Perspektivwechsel
Die Sonne geht unter hinter den Dächern von Berlin.Es war gar nicht schwer für sie, diesen exklusiven Sitzplatz für den Ausblick auf die allabendliche Romanze zu bekommen, die sich von vielen unbeachtet, zwischen der dunkelrot erstrahlenden Sonne und der von Plattenbauten geprägten, unregelmäßigen Horizontlinie abspielt, deren dunstig-dreckige Atmosphäre in diesen letzten Minuten, von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet, die Stadt in einen phantastischen Schleier zu hüllen scheint. Der Wind lässt ihre Haare flattern, wie ihr Herz, dass noch immer pocht, vom Adrenalin, dass noch vom Aufstieg durch ihren Körper schießt und ihre Sinne schärft. Da sitzt sie nun und lässt den Blick in die Ferne schweifen.Nur das gelbe Gitter unter ihr hindert die Schwerkraft daran, sie 70meter in die Tiefe stürzen zu lassen.Es fühlt sich fast an wie Fliegen. Doch Fliegen ist heute nicht teil des Plans. Der Plan ist nicht besonders ausgereift.sie weiß nur, dass alle Stunde zwei Wachmänner der Sicherheitsfirma vorbeikommen um zu überprüfen ob noch alles seine Ordnung hat. Diese Stunde sollte problemlos ausreichen um auf die Baustelle zu gelangen und auf den Kran zu klettern, dessen atemberaubende Höhe es ihr ermöglicht, dieses wundervolle Schauspiel zu beobachten. Völlig alleine, fern von all dem Lärm, dem Stress. In diesem Moment steht sie über allem, besser gesagt, sie sitzt, da sich ihre Knie vor genussvoller Angst ganz wackelig anfühlen.Ob der Kranführer sich am nächsten morgen wundern wird, über den verstellten Radiosender? Das war ein spontaner Einfall von ihr, um ein Zeichen zu hinterlassen, dass sie hier war.Sie muss grinsen bei dem Gedanken daran, war es doch absolut unlogisch...laut ihrem Plan würden sie am nächsten Tag, wenn die ersten Bauarbeiter auf dem Gelände erscheinen, doch eh alle wissen, dass sie da war. Sie spielte gerne mit der Logik. Vielleicht hatte sie auch deshalb ihre Kamera mitgenommen. Sie zog schon immer gerne durch die nächtliche Großstadt, die niemals schlief und doch nachts eine eigenartig beruhigende Wirkung aus sie ausübte, mit ihren gesichtslosen Gestalten, die durch die niemals vollkommene Dunkelheit mal eilig, mal müde, manchmal ziellos ihre Wege machten, um an unbekannten Orten unbekannte Dinge zu tun. Es war immer logisch, die Kamera dabei zu haben, um diese Atmosphäre festhalten zu können. Doch heute war auch das absolut unlogisch. Trotzdem , oder vielleicht gerade deshalb greift sie nun in ihren Rucksack, der neben ihr auf dem Gitter liegt - schwarzer Rucksack auf gelbem Gitter, sie mochte diese Farbkombi schon als Kind - und holt die Kamera raus, um dieses unvergessliche Bild festzuhalten, an das sie sich schon sehr bald nicht mehr erinnern können sollte - laut Plan. Sie sitzt und kuckt und fühlt sich ganz leicht. Sie konnte aus der Welt fliehen, die ihr alles so kompliziert und sinnlos erscheinen ließ und stellt fest, dass das alles von oben betrachtet plötzlich sehr klein, sehr unwichtig und im Großen gesehen doch irgendwie wunderschön erscheint. Würde der Mensch in den Wolken leben, würde er sich wohl nicht so viele Probleme bereiten. Hier oben fühlt sie sich lebendig, das erste mal seit langer zeit. erstaunt über diese Erkenntnis schreckt sie aus ihren Gedanken hoch. sie merkt, dass sie plötzlich ganz ruhig ist, ausgeglichen, und der Kraft ihrer Beine wieder Vertrauen schenken kann. Vorsichtig erhebt sie sich, hält sich am Geländer fest, während sie Schritt für Schritt über das Gitter bis ans Ende des Krans läuft, den Blick zwischen ihren Füßen hindurch in den Abgrund gerichtet. In dieser Höhe weht eine steife Brise, die ihr den Atem stocken lässt und ihren Puls erneut in die Höhe treibt. Es erinnert sie an das Gefühl das man hat, wenn man bei voller Fahrt seinen Kopf aus dem Autofenster streckt. Eine Mischung aus Angst, Atemlosigkeit, und doch so berauschend, dass sie früher immer eine Skibrille für diese Zwecke mit auf längere Fahrten genommen hat, um ihre Augen zu schützen während sie sich diesem unbeschreiblichen Gefühl aussetzte. DAS ist das Leben - denkt sie - SO muss es sich anfühlen. Sie verharrt noch einen Augenblick, saugt den Moment in sich auf, bevor sie umdreht und mit dem Abstieg beginnt. Es gab eine spontane Planänderung, hatte sie doch eigentlich vorgehabt, wenigstens einmal im Leben den kürzesten Weg zu nehmen. Zurück in der Realität, wieder angekommen auf dem Boden der Tatsachen, wirft sie einen letzten Blick nach oben, erleichtert darüber, nun zu wissen, was zu tun sein, wenn sie wiedereinmal vorhat, dem Leben zu entkommen....wenigstens für ein paar Augenblicke.