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Perspektive?
„Hallo Schatz, ich bin bei dir.“ Das vorsichtige Streicheln seiner Hand nahm er wie einen Traum wahr. Er konnte nicht einmal sagen, ob es ein guter oder ein schlechter sein würde. Sie war da, würde ihn niemals im Stich lassen. Er schluckte den schmerzenden Kloß aus Erinnerungen runter, der sich in seinem Hals gesammelt hatte. Es waren gute Erinnerungen, aber er spürte, wie er weinen wollte. Keine Träne floss sein Gesicht hinunter. Es war ein seltsames Gefühl voller Leere.
Sie wollte etwas sagen, wollte ihm Mut machen, aber jeder Ansatz eines Gedanken verflog noch bevor er zuende gedacht war. Sie strich ihm mit der anderen Hand übers Gesicht.
Seine Augen schienen nach einem sichtbaren Punkt zu suchen. Langsam bewegte sich sein Blick zu allen Richtungen. Der weiße Film über den Augen gab zu erkennen, dass er diesen Punkt niemals wieder finden würde. Kein Licht, nur die Dunkelheit blieb ihm. Es war nicht die Dunkelheit der Nacht, es war etwas anderes. Bastian spürte es irgendwie, dass dort Licht hätte sein müssen. Es war warm, die Wärme eines Sommertages. Er hatte an solchen Tagen so oft auf dem Balkon hinterm Haus gesessen oder er ging mit seinen Kumpels auf Tour. Er erinnerte sich an die Libellen, die sich auf die Paddel setzten, an den großen Proviantrucksack im Nachbarboot und an die ausgelassene Atmosphäre. Nun ist es wieder Sommer geworden. Er hätte Constantin anrufen können und eine weitere Tour geplant, wenn er nur eine Sekunde besser aufgepasst hätte. Er sah sich wieder im Auto sitzen und – Er versuchte den Gedanken mit aller Macht loszuwerden und an etwas anderes zu denken. Doch immer wieder tauchen diese Bilder auf und lassen ihn nicht in Ruhe.
„Bastian, es ist okay, ich bin bei dir“, sagte die Stimme seiner Mutter. „Mama“, flüsterte er voller Leid. Er versuchte ihre Hand zu drücken, sie ganz fest zu halten, „Mama.“ „Ja, Schatz, ich bin bei dir. Ich lasse dich nicht alleine. Ich liebe dich.“
Seine Hand bewegte sich nicht, aber er konnte ihre spüren. Seine Beine waren gelähmt, seinen linken Arm hatte er verloren. Seine Augen wurden irreparabel zerstört und die schmerzhaften Verbrennungen hinterließen glänzende Narben an seinem gesamten Körper.
Sie könnten ihn nicht so da liegen sehen, hatten seine Freunde gesagt. Bastian zweifelte daran, dass sie jemals echte Freunde waren. Doch dann kamen die Gedanken wieder. Die ganzen Jahre – Freunde auf ewig? Sie haben ihn allein gelassen. Unweigerlich schoben sich wieder die Bilder der entscheidenden Sekunde seines Lebens ein – eine Sekunde – wie kann ein so unglaublich kurzer Zeitraum so entscheidend sein?
Und nun wurde jegliche Perspektive ausgeschaltet, noch vor dem Gedanken im Keim erstickt. Im Hintergrund spielte plötzlich klassische Musik, seine Mutter versuchte ihm damit Mut zu machen. Hören konnte er noch und er hat es geliebt bei leiser Musik vor sich hin zu träumen. Aber jetzt war alles anders. Jeder Gedanke führte ihn zurück ins Auto, zurück zu der Kassette, die er in den Kassettenrecorder im Auto steckte, zu der Sekunde der Unachtsamkeit. Er hätte das Stauende hinter der Kurve gesehen und hätte rechtzeitig gebremst. Vielleicht wäre er trotzdem in den Graben gefahren, aber er hätte nicht so schwere Verletzungen davongetragen.
Er musste es ihr sagen, sie war seine einzige Hoffnung. Der einzige Weg seinen einzigen, großen Wunsch zu erfüllen. Bastian holte Luft, atmete dann aber wieder aus. Sein Kiefer tat immer noch weh, aber da war etwas anderes, was ihn daran hinderte seine Bitte vorzutragen. Das konnte man von niemandem erwarten, schon gar nicht von der eigenen Mutter. Wie hätte er reagiert, wenn sie ihn darum gebeten hätte? Aber sie war die einzige, die ihn nicht im Stich gelassen hatte, er musste es ihr sagen.
„Mama“, sagte er, „wenn du mich liebst - “ Er zögerte kurz, aber es gab keinen anderen Weg mehr. „Dann bring mich um“, beendete er seinen Satz.
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Ihre Hand verlor an Kraft, bevor sie seine Hand ganz fest drückte. „Gib nicht auf“, dachte sie und brachte kein Wort über die Lippen, „Bastian, bitte gib nicht auf!“
Ihr Mund bewegte sich, aber die Worte entwichen ihm nicht. „Bastian, ich liebe dich“, weinte sie und legte ihren Oberkörper auf seinen. Sie drückte ihn vorsichtig ohne seine Verletzungen zu sehr du berühren.
Bastian wünschte sich in ihre Arme zu fallen und zu weinen. Er würde seine Mutter in seinem starken Armen wiegen und ihre Haare in seinem Gesicht spüren. Und wieder merkte er, wie er sich weder bewegen konnte noch fähig war eine Träne über seine Wange fließen zu lassen.
„Bastian“, flüsterte seine Mutter und es schien so, als ob die Speichelfäden versuchten ihn geschlossen zu halten, „sei stark. Bitte, sei stark. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.“
„Was soll ich denn schaffen?“, wollte Bastian fragen, doch die Schmerzen an seinem Mund waren zu stark um weitere Worte formen.
Dennoch verstand ihn seine Mutter. „Du bist ein Kämpfer“, ging sie weiter gegen ihre Tränen an, die nun auch ihr den Blick trübten. „Du hast nie aufgegeben. Dein ganzes Leben lang nicht. Du hast es immer wieder geschafft. Kämpfe weiter. Bitte, gib dich nicht auf. Du bist mehr als nur ein Skelett mit Muskeln.“
Wieder sammelte Bastian seinen Mut zusammen um gegen die Schmerzen an seinem Mund anzugehen. „Ich kann nicht weinen“, sagte er und der dicke Kloß in seinem Hals klang in seiner Stimme mit.
„Mein Mund tut so weh“, stieß er noch mit letzter Kraft aus, bevor er wieder schweigen musste.
„Die Ärzte sagen, dass sich das geben wird, Bastian. Du wirst wieder reden können.“
Plötzlich spürte Bastian eine unglaubliche Erleichterung. Der Gedanke daran wieder richtig reden zu können stand wie eine himmlische Gestalt im Raum. Er fühlte etwas. Er hatte wieder Hoffnung.