätte ich sie plötzlich entdeckt und trinke mit geheucheltem Hochgenuss, obwohl es mir fast die Zunge wegbrennt, blinzele, wage nicht, sie anzusehen. Kaffeegreifen / Kaffeetrinken, das ist das einzige Programm, das mein Hirn noch fährt, alle anderen sind abgestürzt. Blackout.
„Ich muss los“, sagt meine Michelle. „Vielen Dank, es war sehr nett.“
„Ja, fein.“ Ich sage „fein“, das ist nicht zu fassen. „Ja, fein“ – schon wieder – „vielleicht darf ich Sie, ich dachte, vielleicht möchten Sie, wenn Sie wollen, aber wenn Sie wegmüssen, sonst hole ich Ihnen gern noch einen Kaffee.“
„Nein, sehr nett, aber ich muss wirklich los. Danke.“
Sie dreht ab, sie geht, einfach so, in aller Ruhe. Warum auch nicht? Ist wirklich einfach, von so einer schrägen Bank und so einem schrägen Typen aufzubrechen. Nett hat sie ihn genannt. Frauen schätzen an einem Mann vor allem Humor, stand neulich wieder in der Zeitung. Habe ich, Michelle, habe ich im überreichen Maße, lass es mich dir zeigen. Seitdem die Raketen nicht mehr auf mich zeigen, richtet sich mein Hirn wieder auf. Da geht sie ab, ihre Raketen öffnen ihr leicht den Weg. Ich bin bei meinem milden Spitzenkaffee hocken geblieben, bald werde ich von der glatten Bank fließen, und sie ist weit hinten im Fußgängergewühl verschwunden. Weg. Was für eine schlechte Phase meines schlechten Lebens. Gar nicht mehr lustig ist das Parasi-hi-ten-leben, faria, faria, ho. Schluss. Widerlich auch der Kaffee, ich trinke gierig aus der leeren Tasse. So leer war eine Tasse noch nie. Ich bin frei. Frei von Rosa, frei von Arbeit, frei von Terminen, frei von Erfolg, frei von Verantwortung, frei von Tweety-Michelle. Ich nehme die leere Tasse, sie zittert in meiner Hand, gut, dass sie leer ist. Ich bin ein Zombie, ein Parasitenzombie, jetzt schwitzt er plötzlich wie ein Schwein, jetzt werden alle Augen auf ihn gerichtet sein. Raus hier.
Elf Tage vor Weihnachten und von Sambeck ruft mich an. Er hat mich jetzt auf dem Kieker. Seine Stimme klingt kälter, leiser. Schon wieder ein Angebot für mich. Als ob die Rezession vorbei wäre. Dann ist auch mein Parasitenbiotop bedroht. Morgen kann ich mich vorstellen. Smartphone-Branche, Boom in der Weihnachtszeit, sie stellen jeden ein. Au weia! Und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, das ist die einzige, oberste, heilige Pflicht, die mir auferlegt ist.
Von Sambeck hat Recht gehabt. Sie stellen jeden ein. Keine Chance auf irgendeine Tauben- oder Falkennummer. Nicht einmal eine Chance, den Kaputten zu spielen. „Großartig, Herr Bach, Sie kennen sich in der Branche aus und stehen schnell zur Verfügung, wie mir Herr Sambachs sagte. Geht das schon am Montagmorgen? Das wäre super. Wir brauchen dringend eine qualifizierte Kraft zur Unterstützung des Support-Teams, jemand der unsere Hotline organisiert.“
„Hotline? Damit hatte ich noch nie zu tun.“
Ich wirke dynamisch wie eine gefrorene Ente, ich fühle, dass ich reif bin für den Kochtopf. So ist es:
„Macht gar nichts, Herr Bach, macht überhaupt nichts, Sie kennen das Smartphone-Geschäft, Sie wissen, was für ein sensibles Produkt das ist. Die Leute kaufen was, mit dem sie sich gleichzeitig darüber beschweren können, ha, ha. Aber Sie sollen ja nicht telephonieren, Sie sollen dafür sorgen, dass unser Callcenter richtig arbeitet, Herr Bach.“
Ich schaue zitronensauer, aber der Typ, mindestens zehn Jahre jünger als ich, sieht mich gar nicht an. Verdammte Scheiße, der hat keine Ahnung, wie der Hase läuft, der glaubt an die Unterlagen des Amtes. Oder er hat mit von Sambeck gesprochen, auch wenn er seinen Namen nicht richtig behalten hat, und der hat ihn heiß gemacht, dass er mich unbedingt nehmen soll. Der Typ hat überhaupt kein Sensorium, der ist so auf Tempo, für den besteht die Umgebung nur aus verwischten Schemen. Na gut, Jüngelchen, wirst schon sehen, wen du da auf die Schnelle eingekauft hast. Jetzt springt er auf, lässt seine heiße, trockene Hochgeschwindigkeitshand auf mich losspringen: „Wunderbar. Bis Montag, Herr Bach, ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit.“ Er betont das „freue mich“ so, dass ich fast glaube, dass er sich wirklich freut. Unglaublich. Das muss man können. Ob er schon so geboren wurde, oder ob er sich das antrainiert hat? „Ganz meinerseits“, sage ich und freue mich nicht. Egal, er merkt nichts. „Die Begeisterung kommt beim Arbeiten, da bin ich sicher, Herr Bach“, sagt er plötzlich und schaut mich tatsächlich kurz an. Verdammt. Wenn ich nur wüsste, wie von Sambeck ihn bearbeitet hat. Ich kann es nicht glauben, sie haben mich erwischt, aus meiner Parasitenhöhle herausgezogen. Welcome back, Peter Bach – diesmal in der Welt der Hotline-Optimierer.
Sechs Leute bilden mein Hotline-Team. Sechs Frauen. Das ist allerdings heiß. Am Montagmorgen bin ich zur Stelle, sogar pünktlich. Unmenschlich dunkel, kalt, wie lange bin ich nicht so früh aufgestanden? Das Callcenter ist ein flacher Raum ohne Fenster, ganz in graublau, mein Büro ist hermetisch durch ein Tischchen und einige Pflanzen von den anderen abgetrennt und großzügige viereinhalb Quadratmeter groß. Drei Schichten gibt es, vier Stunden lang jede. Und ich soll noch drei Leute einstellen. Meint es das Schicksal wieder gut mit mir? Meine schönste, fürstliche Aufgabe – besteht sie etwa darin, darauf zu achten, dass die Headphones gerade auf den Köpfen sitzen? Nein, die wichtigste Aufgabe heißt: Möge er die Beratungsperformance dieses Centers verbessern. Beschwerdeanrufe, Beschwerdemails, aber eine Reihe Kunden hat sogar geschrieben, jawohl, geschrieben. Briefe, Schneckenbriefe an die Firma. Wie sauer muss man sein, um eine Schublade aufzumachen, Papier herauszuholen, einen Stift in Bewegung zu setzen, einen Umschlag zu suchen, eine teure Briefmarke aufzupappen, zum Briefkasten zu gehen, nur um einen Quengelschneckenbrief los zu werden? Erste Klage: Wir kommen nicht zur Hotline durch. Zweitens: dann muffig die Dame dort. Drittens: falsche Beratung. Nun dann.
Celine ist in der Frühschicht und Morgenmuffel. Das muss doch nicht sein. Aber nachmittags und abends kann sie nicht.
„Sag mal, Celine, kannst du nicht einen Kaffee mehr trinken, bevor du morgens anfängst?“
„Ich trink schon zwei, mehr vertrag ich nicht.“
„Aber du klingst, als wenn du noch im Bett lägst.“
„Manche mögen das.“
„Wir machen hier keine Sex-Hotline, Celine, wir beruhigen Kunden, die wütend über unsere Handys sind.“
„Ich beruhige sie schon, Peter. Warum beruhigst du dich nicht auch?“
Frech diese Celine. Aber sie hat Recht. Warum rege ich mich eigentlich auf? Was ist mit mir los? Gerade vier Wochen hier und schon heiß geworden, das muss die Hotline sein. Das Soldatentum liegt mir im Blut. Wenn mein Auftrag lautet: Sei ein Parasit, dann erfülle ich ihn mit List, Umsicht und Disziplin, und wenn es heißt: optimiere diese Hotline, dann mach ich das auch. So bin ich. Dabei ist Celine hübsch. Schwarz, schlank mit dunklen, etwas tiefen Augen und hellen Lippen. Schade, dass sie so unlustig ist. Sie sieht unzufrieden aus. Liegt das nur an der empörend frühen Arbeit? Ist sie weniger verstimmt, wenn sie hier fertig ist? Warum motze ich sie an? Ich muss verrückt geworden sein. Ich sollte sie anbaggern. Was macht sie nachmittags und abends?
„Celine, tut mir leid. Warum gehst du nicht in den Nachmittag, ist doch eine Quälerei im Winter so früh hier zu sitzen.“
„Nachmittags hab ich keine Zeit.“
„Und die Spätschicht?“
„Geht auch nicht.“
„Aber so geht es doch auch nicht, Celine. Was machst du denn sonst so Wichtiges?“
Ein Blitz aus der Tiefe ihrer tiefen Augen.
„Vergiss es, ich kann nur vormittags.“
Wie störrisch und unzugänglich sie ist. Sie sieht in mir den Störenfried, der plötzlich aufgetaucht ist, um in ihrem Muffparadies die Fenster aufzureißen. Ich stehe vor der Wahl: Abdrehen oder Kurs halten. Abdrehen, das heißt, der alte Hahn muss irgendwann wieder den Abflug machen. Abdrehen heißt, es werden weiter diese inspirierten Mails kommen. „Als ich nach langem vergeblichen Anrufen und zehn Minuten Plastikmusik endlich bei Ihrer sogenannten Hotline durchgedrungen war, geriet ich an eine Dame, die klang, als hätte ich sie gerade aus der REM-Tiefschlafphase herausgeklingelt. Nachdem ich mich vielmals dafür entschuldigt hatte, schilderte ich ihr das Problem mit meinem Handy, bei dem der Vibrationsalarm nicht funktioniert, und sie sagte mir, das könne gar nicht sein, weil dieses Modell gar keinen Vibrationsalarm hat. Dabei war genau DAS Ihre Werbung für das Modell. Ich fordere Sie hiermit auf, mir bis zum 15. des Monats ein Modell mit Vibrationsalarm zuzusenden, weil ich sonst....usw. usw.“
Celine hat überhaupt keine Ahnung von den Modellen. Wenn sie gesagt hätte, er soll sich das Ding in den Arsch schieben, dann würde er schon merken, wie es vibriert, vielleicht hätte der Kunde das lustig gefunden. Aber nur gemuffelt und nix gewusst hat sie. Natürlich vibriert das verdammte Ding bis die Tassen auf dem Tisch tanzen. Aber richtig einstellen muss man es. Also schreiben wir das dem Kunden. Was das alles kostet. So geht es doch wirklich nicht, oder? Hängt vom Standpunkt ab. Wenn man Handys und Kosten und Gewinne und Firmen und Gehälter und Ich-kann-mir-was-Schönes-kaufen für wichtig hält, dann geht es so nicht. Vom Standpunkt des Parasiten geht es sehr gut. Ich bin mit Celine an einen Parasiten geraten. Sie saugt sich am Arbeitsplatz so gut es geht mit Geld voll und versucht, so wenig Leistung wie möglich abzugeben. Kann es sein, dass ich vom ideologisch gefestigten Parasiten in vier Wochen zur Parasitenbekämpfung übergelaufen bin? Celine wittert genau, wie blockiert mein Killerinstinkt ist, sie hat überhaupt keine Angst vor mir, leider auch keine Sympathie. Ich werde langsam wütend auf die stupide Gans. Sitzt da, seufzt abgrundtief, wenn ihr Telephon zu blinken wagt und mault in ihr Mikrophon. Nun gut, Celine, du oder ich, ich habe keine Lust, mich wegen dir von diesem wunderbaren Hühnerhof mit seiner Headphone-Neuner-Batterie wieder vertreiben zu lassen. Für einen alten Hahn kommen solche Chancen nicht so leicht wieder.
„Also, jetzt hör mal zu Celine“, jetzt hört sie zu, weil meine Stimme Metall hat „gleich wird das Telephon blinken und du wirst einen unzufriedenen Kunden zufrieden machen. Du wirst freundlich, kompetent und hilfsbereit sein. Wenn du eine Frage nicht beantworten kannst, dann sagst du, dass du dich erkundigst und gleich zurückrufst – und das machst du dann auch.“
Jetzt hat sie Stress. Das hat sie mir nicht zugetraut. Wird sie kämpfen oder einknicken?
„Was ist los, Peter, dir haben sie wohl das Gehirn gewaschen.“ Immerhin ist sie jetzt wach geworden. „Ich mach das jetzt seit drei Jahren und du seit einer Woche.“
„Vier Wochen. Genau darum haben sie mich hier eingestellt, weil diese beschissene Hotline seit drei Jahren nicht läuft. Also komm endlich in die Gänge, Celine. So läuft das hier nicht länger.“
Celine sprüht mich voll mit Gift, ihr dämmert, dass drei matte, schöne Jahre zu Ende gehen. Sie packt ihre Kaffeetasse, die leer ist. Das kenn ich, so ist das, wenn man Stress hat, wie bei den Hühnern, die picken dann auch nach Körnern, die es gar nicht gibt. Aber sie sagt nichts mehr.
Na also, Celine, wirst dich schon dran gewöhnen, ist gar nicht so schwer, und du wirst sehen, du kommst sogar lieber her, wenn du nicht vier lange Stunden Blei durch die Leitungen schiebst.
Jetzt sitze ich auf meinem Hotline Supervisor Chair wie ein Feldherr am Abend der Schlacht. Aber die Depression lauert. Was bin ich für ein prinzipienloses Schwein. Gerade noch der Parasitenkönig und jetzt der Callcenter Caesar. Die arme Celine platt gemacht, nur um meine neue Spitzenposition zu sichern. Erfolgreich, sehr erfolgreich, Herr Bach.
Ein Gespräch für Celine.
„Guten Morgen, Service Linie der Firma Celltecs, mein Name ist Celine Amapur, was kann ich für Sie tun?“
Klingt gereizt, das war so schnell nicht anders zu erwarten. Ich tue, als ob ich nicht mehr draufgeschaltet bin, damit sie ihr Gesicht wahren kann. Jetzt spricht sie mit dem Kunden, als wenn sie ihn ernst nähme. Unglaublich.
Drei Leute kann ich noch einstellen. Da nehm ich doch auf jeden Fall schon mal Paloma. Paloma ist Spanierin, oder war es, was weiß ich. Sobald es etwas wärmer wird, hat sie Schuhe an, die viel Fuß frei lassen – und was für Füße sie hat. Die Erinnerung an Rosa ist süß, aber süßer sind diese zierlichen, klar konturierten südlichen Füße auf dem Tisch in zweieinhalb Meter Entfernung vor mir. Paloma macht das Telephonieren Spaß. Sie wickelt die Kunden ein, gurrt und lockt, öffnet ihnen alle Türen, an denen sie rütteln, lässt sie einen Blick auf den dornenreichen Pfad der Nachbesserung werfen und führt sie dann sanft auf den süßen, breiten Weg der Resignation. Die Männer vergessen ihren Ärger in den ersten zwei Minuten, wenn sie nicht komplett abgestumpft sind. Das läuft doch. Ich schiele an meinen elektrisierenden Nonsense e-mails vorbei auf Paloma, sie macht mir schöne Augen, während sie mit ihrer rauen Stimme einen Klienten weich feilt.
Seit vier Wochen keine Beschwerde über unsere Arbeit. Ich bin ein big shot im callcenter business geworden. Jedenfalls lässt man mich in Ruhe in meinem Biotop. In welchen Himmeln sind die Loblieder des Parasitenlebens verklungen? Oder bin ich ein höherer Parasit geworden? Mein Wirt ist gesünder, nährender und abwechslungsreicher, mein Parasitenleben Stufe zwei ist auf eine feste Grundlage gestellt, bezahlt, mit regelmäßiger Arbeitszeit. Respektabel, respektabel, Herr Bach – und ich bin wie der Teufel her hinter Paloma. Unglaublich, wie sie mich anschaut, wenn sie telephoniert, sie hat ein Talent, die banalsten Sachen so zu sagen, dass die Leitung knistert. Jetzt ist selbst das Aufstehen wieder erträglich, wenn es heller wird ohnehin. Ich mache zwei Schichten, drei wären zu viel. Am besten ist die Kombination Früh- und Spätschicht. Dann fahre ich mittags nach Hause und leg mich kurz hin. Das gibt mir mehr Energie für Paloma, zwanzig bin ich nicht mehr. Mit ihr geht es neuerdings am Abend oft noch weiter, ein schlimmes Mädchen ist diese Paloma. Ich sage ihr, lass uns doch zu mir gehen. Aber sie sagt, nein, wir haben noch eine halbe Stunde bis die Putzfrau kommt. Sonst sind ja die Männer die Advokaten der schnellen Nummer. Bei Celine dagegen komme ich keinen Mikrometer voran. Sie muffelt am Telephon nicht mehr herum, aber zu mir ist sie von bösartiger Korrektheit. Irgendein Geheimnis hat sie, ich bin sicher, ich rieche es. Ich bin selbst erstaunt, wie ich meinen Tiefgang verloren habe, seit ich so obenauf schwimme. Dabei stehe ich beruflich mit mindestens einem Bein im Grab. Celltecs ist nicht groß genug, um auf Dauer selbständig zu bleiben. Kann gut sein, dass ich mich nach einer Übernahme in einem anderen Callcenter wiederfinde, wer weiß in welcher Position – oder rausfliege. In die Firma bin ich wenig eingebunden. Ich tue so, als bekäme ich ständig heiße e-mails und gehe jede Woche zum division meeting, aber ich bin eine der kleinsten Nummern im Reich der Firmenzahlen. In meinem Alter, und dann als Mann in dieser Branche: Ich müsste längst im Vorstand sein, oder jedenfalls im Vorstand gewesen sein. In irgendeinem Vorstand und dann mit vollen Taschen raus aus dem Gebäude, hit and run, dann könnte ich beim Golfen den Blick in die Ferne schweifen lassen und sagen: „Sind schon verrückte Zeiten heute.“ Nun, immerhin sagte neulich das Dynamoarsch, dass von mir „wertvolles feed back“ an die Produktentwicklung komme. Ist das denn Nichts? Jetzt ist bei den neuen Modellen sogar eine Einstellung geändert worden. Das ist das Gesicht des Erfolges. Ich sollte von Sambeck anrufen, und mich bei ihm bedanken. Aber das würde ihn misstrauisch machen. Wer weiß, vielleicht sitze ich bald wieder in seiner guten Stube, das ist dann früh genug für den Dank.
Ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, jetzt bist du es, Peter Bach. Unentscheidbar bleibt die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn ich nichts täte. Vielleicht werden wir es eines Tages bereuen, dieses Ferngeplauder und ewige Starren auf kleine, leuchtende Quadrate – wer weiß. Aber jetzt ist meine Arbeit meine Freude. Heute ist es wieder so weit. Paloma, schöne, braune Taube, verzeihe mir alle blasphemischen Gedanken und führe mich zurück auf den Pfad deiner Tugend. Sie ist ein Ereignis, was sie mit den Quengelkunden macht, grenzt an Magie, diese Stimme – und mich schaut sie dabei an. Dann ist die Spätschicht vorüber, wir sind im Callcenter allein und sie legt die nackten Füße auf den Tisch. Ihre zehn Zehen sind meine zehn Gebote. Große, heilige Geilheit, sich immer wieder erneuernd, etwas Besseres ist noch nicht gefunden worden. Was kann ich mehr wollen in dieser begrenzten Welt, in meinem flüchtigen Leben, als eine solche Frau, die mich nun mit ihren gelenkigen Zehen zu sich winkt?