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Perseus
Der Junge stand mitten im Wald auf einer Wiese und sah auf die Uhr, die er seiner Schwester gestohlen hatte. Hinter den Zeigern war das Bild eines Pferdes mit Flügeln. Es war kurz nach vier und eigentlich schon zu spät für das Picknick, er musste doch um sechs wieder im Heim sein. Aber sie hatten sich verfahren und Mutter war jetzt müde und schlief im Auto.
Das Gras ging ihm bis zum Bauch. Es war viel höher als in der Stadt und links und rechts waren Bäume, die Wiese schlängelte sich wie ein Fluss durch den Wald. Der Junge suchte sich einen schweren Ast, hob ihn mit beiden Händen hoch und tauchte ein.
Mit dem Schwert hielt er das Flussgras auf Abstand, hier und da musste er gegen eine Seeschlange fechten, einmal einem Strudel ausweichen, wobei er darauf achtete, nicht zu nah ans linke Ufer getrieben zu werden. Die dünnen Bäume mit den Nadeln standen dort dicht wie gefährliche Klippen. Da vorne trieb ein Stamm auf dem Wasser. Ein Ast oben dran hielt Wache. Er segelte ganz dicht heran, holte weit aus, kniff die Augen zusammen und schlug zu. Der Wächter zerbrach und flog in Trümmern davon. Der Junge sprang hoch und lauschte einen Moment der Strömung.
Die Geräusche im Wald waren anders, als er gedacht hatte. Vielleicht hatte er das Gebrüll von wilden Tieren erwartet, auch wenn er natürlich wusste, dass es hier keine gab. Manchmal hörte er einen Vogel, wenn der Wind ging, rauschten die Blätter und es quietschte einmal, als der Wind stärker wurde und Bäume aneinander rieben. Sonst war es still. Und es roch nach Gras, Blumen, Bäumen und Regen. Er legte die Uhr auf seine Hand und drehte sie. Kurs Nordost. Er sprang zurück in die Wiese
Bald aber sank die steil ab und unten, am Ende dieses Wasserfalles, war ein alter Maschendrahtzaun, die Stangen ragten schief in die Luft. Er legte das Schwert weg und klopfte seine Taschen ab. Gurt, Seil, Kompass, alles dabei. Dann berührte er das Schreiben in seiner linken Hosentasche. Ob seine Mutter sich freuen würde? Er hatte Frau Ostermann lange darum angebettelt und es war zwar keine Arbeit wie früher, keine in einem Flugzeug, aber Frau Ostermann sagte, es wäre ein Anfang und das es in einem Flugzeug nicht mehr ging. Ganz unten auf dem Schreiben hatte sogar der Leiter einer Behörde unterschrieben.
Der Junge drehte sich um, griff in das Gras und trat mit dem linken Fuß in den weichen Boden, bis er Halt hatte. Dann machte er einen Schritt nach unten, noch einen, war der nächste gefährlich? Ha, weiter!
Frau Ostermann gab den Tabletten die Schuld dafür, dass seine Mutter nicht mehr oft auf ihn aufpassen durfte. Sie sagte, die Tabletten machten seine Mutter krank. Aber Frau Ostermann gab den Tabletten für alles die Schuld, selbst für das mit Bella.
Der Junge hielt inne.
Er sah auf das Gras.
Dann wollte er nicht mehr den Wasserfall hinab und gegen Seegras wollte er auch nicht mehr kämpfen. Er stand auf, ging die drei Schritte nach oben und zurück zu seiner Mutter. Unterwegs drückte er das Gras weg, damit sein neues Hemd nicht fleckig wurde.
Der Wald sah hier nicht wie ein Wald aus, sondern war so gleichmäßig gepflanzt wie ein Maisfeld. Ihr Auto stand halb auf einem Feldweg, seine Mutter saß auf dem Fahrersitz und hatte die Augen geschlossen. Der Junge klopfte vorsichtig gegen die Scheibe, aber sie rührte sich nicht.
Er setzte sich an eine Fichte und nahm ein Buch aus seinem Rucksack. Beim Lesen strich er mit den Fingern unter den Buchstaben entlang, weil alles so klein geschrieben war. Außerdem gab es fast keine Bilder. Beim ersten Mal war es schwer gewesen aber im letzten Jahr hatte er Bella so oft daraus vorgelesen, dass er jetzt auch Worte wie Morpheus oder Dionysos aussprechen konnte und da war es egal, ob seine Schwester ihn hörte oder nicht. Innen auf dem Deckel des Buches waren lauter Namen und Daten, weil es früher mal in einer Bücherei war. Trotzdem war es jetzt sein Buch, weil seine Mutter es ihm an einem Stand voller alter Bücher gekauft hatte.
"Da sind lauter Helden drin", hatte sie gesagt und, "Helden sind Leute, die vor nichts Angst haben." Das war ihr erster Ausflug nach dem mit Bella gewesen.
Der Junge sah auf die Uhr. Dann sah er zum Auto. Er kniff die Augen zusammen, biss sich auf die Lippen und wackelte mit den Beinen. Dann sah er wieder in sein Buch.
Auf Seite 36 ging es um ein Pferd aus Holz und auf der Seite 76 um das gleiche Pferd wie auf der Uhr, sogar mit Bild. Die Seite hatte einen langen Riss. Er war es nicht gewesen! Aber er hatte trotzdem versucht sie zu kleben. Dann war die Seite davor und danach festgeklebt. Ganz vorsichtig hatte er sie gelöst aber ein bisschen was von den Seiten blieb trotzdem hängen. Jetzt war über dem Pferd ein Stück der Frau mit den Schlangenhaaren, die Leute versteinern konnte. Mit Blut von der Schlangenfrau konnte man sie aber auch wieder befreien.
Der Junge legte das Buch zur Seite und sah lange auf seine Uhr, schließlich stand er auf und ging zum Auto. Er öffnete vorsichtig den Kofferraum. Auf der roten Regenjacke seiner Mutter stand ein Weidenkorb, daneben ein Tortenbehälter und zwei Krücken. Er zog den schweren Korb zu sich heran und stellte ihn neben sich auf den Boden. Als er wieder aufsah, waren auf dem Fenster des Kofferraumes zwei Regentropfen. Der Junge biss sich auf die Lippen, sah nach oben zum dunkler werdenden Himmel und sah dann die beiden Tropfen mit zusammengekniffenen Brauen an. Mit einem Rumms schloss er die Tür, er zuckte vor dem Geräusch zusammen, seine Mutter schreckte von ihrem Sitz hoch und der Junge ging einen Schritt zurück. Die Mutter blieb zuerst aufrecht sitzen, dann drehte sie sich zu ihm um und schüttelte den Kopf, wobei ihre Dreadlocks leicht hin und her schwangen. Nudeln sagte sie dazu. Früher, vor dem mit Bella und dem Heim, hatte der Junge noch über die Nudeln gelacht. Jetzt zog er schnell die Mundwinkel nach oben und da wackelte sie noch ein bisschen ärger mit den Haaren.
Dann sah sie auf ihre Uhr. "Oh verflucht."
Der Junge blickte zu Boden.
Sie räusperte sich, "Ok, ok." Dann sah sie nochmal auf ihre Uhr. "Hilf mir."
Der Junge nickte, öffnete den Kofferraum, zog die zwei Krücken raus, schloss die Tür ganz langsam und beeilte sich, die Krücken seiner Mutter zu bringen.
"Nimm die Picknickdecke mit", sagte sie.
Sie gingen einige Meter in die Anpflanzung hinein, dann ließ die Mutter sich auf dem Boden nieder. Der Junge legte die Decke hin, wegen der ganzen Wurzeln war sie uneben. Darauf holte er den Weidenkorb, mit beiden Händen hob er ihn hoch, streckte sich dabei nach hinten und schwankte Schritt für Schritt bis zu ihrem Platz, das Geschirr im Korb klapperte dabei. Schwer stellte er ihn auf die Picknickdecke.
Seine Mutter holte das Geschirr aus dem Korb, drei Tassen, drei Teller, aber sie fand nur zwei Untertassen. Das Porzellan stand wegen der Wurzeln schief.
Sie hielt inne, verzog das Gesicht, hielt sich ihren Rücken und atmete mit geschlossenen Augen laut ein und aus. Dann räusperte sie sich, sah den Jungen an und wackelte leicht mit den Haaren.
Aus dem Korb holte sie eine Packung Salami, einen aufgeschnittenen Käse, Oliven und zwei Äpfel, eine blaue Thermoskanne und ein Fladenbrot. Sie verteilte alles zwischen dem Geschirr, hob dann einen Apfel hoch, überlegte kurz und legte ihn den wieder hin. Sie suchte mit der Hand im Korb umher, schaute in den Korb und hielt sich dann eine Hand vor den Mund.
Sie sah den Jungen an.
Ein Regentropfen traf ihre Nase, ihre Augen zuckten zusammen.
"Um Gottes Willen, ich hab deinen Kakao vergessen."
Der Junge sah sie an.
"Wie wärs, wie wärs, ich hab Milch dabei. Milch mit Zucker?"
Der Junge nickte.
"Milch mit Zucker, ok Schatz?"
Der Junge nickte.
"Mit viel Zucker!", sagte die Mutter und hielt ihren linken Zeigefinger hoch.
Dann klopfte sie sich auf die Oberschenkel, schwang leicht mit dem Oberkörper vor und zurück und rieb sich die Hände.
"So, jetzt brauchen wir nur noch die Torte."
Der Junge rannte zurück zum Auto. Er zog den Tortenbehälter heran, dabei fiel sein Blick auf die Regenjacke. Er griff danach, packte sie und hielt dann inne. Schließlich drückte er leicht auf die Jacke, nahm sie dann zwischen Finger und Daumen und drückte wieder. Dann griff er in die Tasche der Jacke und zog ein kleines schwarzes Kästchen hervor. Oben drauf war das Bild zweier Eheringe. Aber die Ringe hatten seine Eltern schon lange nicht mehr drin gehabt. Er drehte sich um, seine Mutter sah nicht zu ihm herüber. Langsam öffnete er das Kästchen. Darin lagen drei Tabletten. Darunter lag ein zusammen gefalteter Zettel. Er entfaltete ihn vorsichtig und versuchte darauf zu lesen. Es waren ganz schwierige und kleine Worte, fast wie in dem Buch. Subs… Substi.… Substitut… Substitut. Er drehte sich nochmal um, dann steckte er die Tabletten in seine Tasche und steckte das Kästchen wieder in die Jackentasche. Er schob die Jacke zurück in den Kofferraum, dann kniete er sich neben das Auto und drückte mit der Faust so fest auf die kleinen Steine am Boden, bis es weh tat und dann drückte er noch fester. Die Faust war voller kleiner blauer Druckstellen, bei einer schimmerte es rot. Er wischte sie an der neuen Hose ab. Dann nahm er den Tortenbehälter und ging zurück.
"Ja, was haben wir denn da? Wer hat Lust auf Torte?", fragte seine Mutter.
Der Junge stellte den Tortenbehälter auf die Decke, wegen der ganzen Wurzeln stand der schief und als sie den Deckel anhob, traf sie die Torte. Die verrutschte, und ein Stück fiel auf die Picknickdecke.
"Oh! Oh nein, oh nein!", sagte sie und versuchte, das Stück zurück zu schieben.
Der Junge kniete sich schnell neben sie, nahm ein Stück Torte von der Decke, biss hinein und schmatze so laut er konnte. Dann sagte er: "Hm!", grinste Mutter an und hoffte, dass ein wenig Schokolade an den Zähnen klebte.
Es tröpfelte und wurde dunkler. Der Wind wurde ärger und die Bäume bewegten sich nun dauernd. Auf seiner Milch mit Zucker bildete sich ein kleiner Kreis. Der Junge dachte an den Brief von Frau Ostermann. Er würde ihn Mutter gleich zeigen. Jetzt noch nicht, aber nach dem Kaffee und dem Kuchen. Es war keine richtige Arbeit, aber es war ein Anfang und sie würde bestimmt nicht schimpfen. Es war überhaupt nicht unter ihrer Würde und sie musste es auch nur so lange machen, bis sie wieder in ihrem richtigen Beruf arbeiten konnte. Außerdem hatte der Leiter der Behörde darunter unterschrieben.
"Ach, herrje!", sagte die Mutter und klopfte sich an die Stirn. Dann kramte sie im Weidenkorb herum, holte eine Kerze hervor und steckte sie auf die Torte. Ein Regentropfen traf die Schokolade und zersprang in lauter kleine Tropfen. Aus der Hosentasche zog die Mutter einen gefalteten Zettel und ein Foto von Bella. Sie sah zum Auto rüber, dann entfaltete sie den Zettel und begann zu lesen. Ihre Hände zitterten.
Sie bedankte sich, dass sie alle hier waren. Der Junge fand die Formulierung merkwürdig, aber vielleicht hatte sie es irgendwo abgeschrieben.
"Dieser Tag", las die Mutter und zeichnete, ohne den Blick vom Zettel zu nehmen, einen Halbkreis mit der Hand, "bringt uns endlich wieder an einen gemeinsamen Tisch, auch Bella."
Sie legte die Fotografie auf den dritten Teller.
Dann fuhr sie fort, wie schön es sei, dass der Junge hier wäre und das sie diesen Tag in Erinnerung behalten sollten, weil es der erste Tag ihres neuen Lebens sei und gleichzeitig der letzte Tag des alten. Heute, beziehungsweise übermorgen, wäre nämlich der Tag, an dem sie drei Monate ohne Drogen wäre und sie sei nun frei. In ein paar Wochen dürfe der Junge außerdem bestimmt wieder nach Hause und sie wären wieder eine Familie. Dann redete sie über Opa. Sie würde kommende Woche, gleich montags, bei ihm klingeln und sich für alles entschuldigen, sie habe jetzt dafür die Kraft. Dann wäre das mit dem Geld auch geklärt, weil Opa genug hatte und man werde unbedingt jedes Jahr hierherkommen, genau an diesen Platz, der jetzt ihr gemeinsamer Platz sei. Etwas Besonderes. Nicht irgendein Platz im Park, an dem tausend andere Leute auch hockten, sondern ein echtes Geheimnis zwischen ihnen beiden, beziehungsweise dreien. Dann betrachtete sie den Zettel, nickte und legte ihn auf die Decke.
"So, und jetzt wollen wir die Kerze anzünden, ja?", sagte sie und griff sich an die Hosentasche.
"Na, sowas", sie klopfte gegen die andere Tasche, klopfte sich dann auch die Arme ab, so als hätte sie dort Taschen, die sie durchsuchen könnte. Zum Korb sah sie überhaupt nicht.
"Jetzt hab ich doch glatt das Feuerzeug im Auto vergessen."
Der Junge sprang auf.
"Lass mich doch auch mal laufen", sagte sie. Sie drehte sich zu ihrer Krücke um.
"Ich hole es schon", sagte der Junge.
"Du trinkst deine Milch", sagte sie und mühte sich an ihrer Krücke hoch.
Er sah sie an. Er sah zum Auto hinüber. Dann setzte er sich langsam wieder hin. Er hielt seinen Blick fest in seine Milch mit Zucker gerichtet und hörte, wie sie in Richtung Auto ging. Schneller als vorhin, ihre zweite Krücke lag sogar noch neben der Decke. Dann öffnete sie den Kofferraum.
Er nahm den Zeigefinger seiner linken Hand in die Faust und drückte ihn nach hinten. Der Kofferraum war immer noch offen. Wie lange schon? Er drückte den Finger noch weiter, spürte, wie sich die Sehnen dehnten, wie die Haut spannte, dann drückte er noch weiter.
Dann schloss sich der Kofferraum mit einem Rumms.
Der Junge sprang auf und rannte los, quer über die Picknickdecke.
Es schepperte hinter ihm, gleich nach der Anpflanzung kam er im Dickicht aus dem Tritt, fiel hin und riss mit seinem neuen Hemd an einem Ast entlang. Seine Mutter rief seinen Namen hinter ihm her. Der Junge kroch auf allen Vieren, kam im Dickicht nicht hoch, hörte seine Mutter, holte die Tabletten aus der Tasche, dann rollte und rutschte er einen Abhang hinunter bis zur Wiese. Er schluckte die Tabletten, kam wieder auf die Beine, spürte gleich darauf einen harten Tritt in seinem Rücken und flog mit dem Gesicht voran in die Wiese, war unter dem Gras und schon war seine Mutter über ihm, drehte ihn um und kniete sich auf seine Arme. Sie hob ihre Hand, lies sie da oben, länger noch, sie zitterte, dann waren ihre Finger in seinem Mund, tasteten an seinen Zähnen und am Gaumen herum wie zwei Schlangen.
"Ich verlier nicht noch ein Kind!", schrie sie ihn an, "ich verlier nicht noch ein Kind!" Dann war sie an seinem Zäpfchen, er wollte würgen, aber biss zu. Sie schrie auf und zog ihre Finger zurück. Der Junge wand sich unter ihr hervor, trat zu und traf sie erst am Rücken und dann am Hals. Sie jammerte auf und fiel zur Seite. Dann rannte er. Rannte den Hang hinauf bis zu ihrer Picknickdecke. Er war an allem schuld, er hatte das Fest verdorben. Er hatte seine Mutter getreten! In ihren schlimmen Rücken! Hatte ihm das mit Bella nicht gereicht? Die Kaffeekanne war auch zerbrochen! Die Torte war zerquetscht, der Zettel lag im Dreck, die eingepackte Salami lag halb unter der Decke. Nur das Foto Belas lag noch auf ihrem Teller. Alles seine Schuld. Er zog das Schreiben von Frau Ostermann aus der Tasche und zerriss es. Dann wimmerte er, kniete sich neben die Fetzen und sammelte so viele davon auf, wie er konnte. Ganz warm wurde ihm. Von innen heraus, als wenn man zu warmen Kakao trinkt. Die Wärme breitete sich aus. Seine Mutter würde bestimmt noch lesen können, was auf dem Schreiben stand und auch sehen, dass der Leiter der Behörde darunter unterschrieben hatte. Der Junge hob ein Stückchen Kuchen auf, ganz vorsichtig, und ging wieder zurück zu Mutter, trug das Tortenstück und die mit Schokolade verschmierten Papierfetzen vor sich wie eine Opfergabe. Der Himmel war jetzt lila und die Bäume quietschten.
Der Junge stand im Gras und blickte sich um, aber er sah seine Mutter nicht. Er lief umher, aber er fand die Stelle nicht, an der er sie getreten hatte. Er biss in das Tortenstück und sagte, so laut er konnte: "Hmm!", und rieb sich dazu den Bauch und sah sich um. Tränen liefen ihm über die Wangen und vermischten sich am Mund mit der Schokolade. Er rannte los, blieb stehen und sah sich um. Ihm wurde immer wärmer. Er schwitzte. Der Schweiß vermischte sich mit den Tränen und der Schokolade. Dann kicherte er. Und dann rannte er. Er konnte ewig rennen. Das Lila des Himmels zog Schlieren in die grüne Wiese. Er rannte. Ihm war so warm. Die Fetzen des Schreibens ließ er ins Gras fallen.
Wohin rennen? Es regnete große Tropfen und die Wiese war jetzt mehr Fluss als je zuvor. Der kühle Fahrtwind war schön an der nassen Stirn, dass nasse Gras schlug gegen sein Hemd. Wie weit wollte er segeln? Warum war das wichtig? Er konnte überall hin, nach Hause, ins Heim, zur kaputten Torte oder zum Mond und zu Bella. So wie die Helden aus den Geschichten. Die hatten vor nichts Angst. Alles war möglich. Ein Held konnte alles schaffen. Ein Held konnte jeden retten. Ein Held musste alles schaffen.
Dicke Tropfen wie Gischt klatschten ihm ins Gesicht. Trotzdem war ihm so warm. Er segelte weiter. Da schrie etwas hinter ihm seinen Namen. Er musste schneller werden. Oder sich verstecken. Er hielt Kurs auf die Klippen, kam zu nah, strauchelte und flog mit dem Gesicht nach unten auf die Wurzeln. Mit der Nase konnte er nicht mehr richtig atmen, etwas steckte drin. Bella konnte gar nicht mehr atmen zum Schluss. Wie denn auch? Weiter segeln. Weg von den Klippen. Der Sturm wurde stärker, die Bäume schwankten, wie Schlangenhälse. Die Wipfel quietschten hin und her. Er war jetzt in der Mitte des Flusses, sah sich um, versuchte sich zu orientieren und mit weit aufgerissenen Augen sah er, wie glitzernde Augen ihn von über den Klippen herab anstarrten. Jeden Moment konnten sie zustechen. Sie schwangen ihre Köpfe hin und her und er hatte keine Waffe. Er musste schneller werden. Er senkte den Kopf. So weit, dass er mit dem Gesicht direkt über dem Gras war, schneller!
Wieder brüllte etwas seinen Namen. Es war eine grausame Stimme und im Seegras kam er nicht schnell genug voran. Es bewegte sich im Wind wie Tentakel, die ihn an den Grund des Flusses ziehen wollten. Er rettete sich auf einen Baumstamm, nahm seine Uhr aus der Tasche und betrachtete den Kurs. Er rieb sich über die Augen, atmete schwer und versuchte sich zu konzentrieren. Er versucht, die Wärme zu ignorieren, er hatte seine Mutter getreten. Ihm war schwindelig. Er hatte seine Mutter getreten und dann war er weggerannt und irgendwas steckte in seiner Nase und er sah auf eine Armbanduhr, nicht auf einen Kompass. Am Horizont mischte sich das Grün der Wiese mit dem Lila des Himmels wie Wasserfarbe in einem Glas.
Etwas hatte ihn gerufen. Wie lange war das her? Länger als das mit Bella? Wie lang war das mit Bella jetzt her? Vor dem Heim. Einige Zeit? Sicher! Zwei Jahre oder drei? Es regnete auf das Glas der Uhr. Er hatte die Tabletten genommen und musste jetzt zu ihrem Auto, weil er jetzt auch krank war. Es gibt keine Ungeheuer, dachte er. Aber das war ein Satz aus der Stadt, nicht aus dem Wald. Nicht aus dem Wald, wenn es dunkel wurde und man allein war. Es gab keine Monster, aber dann rief etwas seinen Namen mit süßen Worten wie Sirenen.
Wenn er doch nur stehenbliebe, bat die Stimme. Sie könne das erklären. Sie nähme keine Tabletten mehr, dass seien andere Tabletten. Tabletten als Ersatz für die anderen Tabletten. Damit sie wieder ganz gesund würde. Aber wenn sie jetzt gleich ins Krankenhaus gingen, würde alles wieder gut werden. Er musste sich die Ohren zuhalten und weiter segeln. Aber er verlor das Gleichgewicht, kippte und fiel nach vorne ins Wasser. Der Fluss schlug über ihm zusammen. Er wälzte sich herum, kam hoch und dann sah er sie, die Frau mit den Schlangenhaaren. Das Wesen wankte auf ihn zu und links und rechts quietschten die großen Schlangenköpfe dazu wild umher und peitschten sie an. Er schrie, aber das klang nicht wie seine Stimme. Er setzte die Segel, hinter ihm schrie die Medusa seinen Namen, er drehte sich um und sie war näher, er konnte sehen, wie die Schlangenhaare wackelten und zischten. Schon war sie über den Baumstamm. Weiter! Da vorne war der Wasserfall und endlich fand er sein Schwert. Es war viel leichter als vorhin, weil er jetzt ein Held war. Es stürmte und er konnte seine versteinerte Schwester retten. Dann schlug er zu.
Der Wind zerrte an seinem zerfetzen Hemd. Mit einer Hand hielt er sich am Zaun fest und als er sich dagegen lehnte, bog der sich nach vorne über den Rand. Hinter dem Zaun fiel der Wasserfall senkrecht ab in einen Steinbruch. Der Junge kroch zurück und versuchte zu atmen. Er sank auf die Knie, würgte zweimal aber übergab sich nicht. Er zitterte und Schweiß tropfte von seiner Stirn. Es waren die Tabletten. Er war krank. So wie Mama. Er war an keinem Wasserfall. Der Zaun bewegte sich, aber das war nicht echt. Das Schwert war blutig, aber das war nicht echt, es war kein Schwert, sondern einfach nur ein Ast. Er griff mit zitternden Händen an seine Hosentasche. Zuerst traf er sie gar nicht, aber als er die zweite und dritte Hand zur Hilfe nahm, schaffte er es, die Uhr aus der Tasche zu ziehen. Wie spät war es? Er sah auf das Pferd in der Uhr. Hinter dem Zaun, ganz unten, glitzerte türkisblau ein See, wie damals, vor dem mit Bella, als sie ans Meer fuhren. Endlich ans Meer fuhren, wie er es sich immer gewünscht hatte. Seine Eltern hatten ihn nachts aufgeweckt. Sie hatten beide so undeutlich geredet, dass er sie nicht verstand, aber beide sahen so glücklich aus. Sie versuchten, Bella in ihren Kindersitz zu schnallen, aber sie brachten dauernd die Verschlüsse durcheinander. Deswegen legten sie seine Schwester einfach zu ihm auf den Rücksitz und sagten, er solle sie ganz fest halten und auf sie aufpassen.
In der Stadt war kein Mensch mehr unterwegs. Er war so aufgeregt und Mama und Papa lachten die ganze Zeit, obwohl gar nicht dauernd wer was sagte. Sie fuhren manchmal ganz schnell, dann wieder ganz langsam und zweimal fuhren sie links gegen den Bordstein. Einmal blieben sie sogar mitten auf der Straße stehen, obwohl man das nicht durfte! Und Papa sang etwas. Sie waren so glücklich, damals, seine Eltern. Wahrscheinlich war es ihr glücklichster Tag? Sicher! Mama sagte, es würde nicht lange dauern und er nahm Bella ihre Uhr weg, um zu sehen, wo die Zeiger stehen würden, wenn sie am Meer wären. Er dachte immer, dass Meer sei ganz weit weg von der Stadt aber nach nicht mal einer halben Stunde sagte Mama schon: "Wir sind gleich da."
"Das das Meer so dicht vor der Stadt liegt", hatte er noch gedacht und dann waren sie ins Wasser gefahren, weil Papa nach der langen Reise so müde war und schlief.
Erst mussten seine Eltern Tabletten nehmen, weil er sie so mit dem Meer gequält hatte und dann musste Mama noch mehr nehmen, weil Papa tot war und Bella nicht mehr aufwachte. Seine Eltern waren krank und er hatte nicht auf sie aufgepasst, nur ständig gebettelt mit seinem dummen Meer! Aber jetzt würde alles gut werden. Er hatte das Blut. Er würde seine versteinerte Schwester retten. Dann flog er los.