Kritik des Perfektizismus
Perfektion ist der Zustand eines Systems, das sich nicht mehr entwicklen muß, weil es seine Funktionsziele bereits komplett erreicht hat. Perfekt ist die 4 bei dem Problem 2 + 2.
Der Körper ist nicht perfekt, da seine Funktionen nicht einem Ziel entgegenstreben, sondern um einen theoretischen Zustand namens Homöostase oszillieren. Ebenso ist es mit dem Zimmer: es wandelt sich bereits durch Deine Anwesenheit, den Wärmeaustausch zwischen Dir und der Luft. Sei es, daß das Zimmer je perfekt gewesen war: das wäre es schon im nächsten Moment nicht mehr und danach nie wieder. Und wann immer man den Himmel betrachtet und ihn als perfekt erkennt: schon während des Niedersinkens wären die Wolken weitergezogen, unmerklich oder stürmisch, und die Sonne ändert die Position, eine Fliege stört das Blau, das Perfekte geht und kommt nicht mehr. Schon nach der Begegnung mit Deiner perfekten Frau wäre sie nicht mehr perfekt, denn: das Ziel, der perfekten Frau zubegegnen, wäre erreicht. Sie wäre dann nicht mehr die Begehrte, sondern würde sich im gleichen Moment in die einst Begehrte wandeln und so sich selbst vernichten, so wie sich der Phönix selbst verbrennt, um danach 1000 Jahre als Asche da zu liegen. Menschen, die nicht perfekt sind, kannten nie ihre Struktur, kannten nie ihre Prozesse und kannten nie ihre Ergebnisse. Sie sind Systeme ohne volles Bewusstsein, ihr Leben ist vergleichbar mit dem Bewusstsein Schlafender. Die australische Urbevölkerung bezeichnet treffenderweise das Leben als „Traumzeit“: man dämmert von Tag zu Tag, ohne zu wissen, was man ist, was man tut, was man erreicht. Urfrage allen Philosophierens: was bin ich? Für diese Menschen ist das Perfekte die Antwort auf eine nicht formulierte Frage: es offenbart sich in der Trance privat zelebrierter Drogenerlebnisse oder im Genuß einer komplizierten Barockfuge oder im Betrachten des Lichtspiels in einem ebenmäßig gewachsenen Mineral. Diese Menschen streben nicht nach dem Perfekten, sie staunen es an. Einige machen sich auf den Weg, trainieren, meditieren, begehen unmenschliche Übungen, verbringen die köstliche Lebenszeit im Kloster oder im Weltall. Sie alle aber enden entweder im Wahnsinn angesichts der Zeitverschwendung, der Unwiederbringlichkeit vergraulter Freunde, oder aber sie werden alt in Weisheit, freunden sich mit sich selbst an und werden mild, wobei sie langsam nickend in einem Sessel sitzen. Bestimmt verhindern die Nichtperfekten nicht das Eintreten des Perfekten in das Leben des auf das Perfekte Wartenden, da nicht die anderen das System mit seinen Funktionen und Zielen definieren, sondern der Wartende selbst. Wartet er z.B. auf die Perfektion der Lösung auf das Problem 2 + 2, so können die Nichtperfekten sogar zur Perfektion beitragen, indem sie die Lösung durch die Rechnung offenbaren, gesetzt den Fall, daß der Wartende nicht rechnen konnte und die Nichtwartenden die Lösung auf die Rechenaufgabe 2 + 2 nicht als Weg zu ihrer Perfektion betrachteten. Bitte nicht lachen! Auf diese Weise haben sich im Alten Ägypten die Priester bis in den Götterhimmel katapultiert: sie konnten die Nilschwemme perfekt vorausberechnen!! In der Umkehr dieses Sachverhaltes kann auch der Wartende zum Erwarteten werden oder die perfekte Lösung zu dem Problem eines anderen bedeuten: dies alles setzt jedoch immer Kommunikation voraus. Und gewappnet für die tausendfache Frustration nach tausendfachen vergeblichen Versuchen sind nur wenige: es sind dies die unmenschlichen Übungen, dazu gehört auch die Nymphomanie oder etwa die Homosexualität: eine Suche nach etwas, was man nicht ist, die Frau schlechthin (befreit von der Ehe), der Sex schlechthin (befreit vom Geschlecht). Der Geist, befreit vom Körper: die Perfektizisten sind die, die zuwenig schlafen oder zuviel, zuwenig essen oder zuviel, sie sind extrem auf die eine oder andere Weise, weil sie sich vom Pendelzustand des Mittelmaßes hin zu einem (ihnen stabiler, "perfekter" erscheinenden) Extrem wenden: und statt diesen unmenschlichen, da unnatürlichen Kampf beizulegen, kämpfen sie weiter, verharren in einer Pose, rennen den 100-Meter-Lauf und meinen, die Bestzeit des Perfekten sei 0 Sekunden. Das Perfekte existiert dann, wenn sich die Struktur klar darüber ist, was sie will, Prozesse durchführt, die sie kann, und Ergebnisse hervorbringt, die sie begreift. Die permanente Selbstverbesserung ist ein Feind des Perfekten, denn Entwicklung braucht das Perfekte nicht, und besser werden bedeutet, noch nicht perfekt gewesen zu sein. Dennoch: wir sind Entwicklungsprojekte und somit Prozesse einer höheren Ordnung, eines höheren Systems. Nenne es Natur, nenne es Gott, wie auch immer: perfekt ist das Chaos gewesen, aus dem sich eine, nicht DIE Ordnung emporstemmte durch dieses „Ich will sein!“ (= ich will mich entwickeln!).
Der Suchende sei kein Wartender: er suche nicht in unbekannten Systemen, sondern in bekannten: am besten in sich selbst. Diese Suche bildet sich ab in Systemen, die der Suchende gut kennt: in der Art etwa, T-Shirts zu falten, also in dem wieder und wieder zelebrierten Erlebnis eines Rituals (T-Zeremonie!!!). Niemand wird Dir aus dem Nichts beschreiben können, wie die Perfektion im Zusammenfalten Deiner T-Shirts gelingt: niemand kennt das Innere Deines Kleiderschrankes. Tut es jemand doch, so ist´s schon nicht mehr Dein eigener Kleiderschrank … und schon wieder: Kommunikation!
Die Sehnsucht nach dem Perfekten ist verständlich, sie ist erlaubt, da sie nicht verboten ist. Eine perfekte Welt voller perfekter Menschen ist Utopia: die Menschen wären ohne Entwicklung, Buddhas, Kristallwesen, mehr noch, sie wären keine Menschen, nur perfekte Begriffe, wie die Reihe natürlicher Zahlen: 1, 2, 3, 4, 5 ... , Essenzen ihrer Selbst, ohne Sex, ohne Leid, Nirvana. Kein Lachen. Perfektion.
Perfektion ist ein Zustand, Leistung hingegen ein Quotient, ein Merkmal aus Struktur und Prozeß (Arbeit pro Zeit). Perfektion wäre dann Merkmal eines Ergebnisses, wenn der Prozeß eine Arbeit darstellt, die definiert ist als „perfektionshervorbringend“: und doch! Viele beginnen mit Arbeiten, wenn sie ihre Perfektion erreichen wollen. Wo doch das bewusste Trinken eines gekühlten Glases voll Milch bereits perfekt sein kann, wenn man klug genug war, es sich vorher so zurechtzudefinieren.
Perfektion als Zustand ist messbar als Größe, nennen wir sie den Perfektionsgrad P. Sobald die Struktur eines Systems ihr Ziel in Form von Ergebnissen anhand zielgerichteter Prozesse absolut erreicht, wird P = 1. Wenn ich ein perfektes = fehlerfreies Diktat schreiben will, bekomme ich die 1, wenn es tatsächlich keinen Fehler beinhaltet. Punctum.
Ergo: Perfektion ist möglich, wenn man die Aufgaben quantifizierbar (= messbar) und operabel (= durchführbar) gestaltet. Alles andere ist Maso. Wartend und suchend ist der Perfekte nicht, er ist auch nicht findend oder leidend:
der Perfekte ist planend. Und machend.