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Perfekte Sicherheit
Nikola Kostic hatte bisher jedes Problem lösen können und das musste er auch. Es war seine Aufgabe Dinge zu verstehen, die andere Menschen nicht verstehen konnten. Manchmal fragte er sich ob es eine besondere Gabe war, aber dann überzeugte er sich davon, einfach nur geduldiger zu sein als andere Menschen. Manche Dinge sind nicht schwer zu verstehen, sie brauchen bloß lange bis sie verstanden werden.
Als Kostic nach Amerika auswanderte hatte er ein einzigartiges Konzept in seinem Gepäck. Die Art von Konzept, die, von einem Ausländer in gebrochenem Englisch vorgetragen, jeden Vorstand verführte. Perfekte Sicherheit. Ein System, welches die Entwicklung von künstlicher Intelligenz sicher machen sollte. Die Herausforderung bei künstlicher Intelligenz ist es, zu verstehen wie die Maschine handelt. Die Gefahr liegt darin, die Maschine mit großer Rechenkapazität auszustatten und auf ein System loszulassen, ohne dabei die Handlungswege nachvollziehen zu können. Früh während seines Studiums hatte Kostic begriffen, dass die Handlungswege der Schlüssel waren, also machte er es sich zur Lebensaufgabe diese zu verstehen. Kostic Perfekte Sicherheit bestand aus zwei Teilen, einer physisch entsprechend vorbereiteten und sich ständig in der Weiterentwicklung befindlichen Testumgebung, und den dazugehörigen Testberichten, den gelben Heften. Die gelben Hefte waren Logs, ein Kommunikationskanal über den die KI mitteilte wie sie ihre Entscheidungen traf. Während seiner Kindheit besuchte Kostic oft seinen Onkel in Deutschland, dort las er dann in kleinen gelben Reclam Heften. Als er sein Konzept entwarf wusste er dass Gelb die richtige Farbe war. Eine kluge Entscheidung, denn diese Eigenart verlieh seinem Konzept einen einzigartigen Flair. Es überraschte ihn wie sehr der Flair über den Erfolg einer Idee entschied, besonders Vorstände liebten das exotische. Die gelben Hefte zu kontrollieren, zu verstehen und zu interpretieren war seine Aufgabe. Ein namhaftes Wall-Street Unternehmen gab ihm ein eigenes Büro, und dann ein größeres Büro mit Assistenten und eigener Abteilung. Das System machten große Fortschritte und der Vorstand schielte auf kaum zu beziffernde Gewinne bei einem technologischen Durchbruch. Kostic referierte auf Kongressen über Sicherheit, wurde zu einem Mythos in der Industrie. Auf einem dieser Kongresse lernte er Emily kennen. Er war nicht unansehnlich, seine Statur war männlich und er hatte einen starken Bartwuchs, trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass wieder einmal der Flair seiner Präsentation die Anziehungskraft auf Emily erzeugte. Sie verliebten sich, bekamen ein Kind (einen Jungen) und lebten wie eine normale Familie für vier Jahre. Dann veränderten sich die gelben Hefte. Kostic kaufte sich eine zweite Wohnung, die er zu seinem zweiten Büro machte. In den nächsten Monaten wurden die gelben Hefte komplexer, wie kleine Rätselhefte trieben sie ihn an seine intellektuellen Grenzen. Es war nicht ungewöhnlich dass er seine Familie für zwei Wochen nicht sah, bis zur Version 218.2. Noch am selben Tag informierte Emily ihn über die Scheidung, per Post in seine Büro-Wohnung. Kostic reagierte auf die Scheidung wie auf das Kündigungsschreiben eines Fanclubs, mangels Anwesenheit.
Das gelbe Heft der Version 218.2 hingegen raubte ihm den Schlaf. Schon immer brauchte er ein paar Minuten bis er einschlief, aber mittlerweile waren es Stunden und dann hatte er Albträume.
Die Sonne fiel durch einen kleinen Schlitz in der Jalousie auf Kostic Gesicht. Sein weißes Hemd war zerknittert, weil er darin im Bett lag, und die dunkle Jeanshose war an seinem rechten Bein hochgerutscht. Er genoss die Wärme der Sonne und versuchte still zu sitzen, um sie genau dort zu halten, mitten auf seinem Gesicht zwischen den dunklen Bartstoppeln und den tiefen Furchen auf seiner Stirn. Auf dem flachen Wohnzimmertisch vor ihm lagen Fachbücher, wissenschaftliche Arbeiten aus denen farbige Post-Its quollten, handschriftliche Notizen und ein gelbes Heft. Manche Seiten waren verknickt, und nahezu alle Seiten waren mit Notizen an den Rändern gefüllt. Kostic hielt das 218.2 Heft in den Händen, er hielt es so fest, dass seine Knöchel schmerzten. Dann nahm er seinen schwarzen Montblanc Füller, einen weißen Zettel und schrieb. Der Füller riss kleine Furchen in das Papier. Er probierte es erneut, aber seine Hände wollten ihm nicht gehorchen. Mit seiner linken Hand stabilisierte er seinen rechten Oberarm, so ging es einigermaßen. Warum hatten sich die Berichte so stark verändert? Und was hatte es zu bedeuten? Kostic fiel es schwer mit diesen Fragen in seinem Kopf ein normales Leben zu führen. Er hatte diese Entwicklung nicht kommen sehen und nun da sie da war wusste er nicht wie er damit umgehen sollte. Sein gesamtes Leben hatte er das System erweitert, optimiert und erprobt. Es war perfekt. Bis Version 218.2.
Die Einkäufe erledigte er seitdem nicht mehr selbst. Einmal in der Woche ließ er sich die Lebensmittel in seine Wohnung liefern. Er brauchte mehr Lebensmittel als vorher, denn er verbrachte weniger Zeit im Büro und mehr Zeit in seiner Wohnung. Im Büro mied er den Kontakt zu seinen Kollegen, zog sich zurück, stellte Musik an und versuchte das gelb verpackte Rätsel zu lösen. Das Heft wurde zum Zentrum seines Lebens, die Zahl 218.2 die Singularität seines Lebens, es war der Fehler, der nicht sein durfte, sein großes Geheimnis. Nicht einmal Yuri wusste davon. Yuri war wie Kostic ausgewandert, hatte stahlblaue Augen, blondes Haar und war zehn Jahre jünger als er. Kostic akquirierte ihn direkt von der Universität als seinen Assistenten und beide stiegen gemeinsam auf. Yuri fertigte die Berichte an, Kostic arbeitete diese durch und gab Yuri Optimierungsvorschläge und Systemänderungen zurück, die dieser dann mit der Abteilung umsetzte. Yuri bat ihn oft um Unterweisung, aber Kostic lehnte ab, es war sein System und dieses drohte nun zusammenzubrechen. Es war nicht das erste Mal, dass ein gelbes Heft ihn vor Probleme stellte, aber dieses Mal dauerte es bereits Wochen und er kam nicht weiter.
In der Hosentasche vibrierte sein Telefon zum siebten Mal an diesem Morgen, die Stelle an seinem Bein war mittlerweile fast taub. Er saß noch immer vor seinem Wohnzimmertisch.
»Wann bekomme ich die Ergebnisse?« fragte Yuri.
»Ich brauche noch etwas mehr Zeit. Einen Tag.« Kostic wusste dass es nicht reichte.
»Das ist schon der fünfte eine Tag. Gibt es Probleme?« Die Frage war berechtigt, trotzdem klang sie für Kostic wie eine Beleidigung.
»Nur noch einen Tag Yuri.«
Der Tag verging und das Problem blieb. Yuri kontaktierte ihn erneut und Kostic machte etwas, dass er sich geschworen hatte niemals zu tun; er spekulierte und hoffte.
»Und?« fragte Yuri.
»Ich schicke dir heute Abend den Bericht und die Vorschläge. Dann kann 218.3 starten.«
Die Optimierungen, die er Yuri schickte, waren Vermutungen. Das gelbe Heft war noch immer unverständlich, aber etwas mehr Zeit und er würde es lösen. Zeit war immer der Schlüssel.
In den nächsten Wochen bis 218.3 verlor er fünf Kilo und seine Hände zitterten ununterbrochen. Wenn er schlafen wollte, lag er entweder wach oder träumte fürchterlich. Er war sich sicher, dass seine Träume für seine zittrigen Hände verantwortlich waren, aber das Haus zu verlassen, um einen Arzt aufzusuchen, war keine Option. Im Internet riet man ihm ein Traumtagebuch zu führen. Jeden Morgen nach dem Aufstehen setzte er sich an seinen Laptop, öffnete eine Textdatei und schrieb. Danach setzte er sich an seinen Wohnzimmertisch und beschäftigte sich mit dem gelben Heft. Nach zwei Wochen hatte er weder ein Ergebnis noch wurden die Träume besser, und dann stand Yuri mit 218.3 in seinem Büro.
Er legte ihm das gelbe Heft vor die Hände. »Ich habe reingeschaut, wie verstehst du das? Wenn du mich fragst, hat es mehr Ähnlichkeit mit einem dieser schrecklichen E.E. Cummings Gedichte. Ich habe mal ein Mädchen gedatet, die mir jedes Mal nach dem Sex eines dieser Gedicht vorgeführt hat.«
Verunsichert schaute Kostic in das Heft, seine Hoffnung verwandelte sich in Verzweiflung. Zwei Wochen hatte er geopfert, ohne ein Ergebnis zu produzieren. Er war sich sicher, dass 218.2 eine Anomalie gewesen sein musste, es musste sich automatisch regulieren. Vor seinen Augen liefen Buchstaben, Zahlen und mittlerweile auch Zeichen kreuz und quer über die Seite, formten Muster, Geometrien und Befehlsfragmente. Bei diesem Anblick wurde ihm schwindelig. Er hatte sich getäuscht. Yuri wartete noch immer auf eine Antwort.
»Der Schlüssel sind die Muster«, log er und zeigte auf etwas, »ich habe eine Ansammlung korrespondierender Tabellen erstellt mit derer Hilfe ich den Mustern eine Bedeutungsebene geben kann.« Wie sehr wünschte er sich die Wahrheit zu sagen.
»Zeig mir die Tabelle«, sagte Yuri neugierig.
»Die ist zuhause, sorry Yuri.«
»Was willst du damit zuhause ohne die Hefte?« Yuri war scharfsinnig, die Hefte durften den Komplex nicht verlassen.
»Ein Versehen. Ich zeige es dir morgen.«
An diesem Abend ging Kostic ohne das neue Heft nach Hause. Auf dem Weg machte er einen Abstecher in den Supermarkt, nicht für Lebensmittel, sondern für Alkohol. Er trank eine halbe Flasche Scotch und drehte die Musik so laut es ging. Die kleinen Boxen platzten nach dem vierten Song von AC/DC, Kostic wurde wütend und warf die kleinen hölzernen Quader durch sein Wohnzimmer. Eine der Boxen räumte die Whiskey Flasche ab und die andere verfing sich im Kabel und schlug ihm gegen sein linkes Knie. Er fluchte und legte sich auf die Couch, unfähig zu schlafen oder wach zu sein. Er war in einer Welt zwischen den Welten, und schwitzte. Nach Minuten des schwindelerregenden Rausches auf der Couch ging er duschen. Zitternd stand er unter der Dusche und spülte sich den Schweiß von der Haut. Er versuchte auch die Verzweiflung wegzuschrubben, aber sie klebte an ihm wie eine zweite Haut, mittlerweile kaum von der ersten zu unterscheiden. Am nächsten Tag meldete er sich krank.
Zwei Wochen später stand Version 218.3 in den Startlöchern. Gegenüber Yuri erfand er jeden Tag eine neue Lüge über weitere Tabellen, neue Erkenntnisse und anstehende Optimierungen. Wie kleine Blutegel saugten sie ihm langsam das Leben aus.
Es war ein Freitagabend und er saß alleine in der Wohnung, als sein Telefon vibrierte. Emily. Das letzte Mal sprachen sie vor Monaten, daher brauchte er einen Moment, um sich daran zu erinnern wie sehr er sie eigentlich mochte.
»Unser Sohn hat am Montag seinen ersten Schultag, vielleicht hast du ja Lust ihn mit mir zu begleiten«, sagte sie.
»Eigentlich habe ich keine Zeit«, sagte Kostic.
»Du musst es wissen. Ich wollte es nur anbieten.«
»Danke.«
»Du klingst erschöpft.« Das sagte sie ihm früher oft.
»Ich habe vielleicht einen Fehler gemacht«, sagte er und erklärte ihr was passiert war. Was ist es, dass einen seinem Ex-Partner gegenüber so ehrlich macht?
»Warum gibst du deinen Fehler nicht zu?« fragte sie.
»Weil es bedeuten würde, mein System funktioniere nicht, aber das tut es.«
»Ist das System nicht dazu da Punkte wie diesen zu erkennen?«
»Ich denke es sind Anomalien, ich brauche bloß mehr Zeit, um es zu beweisen.«
»Ich finde du bist nicht ehrlich zu dir selbst. Du arbeitest dich noch tot.« Auch das sagte sie ihm früher oft.
»Ich bin ehrlich, ich brauche nur Zeit.«
»Du lügst.«
Kostic überlegte. »Ich glaube, ich muss Montag arbeiten. Danke für den Anruf.«
Das Wochenende blieb er schlaflos und das Traumtagebuch geschlossen. Er war sich nun sicher, dass die letzten Berichte Anomalien sein mussten, sowas passierte. Als er sein Büro betrat lag das gelbe Heft bereits auf seinem Schreibtisch, daran klebte ein kleiner Zettel. Kostic nahm den Zettel, dort stand in Yuris Handschrift: WO SIND DIE BERICHTE 218.2 und 218.3?! Kostic zuckte zusammen. Zum Glück hatte er die Berichte in seiner Umhängetasche dabei. Es hätte ihm ernsthafte Schwierigkeiten bereitet, die Berichte nicht vorweisen zu können.
In diesem Moment bemerkt er zwei Personen hinter sich, es waren Yuri und ein Fremder, der wie ein Sicherheitsbeamter aussah, in Uniform und mit breitem Kreuz.
»Nikola, ich weiß dass du die Berichte mitgenommen hast«, sagte Yuri.
Der Moment überwältigte Kostic, darauf war er nicht vorbereitet. Die Berichte waren immer noch in seiner Tasche, er konnte sie unmöglich ungesehen herausholen und auf den Schreibtisch legen.
»Ich weiß nicht wo die Berichte sind«, log er. Er machte sich nicht viele Hoffnungen mit der Lüge davon zu kommen. Yuri schickte den Sicherheitsbeamten in seine Richtung. »Zeig uns was in der Tasche ist.« Kostic wich zurück und stieß gegen seinen Schreibtisch. Wie ein Zug in Zeitlupe kam der Sicherheitsbeamte auf ihn zu, es gab kein Entkommen. Egal wie sehr er sich anstrengte, sein Kopf blieb leer und sein Körper war einer Auseinandersetzung nicht gewachsen. Also redete er.
»Ich habe gelogen«, sagte Kostic.
»Ich weiß. Du hast die Berichte mit nach Hause genommen.«
»Das meine ich nicht, ich habe gelogen, was die Berichte betrifft. Hundert Mal habe ich dich angelogen. Ich weiß schon lange nicht mehr was passiert.« Ich habe mich so lange selbst belogen, dass sich jetzt sogar die Wahrheit anfühlt wie eine Lüge. Yuri schaute ihn mit leerem Blick an. »Was soll das heißen? Wir haben Optimierungen durchgeführt und das System erweitert.«
»Alles gelogen.« Mit jedem Wort fiel eine unermessliche Last von ihm ab, es war wie ein Rausch, er wollte nicht aufhören zu reden. »Spekulationen, ich habe einfach geraten und so getan, als wüsste ich, was los ist.«
Es war offensichtlich, dass Yuri versuchte die Situation einzuordnen und zu bewerten, sein Blick wanderte hektisch von links nach rechts. Dann schien er seine Überlegungen zu beenden.
»Nein. Das glaube ich dir nicht, du bist ein Genie. Ich glaube, du willst unser System herunterfahren, um es einem anderen Unternehmen teurer zu verkaufen.«
»Ich will es runterfahren, weil ich nicht mehr für die Sicherheit garantieren kann! Die Berichte wurden von Version zu Version schlimmer.« Er wurde lauter, und dann, das erste Mal seit langem, war er ehrlich zu sich selbst. »Schau in 218.4«, er zeigte auf den Schreibtisch, »dann siehst du was ich meine.«
Yuris Mundwinkel hoben sich. »Das habe ich bereits, weil ich neugierig war und was soll ich sagen, die Logs sind so wie ich sie kenne.«
Kostic musste sich verhört haben, er griff nach dem Bericht und blätterte.
Version 218.4.
Keine Muster. Keine Geometrien.
Nur normale Logs. Stinknormale Logs. »Eine Anomalie«, hauchte er, kaum hörbar.
Er wurde zur Verwahrung in einen Raum gebracht und auf einen Stuhl gesetzt. Auf dem Tisch stand ein Kaffee. Er nahm einen Schluck und lehnte sich zurück. Sie würden ihn für einen Verstoß gegen die Geheimhaltung feuern, aber das war ihm egal, genau wie das sichere System. Sein Leben stand auf Pause und seine Hände waren still. Er machte die Augen zu. Die Müdigkeit einer gesamten Lebenszeit überkam ihn, und dann, das erste Mal seit einer sehr langen Zeit, schlief er einfach ein.