Perfekt
Elija zupfte seinem Freund am Ärmel, während er sich nervös umsah. Da war ein Geräusch, aber konnte nicht feststellen, wo es her kam. „Warte, noch eine Sekunde. Gleich hab ich es auf und du wirst sehen, was es da drinnen zu Futtern gibt,“ sagte Tar monoton, ohne sich von der Tür abzuwenden, deren Schloss er zu knacken versuchte. „Seit sie diese digitalen Sicherheitstüren haben, ist alles viel schwieriger. Früher reichte ein Schraubenzieher, notfalls ein Dietrich und die Sache war erledigt“. Elija zuckte zusammen, als die Tür plötzlich aufsprang, es war nur ein Nebeneingang zu der riesigen Lagerhalle, aber sie war trotzdem noch sehr imposant. Er folgte Tar, der durch die Tür verschwand. Drinnen konnte er seinen Augen nicht trauen, sogar sein Freund sah jetzt wohl mehr, als er sich je vorgestellt hatte. Nachdem sie sich wieder gefasst hatten, zogen sie los und suchten sich zuerst die besten Dinge aus: frisches Obst, Käse und Schokolade. Bald vergaßen sie die Kälte, die von den klotzigen Kühltruhen ausging und machten sich daran ihre Rucksäcke, mit allem was nicht allzu sperrig war, voll zu stopfen. „Deine Mama wird stolz auf dich sein, Elija, wenn du mit einem Rucksack voller Nudeln nach Hause kommst und vielleicht hast du ja Chancen bei der Judith, wenn du ihr eine Tafel Schokolade schenkst.“
Elija schaute auf, als ob er vorher gar nicht gewusst hatte, was er tat: „Ja, aber trotzdem ist das Diebstahl.“ Tar lachte auf „Überleg doch mal, wie lange hast du schon nichts richtiges mehr gegessen? Und hier sind volle Lagerhallen, es vergammelt! Sie haben uns alles weggenommen, aber sie brauchen es gar nicht, sie haben ja genug.“ Fragend sah Elija ihn an „Sie brauchen es nicht mein Lieber, sonst würden die Kartoffeln hier nicht verfaulen. Keiner von ihnen würde ordinäres Brot essen. Sie wollen uns verrecken lassen, wie Tiere, weil wir Krankheiten übertragen könnten, wie Ratten,“ sagte Tar wütend. Sein Freund schien bestürzt, sagte aber nichts. Als sie so viel eingepackt hatte, wie sie grade noch so tragen konnten, gingen sie wieder zum Ausgang. Elija hatte so etwas noch niemals gesehen: schimmliges Obst und Gemüse, säckeweise moderndes Mehl und staubige Kisten, voll mit Nahrung. Bei ihnen gab es nichts mehr, jedes Kind würde sich wegen einem vergammelten Apfel streiten, verzweifelte Mütter würden für ein Kilo des alten Mehls alles hergeben – und hier stand es rum, um von den Ratten gefressen zu werden. „Warum können sie es uns denn nehmen? Es ist unrecht, wir sind doch alle Menschen?“ diese Frage hatte Elija sich noch niemals gestellt, er wusste ja auch nicht vom Reichtum der ‚Anderen’. Tar lachte wieder „Sie müssen niemanden um Erlaubnis fragen, sie glauben sie wären Gott, könnten Leben und Tod geben. Sie sind dumm, das zu glauben. Niemand kann seine eigenen Kinder erschaffen und wenn sie zuerst noch so perfekt erscheinen, irgendwann wird ein Fehler an's Licht kommen und noch einer und immer mehr, denn sie haben nicht an alles gedacht, an was die Natur dachte. Dann werden wir es uns zurückholen..“
Sie gingen schweigend nebeneinanderher und Elija dachte über das nach, was sein Freund ihm erzählt hatte. Manchmal hatte er sich gewünscht, einer von „ihnen“ zu sein. Wieso konnten sie ihre Kinder in Laboren züchten? Und warum hatten sich seine Eltern damals für das Exil entschieden, nur um sich dem nicht zu unterwerfen? Was war der Fehler an der Sache, dass sie jetzt all das Leid auf sich nahmen, den Hunger, die Verachtung und das Gefühl, dass man falsch ist, falsch in einer Welt voller perfekter Menschen? Warum lehnten all die Leute, mit denen er lebte, es ab, in einer perfekten Welt zu leben, wenn es so einfach war?
Plötzlich ging das Licht an und noch bevor Elija wieder völlig aus seinen Gedanken aufschrak, fielen Schüsse. „Lauf Elija,“ hörte er Tar keuchen, der kurz darauf neben ihm zusammenbrach. Und Elija rannte, so schnell er konnte. Er wusste, sie waren hinter ihm, sie waren perfekt, sie sahen alles, sie rannten schnell, sie hörten das kleinste Geräusch. Er rannte, denn er wusste, dass sie ein einziger Fehler waren..