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Perspektive?

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02.04.2002
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Perspektive?

„Hallo Schatz, ich bin bei dir.“ Das vorsichtige Streicheln seiner Hand nahm er wie einen Traum wahr. Er konnte nicht einmal sagen, ob es ein guter oder ein schlechter sein würde. Sie war da, würde ihn niemals im Stich lassen. Er schluckte den schmerzenden Kloß aus Erinnerungen runter, der sich in seinem Hals gesammelt hatte. Es waren gute Erinnerungen, aber er spürte, wie er weinen wollte. Keine Träne floss sein Gesicht hinunter. Es war ein seltsames Gefühl voller Leere.

Sie wollte etwas sagen, wollte ihm Mut machen, aber jeder Ansatz eines Gedanken verflog noch bevor er zuende gedacht war. Sie strich ihm mit der anderen Hand übers Gesicht.

Seine Augen schienen nach einem sichtbaren Punkt zu suchen. Langsam bewegte sich sein Blick zu allen Richtungen. Der weiße Film über den Augen gab zu erkennen, dass er diesen Punkt niemals wieder finden würde. Kein Licht, nur die Dunkelheit blieb ihm. Es war nicht die Dunkelheit der Nacht, es war etwas anderes. Bastian spürte es irgendwie, dass dort Licht hätte sein müssen. Es war warm, die Wärme eines Sommertages. Er hatte an solchen Tagen so oft auf dem Balkon hinterm Haus gesessen oder er ging mit seinen Kumpels auf Tour. Er erinnerte sich an die Libellen, die sich auf die Paddel setzten, an den großen Proviantrucksack im Nachbarboot und an die ausgelassene Atmosphäre. Nun ist es wieder Sommer geworden. Er hätte Constantin anrufen können und eine weitere Tour geplant, wenn er nur eine Sekunde besser aufgepasst hätte. Er sah sich wieder im Auto sitzen und – Er versuchte den Gedanken mit aller Macht loszuwerden und an etwas anderes zu denken. Doch immer wieder tauchen diese Bilder auf und lassen ihn nicht in Ruhe.

„Bastian, es ist okay, ich bin bei dir“, sagte die Stimme seiner Mutter. „Mama“, flüsterte er voller Leid. Er versuchte ihre Hand zu drücken, sie ganz fest zu halten, „Mama.“ „Ja, Schatz, ich bin bei dir. Ich lasse dich nicht alleine. Ich liebe dich.“

Seine Hand bewegte sich nicht, aber er konnte ihre spüren. Seine Beine waren gelähmt, seinen linken Arm hatte er verloren. Seine Augen wurden irreparabel zerstört und die schmerzhaften Verbrennungen hinterließen glänzende Narben an seinem gesamten Körper.

Sie könnten ihn nicht so da liegen sehen, hatten seine Freunde gesagt. Bastian zweifelte daran, dass sie jemals echte Freunde waren. Doch dann kamen die Gedanken wieder. Die ganzen Jahre – Freunde auf ewig? Sie haben ihn allein gelassen. Unweigerlich schoben sich wieder die Bilder der entscheidenden Sekunde seines Lebens ein – eine Sekunde – wie kann ein so unglaublich kurzer Zeitraum so entscheidend sein?

Und nun wurde jegliche Perspektive ausgeschaltet, noch vor dem Gedanken im Keim erstickt. Im Hintergrund spielte plötzlich klassische Musik, seine Mutter versuchte ihm damit Mut zu machen. Hören konnte er noch und er hat es geliebt bei leiser Musik vor sich hin zu träumen. Aber jetzt war alles anders. Jeder Gedanke führte ihn zurück ins Auto, zurück zu der Kassette, die er in den Kassettenrecorder im Auto steckte, zu der Sekunde der Unachtsamkeit. Er hätte das Stauende hinter der Kurve gesehen und hätte rechtzeitig gebremst. Vielleicht wäre er trotzdem in den Graben gefahren, aber er hätte nicht so schwere Verletzungen davongetragen.

Er musste es ihr sagen, sie war seine einzige Hoffnung. Der einzige Weg seinen einzigen, großen Wunsch zu erfüllen. Bastian holte Luft, atmete dann aber wieder aus. Sein Kiefer tat immer noch weh, aber da war etwas anderes, was ihn daran hinderte seine Bitte vorzutragen. Das konnte man von niemandem erwarten, schon gar nicht von der eigenen Mutter. Wie hätte er reagiert, wenn sie ihn darum gebeten hätte? Aber sie war die einzige, die ihn nicht im Stich gelassen hatte, er musste es ihr sagen.
„Mama“, sagte er, „wenn du mich liebst - “ Er zögerte kurz, aber es gab keinen anderen Weg mehr. „Dann bring mich um“, beendete er seinen Satz.

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Ihre Hand verlor an Kraft, bevor sie seine Hand ganz fest drückte. „Gib nicht auf“, dachte sie und brachte kein Wort über die Lippen, „Bastian, bitte gib nicht auf!“

Ihr Mund bewegte sich, aber die Worte entwichen ihm nicht. „Bastian, ich liebe dich“, weinte sie und legte ihren Oberkörper auf seinen. Sie drückte ihn vorsichtig ohne seine Verletzungen zu sehr du berühren.

Bastian wünschte sich in ihre Arme zu fallen und zu weinen. Er würde seine Mutter in seinem starken Armen wiegen und ihre Haare in seinem Gesicht spüren. Und wieder merkte er, wie er sich weder bewegen konnte noch fähig war eine Träne über seine Wange fließen zu lassen.

„Bastian“, flüsterte seine Mutter und es schien so, als ob die Speichelfäden versuchten ihn geschlossen zu halten, „sei stark. Bitte, sei stark. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.“

„Was soll ich denn schaffen?“, wollte Bastian fragen, doch die Schmerzen an seinem Mund waren zu stark um weitere Worte formen.

Dennoch verstand ihn seine Mutter. „Du bist ein Kämpfer“, ging sie weiter gegen ihre Tränen an, die nun auch ihr den Blick trübten. „Du hast nie aufgegeben. Dein ganzes Leben lang nicht. Du hast es immer wieder geschafft. Kämpfe weiter. Bitte, gib dich nicht auf. Du bist mehr als nur ein Skelett mit Muskeln.“

Wieder sammelte Bastian seinen Mut zusammen um gegen die Schmerzen an seinem Mund anzugehen. „Ich kann nicht weinen“, sagte er und der dicke Kloß in seinem Hals klang in seiner Stimme mit.

„Mein Mund tut so weh“, stieß er noch mit letzter Kraft aus, bevor er wieder schweigen musste.

„Die Ärzte sagen, dass sich das geben wird, Bastian. Du wirst wieder reden können.“

Plötzlich spürte Bastian eine unglaubliche Erleichterung. Der Gedanke daran wieder richtig reden zu können stand wie eine himmlische Gestalt im Raum. Er fühlte etwas. Er hatte wieder Hoffnung.

 

Moin Anika :)

Mir gefällt die Spannungskurve in der Geschichte - anfangs will man wissen, was mit dem Prot passiert ist, wieso der behindert ist (man kann sich dann irgendwann denken, dass es ein Unfall war, aber man weiß nicht, wie der Unfall passiert ist). Und man wartet irgendwie, worauf du mit der Geschichte hinauswillst. Das Ende ist schön offen, sagt mir zu. Man weiß nicht, ob die Mutter die Bitte erfüllt oder es lässt. Ich persönlich könnte es nicht, aber auf der anderen Seite würde ich auch nicht so schwer verletzt und blind leben wollen, denke ich mal (meiner Meinung nach ist keine Behinderung so schlimm wie das Blind sein, man kann dann zwar eventuell auf fremde Hilfe verzichten, aber die Welt nicht zu sehen, grausig). Vielleicht sieht man das anders, wenn man von Anfang an blind ist, ich weiß es nicht. Kenne soweit keine blinden Leute, die man fragen könnte.

Von der Gesamtsituation her finde ich die Geschichte sehr realistisch. Ein junger Kerl, der durch eine kurze Unachtsamkeit einen Unfall baut. Danach schwer verletzt, usw. Dann auch eine gewisse Todessehnsucht, ich denke mal, dass das auch realtisch ist. Immer die Szenen des Unfalls im Kopf, das Wissen, dass eine einzige Sekunde es hätte anders aussehen lassen können. Muss grausig sein.

Irgendwie passt die Geschichte zu einem heutigen Erlebnis von mir *einfach mal erzähl*. Mir wäre beinahe ein Auto frontal reingerast - was überholt der auch vor einer Kurve eine Reihe von was-weiß-ich-warum-stehenden Autos und fährt auf die Fahrbahn des Gegenverkehrs (ergo meiner)? Eine Sekunde zu spät und ich hätte den voll erwischt, hat nicht viel gefehlt... aber egal, off-topic :)

Stilistisch gesehen kann ich an deiner Geschichte nichts aussetzen, der Inhalt hat mir auch unheimlich zugesagt :)

Bleibt nur noch zu überlegen, ob die Mutter der Bitte nachkommt oder nicht :D

Liebe Grüße
Alisha

 

Hi Alli, danke für deine schnelle Antwort :)

Uff, da bin ich aber echt froh, dass dir nichts passiert ist *malganzfestdrück*

Theoretisch sollte die Geschichte anders enden und "harte Verhandlung" heißen, aber die Situation ist schon recht aussichtslos... Es hätte vielleicht passieren können, dass sich seine Freunde noch aufraffen und ihn doch besuchen. Sie hätten ihn von ihren Ausflügen erzählen können usw. ... Aber gibt es eine wirkliche Lösung?

 

Manchmal ist selbst meine lange Leitung kurz ;)

Bist nicht nur du froh :)

Eine wirkliche Lösung für Bastian, das Leben wieder lebenswert zu machen? Ich weiß nicht, da gehören bestimmt einige Leute zu, die ihn unterstützen, ihm beistehen, ihn unterhalten, ablenken, sich halt einfach mit ihm beschäftigen. Wäre auf jeden Fall keine einfache Sache, denke ich. Aber mit Zusammenhalt und Initiative könnte man eventuell was reißen, aber auch nur, wenn die betroffene Person sich helfen lassen will, das wäre eine Grundvoraussetzung. :)

 

Hallo Anika!

Du traust Dich mit dem Text wirklich an eine schwierige Frage, Sterbehilfe ja oder nein. Insgesamt finde ich, stellest Du das Leid von Bastian gut dar, wenn allerdings auch recht ...(jetzt blos ncihts falsches schreiben) auf die Mitleidstour. Ich weiß nicht, ob mir persönlich hier von der Sprache her distanziertere Formulierungen nicht besser gefallen hätten. Zudem ist Bastian zwar körperlich schwerstbetroffen, aber geistig und kommunikativ offenbar ja noch gut fit, ist also keineswegs in einer total hoffnungslosen Lage, auch wenn es von mir jetzt bescheuert klingt, das so zu schreiben, angesichts seiner Gefühle und körperlichen Lage. Der letzte Absatz ist für den Leser schon ein Schock, war denk ich auch beabsichtigt....

Liebe Grüße
Anne

 

Hi Maus,
danke für deine Antwort :)
Schön, dass für dich die Lage noch längst nicht hoffnungslos ist und du noch eine Perspektive für ihn zu sehen scheinst :) Erzähl mal, was für einen Ausweg du dir für ihn vorstellen kannst :)

 

Hallo Anika,

die Geschichte hast du sehr gut erzählt, stilistisch sicher, und total realistisch. Wir leben in einer unsicheren Welt, und jeden kann, jeden Tag so ein Schicksal ereilen.

Man kann sich gesund und froh nicht vorstellen, dass man so schwer behindert leben will. Aber ich weiß es von einer Arbeitsstelle auf einer Intensivstation, dass jeder sehr an seinem Leben hängt. Ich habe auch mal gelesen, dass das Glückslevel, selbst bei Unfallopfern, sich nach einiger Zeit wieder auf den vorhergehenden Zustand einpegelt.

Du kannst sehr interessant schreiben, weiter so!
Herzliche Grüße! Marion

 

Hallo Anika,

zwischen den ganzen Geschichten hier bringst du neue Aspekte der Behinderung mit ein.
Zum einen die "erworbene" Behinderung durch eine Unachtsamkeit, einen Unfall, die Fragen aufwirft, selbstzerstörerische Fragen nach dem "Was wäre wenn".
Darüber hinaus stellst du die Frage nach Freundschaft. Bastians Freund halten es nicht aus, ihn leiden zu sehen, schützen sich und lassen ihn im Stich.
Zum dritten geht es um Sterbehilfe, um Mord aus Liebe, um Töten aus Loyalität, die dein Prot andenkt, sich wünscht, und nach einige rÜberwindung auch fordert.

Welche Alternativen hat er? Was könnte man ihm raten außer den Plattitüden, sein Schicksal anzunehmen?
Der Gedanke, eigene Fähigkeiten zu verlieren, abhängig zu werden von der Hilfe anderer, die körperliche Autonomie einzubüßen und damit weiterleben zu müssen, ist nachvollziehbar und wird in deiner Geschichte auch gut zum Ausdruck gebracht.
Ist er nicht aber ein Schlag ins Gesicht all derer, die mit ihrer Behinderung groß geworden sind?

Das nur so als Gedanke zu einer guten Geschichte. Liebe Grüße, sim

 

danke sim :)

So - ich habe mal noch ein bißchen was dazu geschrieben und hoffe, dass ich es noch weiter verbessern kann ;)

 

Hi Anika,

deine Ergänzung gefällt mir sehr gut. Ich haöte es für sehr realistisch, dass die Hoffnung, wieder sprechen, sich wieder mitteilen zu können, Bastian wieder mehr Mut geben kann.

Lieben Gruß, sim

 

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