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Pecuniam et circenses

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16.06.2002
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Pecuniam et circenses

Pecuniam et circenses

Karl Kranz lebte in einem heruntergekommen Plattenbau am Rande der Stadt. Die Menschen, die die Stadt nicht mehr brauchte, spie sie an ihre Peripherie, in schmutzige, übelriechende Quartiere, die für diejenigen, die sich in der Welt des ständigen Sich-selbst-behaupten-müssens nicht mehr zurechtfanden, die allerletzte Möglichkeit darstellten, ein Dach über dem Kopf zu haben. Auch Karl Kranz gehörte zu jener Sorte Mensch, für die es in der geordneten Welt nie Platz gegeben hatte..

Die Viertel waren mit der Stadt nur durch teilweise asphaltierte Straßen erreichbar und selbst die mit Straßenbelag versehenen Abschnitte hatten Schlaglöcher. Die meisten Bewohner der Elendsquartiere wanderten zu den Müllhalden, um nach Brauchbarem zu suchen, das sie dann für ein paar Münzen am Markt ihres Viertels verkauften. Einige lebten auch vom Verkauf synthetischer Drogen, die sie in den Kellern oder sogar in ihren Wohnstätten selbst aus gestohlenen oder auf der Mülldeponie ergatterten chemischen Substanzen mit primitivstem Gerät herstellten. Dann und wann verirrten sich auch Vertreter diverser Versicherungsgesellschaften in das Viertel, die den Menschen für ihre Familienangehörigen Geld boten, wenn sie sich für Organspenden zur Verfügung stellten. Manchmal waren sie erfolgreich und jemand opferte sich dafür, daß die dann hinterbliebenen Angehörigen Aussicht auf ein besseres Leben hatten. Doch geschah es des öfteren, daß die Gesellschaften die Beträge nicht auszahlten und die dann hinterbliebenen Angehörigen weiter im Elend darben mußten.

Karl Kranz hatte eine kleine Tochter, die mit seiner Mutter zwei Stockwerke oberhalb lebte, da ihre Wohnstatt zwei Zimmer hatte und es für das Kind etwas mehr Platz gab. Seine Tochter hieß Melanie, war sechs Jahre alt, und verbrachte den ganzen Tag bei ihrer Großmutter, die sie nicht alleine außer Haus ließ, um sie nicht der Verwahrlosung preiszugeben. Karl Kranz’ Frau hatte ihn und Melanie vor vier Jahren verlassen. Keiner wußte, wo sie verblieben war. Karl war schon in jenem Elendsviertel aufgewachsen und kannte nichts anderes, seine Mutter jedoch erzählte immer von „den besseren Zeiten" als alles anders war und man sich in der Welt noch zurechtfand.

Karl Kranz’ Nachbar, Klaus Brom, lebte vom Diebstahl, was nicht ungefährlich war, denn man mußte immer etwas Geld bei sich haben, um die Sicherheitsbeamten der verschiedenen Wachgesellschaften, die durch die Stadt patrouillierten, bestechen zu können. Außerdem mußte man, wenn man in die Stadt fuhr, angemessen gekleidet sein, ansonsten wurde man von den Sicherheitsdiensten nicht durchgelassen. Doch Klaus Brom schaffte es immer, sich aus den gefährlichsten Situationen heraus zu manövrieren. Er versorgte Karl mit dem Nötigsten, Lebensmittel, Tabak und manchmal auch ein wenig Seife. Dann und wann brachte er Melanie auch ein kleines Spielzeug.

In Melanie’s Raum lag nur eine schmierig verschmutzte Matratze, in der Ecke eine Kiste mit Spielzeug. Ihre Lieblingspuppe, ein Geschenk von Klaus Brom, hatte sie immer bei sich. Wenn es Strom gab, man hatte die Leitungen verbotenerweise angezapft, konnte ihre Großmutter eine warme Suppe aus Kartoffeln auf dem Kocher, der am Boden des von ihr bewohnten Raumes stand, zubereiten.

Eines Tages kamen zwei Journalisten in das Viertel. Als ihr Geländewagen hielt, kam sofort eine Schar verwahrloster Kinder angerannt und umringten die beiden Journalisten, um Geld zu erbetteln. „Ist das ein Albtraum." stöhnte Liz und ihr Kollege, Ron, versuchte die immer größer werdende Ansammlung an Menschen, die sie umzingelten, zu verscheuchen. Liz nahm die Gaspistole aus der Innentasche ihrer Jacke und hielt sie drohend in die Ansammlung. „Geht, geht nach Hause." Die Kinder rannten fort. Sie öffnete den Kofferraum und nahm das Megaphon heraus. Ron machte einen Sprechtest und ging näher zu den drei Plattenbauten, die von der mit vertrocknetem Gras und Unrat bedeckten Bodenfläche emporragten. „Wir sind von einem Fernsehsender. Sie können viel Geld verdienen, wenn Sie sich für eine Livesendung zur Verfügung stellen. Bitte kommen Sie zu unserem Wagen, wenn Sie Interesse haben." Aus einem Fenster wurde ein leere Flasche geworfen. Ein Jugendlicher, der Ron von hinten beobachtet hatte, warf mit einem Stein nach ihm. Ron duckte sich rechtzeitig, und der Stein prallte auf die mit obszönen Sprüchen und Zeichnungen beschmierte Hauswand.

Karl hörte die Ansage und beschloß, sich einmal zu erkundigen, worum es bei jener Sache ginge. Er lief die Treppe hinunter ins Freie, Ron hinterher, der aus Furcht vor weiteren Angriffen nach der Ansage zurück zum Wagen eilte. Karl näherte sich zaghaft dem Geländewagen. „Ich würd’s machen, kommt darauf an, was es ist." sagte er schüchtern zu den beiden Journalisten. Sie beschlossen, die Sache in Karls Behausung zu besprechen. Als Sie in den Plattenbau eintraten, hielt sich Ron ein Taschentuch vor die Nase, da ihm vor dem üblen, fauligen Geruch ekelte. Liz blieb beim Wagen stehen, und hielt ihre Gaspistole in der Hand, um etwaige Bettler oder Diebe abzuschrecken. Das Interesse an den beiden Besuchern hatte jedoch nachgelassen und es scherte sich niemand mehr um die Außenseiter.

Karl bot Ron auf einem der beiden wackeligen Holzsessel Platz zu nehmen, die einem mit eingetrockneten Essens- und Getränkeresten verschmutzten Tisch traurige Gesellschaft leisteten. „Was muß ich tun." wollte Karl wissen. „Nun, zu allererst haben Sie Angehörige?" wollte Ron wissen. „Ja, warum?" „Das ist doch kein Organhandel, die kommen nämlich öfter her und dann ist jemand bereit und die Angehörigen bekommen oft das Geld nicht." Karl wurde stutzig und runzelte die Stirne. „Nun", versuchte Ron zu erklären, „es geht darum, daß wir Sie für unsere Sendung «Justice live» bräuchten, das heißt, Sie müßten sich zur Verfügung stellen für, ähhm, wie soll ich sagen, für eine Art Show, die in einem Stadion stattfindet und live übertragen wird, aber, das ist, hmm, tja, Sie würden sich opfern müssen." Karl verstand gar nichts mehr. „Also wie jetzt?" fuhr er Ron an. „Also, Sie sterben bei der Veranstaltung." „Und das Geld?". „Das bekommen Ihre Angehörigen, Sie haben ja welche, sagten Sie." „Ja, meine Tochter und meine Mutter." Ron drehte seinen Kopf zur Seite, als er sah wie eine Kakerlake über die Tischplatte huschte.

„Wenn Sie einverstanden sind und teilnehmen", sagte Ron, „gibt es für Ihre Tochter und Ihre Mutter vierhunderttausend, beziehungsweise sechshunderttausend." Karl pfiff, als er den Betrag vernahm. „Das heißt meine Tochter könnte mit meiner Mutter in der Stadt leben und zur Schule gehen." „Ja!" antwortete Ron knapp. „Sorgen hätten sie auch nicht mehr viel." meinte Karl nachdenklich. „Nein, bei vierhunderttausend...". Karl bat Ron ein wenig zu warten, um seine Mutter nach unten zu holen, um sie bei diesem Gespräch dabei zu haben.

Als seine Mutter erfuhr, worum es sich handelte, schlug sie Ron ins Gesicht. Ron drehte den Kopf mit einem Ruck zur Seite, als die Hand seine Wange traf. Sie schrie in an, er solle verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Karl hielt sie daran zurück Ron noch einmal zu ohrfeigen, und bat Ron, der zur Tür flüchten wollte, noch zu bleiben. „Tu das nicht!" sagte Karls Mutter ganz leise. „Aber für Melanie ist das die Lösung, ansonsten bleibt sie hier für immer, nicht mal lesen kann sie, denk daran, daß mit dem Geld alles möglich ist, Schulgeld, Kleidung, Wohnung." sagte Karl mit ganz ernstem Blick. Es war ganz still im Raum. Karl erklärte schließlich sein Einverständnis. Seine Mutter schwieg und weinte. „Das Geld will ich vorher haben." sagte Karl. „Ja, vor der Sendung, wenn wir Sie dann abholen, bringen wir den Scheck, den Ihre Mutter dann auf dem eigens für sie eröffneten Konto einlösen kann."

Ron rief Liz auf dem Mobiltelefon an, um ihr mitzuteilen, daß sie einen Kandidaten hätten. Ron verließ Karls Wohnung, und versprach in ein paar Minuten mit dem Vertrag wiederzukommen.

Als Ron Karl wieder gegenüber saß, begannen sie über Details zu sprechen. „Also", sagte Ron mit ernster Stimme und sprach sehr langsam, „wenn Sie die Rolle des verurteilten Mörders übernehmen gib’s vierhunderttausend für Exekution auf der Streckbank, wenn Sie bereit sind, sich als Verurteilter wegen Vergewaltigung und Raubmord zur Verfügung zu stellen gibt’s die sechshunderttausend, allerdings ist das noch schmerzhafter." Karl entschied sich für letzteres und machte drei Kreuze unter den Vertrag. „Wird schon nicht so arg sein", dachte er und beruhigte sich selbst, indem er daran dachte, daß Melanie zur Schule gehen würde und ein Leben ohne Sorgen führen könne. „Morgen früh um sechs also, und danke vielmals" lächelte Ron und verabschiedete sich mit einem Händedruck.

Ron kam gemeinsam mit fünf anderen, um Karl abzuholen. Melanie schlief noch in ihrem Zimmer, seine Mutter war in Karls Wohnung gekommen, um sich zu verabschieden. Sie schwieg, in ihren Augen lag unendliche Traurigkeit, eine Traurigkeit, die keine Tränen mehr hatte, die bitter und unermeßlich war. Eine Traurigkeit, die hinnahm, was unabdingbar schien, die keine Wut, keinen Zorn, kein Auflehnen mehr zuließ, die keinen Trost mehr duldete, die unendlich war. Sie umarmte Karl. „Das Geld, wo ist das Geld." flüsterte Karl mit erstickter Stimme. Man überreichte ihm den Scheck. Er gab den Scheck seiner Mutter, „Du wirst das schon machen" sagte er. Man gab ihr auch die Adresse der Bank sowie die Nummer des Kontos, das zur Gutschrift des Schecks eröffnet worden war.

Man fuhr zum Stadion. Übermächtig glänzte es in der Morgensonne. Es war ein ovaler Rundbau aus weißem Beton, dessen oberste Riege mit einer elliptisch gebauchten, nach außen hin offenen Glasüberdachung umfaßt war. Es faßte mehr als hunderttausend Zuschauer und gehörte dem Unterhaltungskonzern Gaudium-com, zu welchem auch der Fernsehsender Iocatio-Tv gehörte, der die Sendung veranstaltete.

Man führte Karl in einen Aufenthaltsraum des Stadions. Als er den Raum betrat, ließ Karl seine Augen ehrfurchtsvoll durch den Raum schweifen. Seine Blicke streiften die makellos weiß gestrichenen Wände, verweilten auf dem Großen Gemälde, das eine Küstenlandschaft darstellte, wanderten zur schwarzen Lederbank an der Wand, oberhalb welcher das Bild angebracht war, zum gläsernen Couchtisch vor der Bank und dem Bunten Teppich, dessen flaumiger Flor von den Tischbeinen eingedrückt wurde. „Setzen Sie sich doch" sagte Ron lächelnd und wies mit der Hand auf die Lederbank. „Die Sekretärin bringt uns gleich Kaffee." Ron ließ sich einen Sessel bringen und setzte sich Karl gegenüber. „So, Herr Kranz um sechzehn Uhr ist es soweit. Nach dem Mittagessen werden wir dann alles vorbereiten." Karl nickte. Ein beleibter Mann mittleren Alters betrat den Raum. „Ah das ist Doktor Strauch, der Arzt." rief Ron erfreut und erhob sich aus dem Plastiksessel, um den Doktor zu begrüßen. „Herr Doktor, das ist unser heutiger Kandidat." sprudelte es aus Ron voller Heiterkeit. Der Doktor reichte Karl die Hand und setzte sich auf den von Ron zuvor gewärmten Sessel. „So Herr, wie war ihr Name..." er blickte auf seine Unterlagen, die er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, „ah ja, Herr Kranz. Gut. Ich sehe Sie sind relativ gesund, wenn man das bei Leuten aus Ihr.." er unterbrach sich, „Gut. Sie wissen was eine Streckbank ist." „Nein" erwiderte Karl gleichgültig. „Also, dort werden Sie hingerichtet, es wird sehr weh tun. Leider kann ich ihnen keine Narkotika verabreichen, denn das hat der Sender untersagt, weil das Publikum.., na ja, das so will." Er holte tief Luft und fuhr fort „Sie werden durch die Streckbank sozusagen gevierteilt, also die Glieder werden Ihnen ausgerissen." grummelte der Arzt und blickte Karl mitleidsvoll an. Karl erschrak und erbleichte. „Es ist für Melanie" dachte er, und ließ den Redefluß des Arztes über sich ergehen. „Dann wird der Henker ihnen die Bauchdecke öffnen, das ist so bei Grad fünf, für den Sie sich per Vertrag entschieden haben. Währen der ersten Etappe werden Sie höchstwahrscheinlich ohnehin ohnmächtig und spüren dann eh nichts mehr.. so, das wär’s." Der Arzt verabschiedete sich. Karl bekam Angst, er bereute mittlerweile seine Entscheidung, aber immer wieder dachte er an Melanie und, daß es ihr gut gehen werde nachher.

Ron sah besorgt auf seine Uhr, da er die Vertreter der Firma Juris-com erwartete. „Wir könnten inzwischen," meinte er fahrig, „etwas essen, wo bleibt denn der Kaffee, verdammt." Er öffnete die Türe und brüllte hinaus wo denn der verfluchte Kaffee bleibe. Eine großgewachsene brünette junge Frau eilte aus einem Zimmer mit einem Tablett, auf dem vier Tassen wohlig vor sich her dampften. „Tut mir leid", keuchte sie abgehetzt, „heute ist wieder die Hölle los." und stellte das Tablett auf den Couchtisch. Inzwischen waren die beiden Vertreter von Juris-com und eine Psychologin des Anima-Konzerns eingetroffen. Es wurden mehrere Sessel herbeigebracht. „Nehmen Sie doch Kaffee" säuselte Ron zu Karl. Karl lehnte ab. Es war ihm mittlerweile alles gleichgültig geworden, er dachte nur an Melanie und daß es ihr gut gehen werde nachher.

„So Herr Kranz", lächelte der eine Vertreter von Juris-com, „Sie haben sich also bereit erklärt bei uns mitzumachen. Ein gutes Werk, wirklich", sein Kollege nickte. „Also, es geht darum, daß wir mit der Sendung viel Geld machen, mit dem wir dann unsere Richter und Anklageanwälte bezahlen, wir sind nicht so wie Lex-com, die von der Regierung unterstützt werden und so laxe milde Strafen verhängen, aber das interessiert Sie wahrscheinlich nicht... Also, das ist nur Show, auch die Richter, die kommen werden, sind nur Schauspieler, niemand von uns. Also sehen Sie es bitte als Spiel, OK?". Karl blieb gleichgültig. „Hier ist das Formular", der Vertreter von Juris-com legte es vor Karl auf den Tisch. „Da steht drinnen, daß dies kein echter Strafvollzug ist, sondern ein Schaustück zur Finanzierung der Gerichte von Juris-com, bitte hier unterschreiben, damit alles seine Ordnung hat...". Karl setzte mit ungerührter Miene drei Kreuze unter den Text, den er ohnehin nicht lesen konnte.

Die beiden Herren von Juris-com verabschiedeten sich und eilten aus dem Zimmer. Das Mittagessen wurde gebracht und Karl schüttelte ablehnend den Kopf, als man ihm den Teller reichte. „Aber Sie müssen doch, Herr Kranz, damit’s schön gurgelt wenn..., verzeihen Sie." Ron unterbrach seinen Wortschwall.


Die Streckbank war schon in der Mitte des Feldes im Stadion aufgestellt. Es war ein Gerät aus Gußeisen in der Form einer Pritsche, eine ausgeklügelte Maschine mit einem System von Zahnrädern und Spindeln. Die Oberfläche war spiegelglatt und durch vier dünne Spalten unterbrochen. An den Ecken befanden sich runde Befestigungen, in welchen die Knöchel der Hände und Füße des zu Streckenden festgehalten wurden. Wenn das Gerät eingeschaltet war, begannen sich die Teile durch das Spindelsystem langsam auszudehnen, wodurch der Hinzurichtende schließlich gevierteilt wurde.

Kameras und Mikrofone wurden rund um die im Sonnenlicht funkelnde Maschine aufgestellt. Übertragungstests wurden gemacht. Drei Mikrofone und eine Minikamera wurden direkt an der Maschine befestigt. Das Geschehen sollte auch auf den beiden Riesenbildschirmen im Stadion zu sehen sein, damit die Besucher in den hinteren Reihen es ebenfalls aus aller Nähe verfolgen konnten. Die ersten Zuschauer begannen bereits einzutreffen. Jeder Besucher bekam vor der Vorstellung ein Glas Wein und ein Brötchen.

„Bald ist’s soweit" sagte die Psychologin, die die ganze Zeit über stumm geblieben war, um sich ihrem Mittagessen zu widmen. „Sie wissen, was Sie auf Sie wartet Herr Kranz." sagte sie mit ernster Miene. „Man wird sie beschimpfen, als Mörder und so." Karl hörte ihr nicht zu. „Also, Sie müssen sich immer nur denken, daß damit nicht Sie gemeint sind, verstehen Sie mich..." Karl war geistig vollkommen abwesend. Sie stand auf und tätschelte Karl die Hand bevor sie ging.

Das Stadion war nun vollends besetzt. Der Ministerpräsident hatte auch schon auf der Ehrentribüne Platz genommen. Die als Richter verkleideten Schauspieler hatten sich auf dem Spielfeld des Stadions eingefunden. Man war bereits auf Sendung. Der Präsentator hatte das Mikrofon in seinen klobigen Händen. „Willkommen im Namen von Iocatio-Tv, gute Stimmung heute, wow." Das Publikum begann zu toben. „Willkommen bei Justice live, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Zuschauer zu Hause an Ihren Fernsehgeräten! Heute können wir live die Hinrichtung eines Raubmörders und Vergewaltigers erleben." Das Publikum grölte und rief „Pfui! Nieder! Tod!" Der Ministerpräsident erhob sich und hielt eine kurze Rede. „Im Namen der Regierung danke ich Juris-com und Iocatio-Tv dafür, daß wir heute praktizierte Justiz erleben dürfen. Die Liveübertragung wirkt abschreckend und daher sinkt die Kirminalitätsrate in unserem Land. Herzlichen Dank." Der Ministerpräsident nahm wieder Platz.

Karl wurde in das Stadion geführt. Als er, bewacht von zwei Sicherheitskräften der Juris-com, das Feld betrat, gerieten die Zuschauer in Extase. Karl wurde von Spucke aus der ersten Reihe getroffen, manche warfen mit Urin gefüllte Plastiksäcke hinunter auf das Spielfeld. Man rief „Mörder! Schänder! Verrecke! Krepier!". Man entkleidete Karl zur Gänze und legte ihn mit ausgestreckten Armen und Beinen auf die Streckbank. Die als Richter verkleideten Schauspieler verlasen noch einmal das Urteil. Vier Männer hielten ihn an Armen und Beinen fest, die Runden Gußeisenringe senkten sich surrend und umschlossen seine Hand- und Fußknöchel immer fester. Das Spindelsystem begann zu arbeiten. Ein Priester kam herbeigeeilt, er hatte sich verspätet, da sein Wagen nicht ansprang und er den Pannendienst benötigte. Er säuselte Karl „Möchten Sie noch etwas sagen" ins Ohr, doch Karl drehte den Kopf zur Seite. Anfangs spürte er fast nichts, dann fühlte er ein immer stärker werdendes Ziehen in seinen Gliedern, das immer heftiger wurde und schließlich in einen immer mächtiger werdenden Schmerz überging. Karl stieß seinen ersten Schmerzensschrei aus, der durch die Mikrofone im ganzen Stadion hallte. Das Publikum jubelte. Karls Schmerzen wurden immer stärker, er schrie immer lauter, das Publikum erhitzte sich immer mehr. Seine Glieder wurden langsam länger, das Dehnen und Strecken bereitete Karl immer stärkere Schmerzen, er brüllte immer verzweifelter. Sein Atem wurde flacher. Er verspürte großen Durst. Er bettelte mit ganz leiser erstickter Stimme nach Wasser. Die Maschine begann sich unbarmherzig in vier gleich große Würfel aufzuteilen, zog immer weiter, Karls Rumpf lag frei über dem Spindelkreuz. Aus den Innenseiten bewegten sich Gußeisenplatten aufeinander zu, und hoben sich nach oben bis sie einrasteten. Karls Oberkörper hatte wieder eine Unterlage. Ein Knacken war zu hören. Nochmals ein Knacken. Karls Gelenke begannen sich auszurenken. Er schrie, brüllte vor Schmerz. Die Schmerzen wurden immer stärker. Noch heftiger, noch beißender. Das Publikum bebte in extasicher Erregung. „Verrecke Mörder! Krepier Schänder!"

Karl wurde ohnmächtig. Ein Arm war bereits ausgerissen, eine riesengroße rot-rosa-weiß gescheckte Wunde klaffte dort, wo vorher seine Schulter war. Man schüttet ihm einen Eimer Wasser über den Kopf. Karl erwachte. Sein Darm und seine Blase hatten sich entleert. Er sah das Blut neben sich fließen, er roch es, er schrie. „Stirb!" hallte es aus den Reihen der Zuschauer.

Karls Beine waren mittlerweile vom Rumpf abgetrennt. Ein Arm war noch, bis aufs äußerste gedehnt, mit dem Rumpf verbunden, der befleckt und umringt mit Blut beinahe leblos auf der Foltermaschine lag. Karl atmete noch ganz schwach, doch hatte längst wieder das Bewußtsein verloren. Der Brustkorb wies noch ganz sachte fast unmerkliche Bewegungen auf. Der Scharfrichter kam. Der Scharfrichter hielt ein großes säbelartig gekrümmtes Messer. Er schnitt Karl in den Bauch. Öffnete die Bauchdecke, lappte das Fleisch um, sodaß die Gedärme frei offen lagen. Karl erlangte für einen kurzen Moment aufgrund des durch den Schnitt verursachten unbeschreiblich heftigen Schmerzes wieder das Bewußtsein. Er fiel dann nach jenem kurzen Moment der quälenden Wachheit wieder zurück in die Dunkelheit der Ohnmacht. Das Publikum war nun vollends erregt. „Jahhh!" „Ohhh!" „Weiter, weiter, weiter!" tönte es aus den Zuschauerbänken unisono. Karl röchelte nur mehr ganz leicht, er war dem Tode ganz nahe. Sein hellbraunes Haar war schlohweiß geworden. Sein Atem erlosch.


Die Darbietung war zu Ende. Das Publikum begann das Stadion zu verlassen. Ron hatte die Einschaltquoten durchgesagt bekommen und rieb sich die Hände. „Ein voller Erfolg, das bringt Prämie" sagte er zu sich selbst.

Früh am Morgen kam das Reinigungspersonal und jenes der Bestattungsfirma, das in Schutzanzügen eintraf. Karls Gliedmaßen wurden von den Befestigungsringen befreit, man nahm einen großen Sack aus Kunststoff, in welchen man Karls Körperteile legte. Der Sack wurde verschlossen und auf einen Transportwagen verfrachtet, der den Sack an einen Ort weit draußen vor der Stadt brachte, an dem man eine Grube als Massengrab ausgehoben hatte. Die Wächter öffneten die Frachtkabine des Wagens, packten den Sack an den Enden, trugen in zur Grube und warfen ihn achtlos hinab.


Zwei Tage später bat Karls Mutter Klaus sie in die Stadt zu bringen. Er organisierte ein einigermaßen neu aussehendes Kleid. Er selbst hatte genug gute Kleidung, um in die Stadt hineingelassen zu werden. Als sie die Bank betraten, um den Scheck einzulösen, war der Schalterbeamte ein wenig verwirrt. Er tippte flink in seinem Rechner, doch er fand nichts. „Es tut mir leid, aber da ist kein Konto." „Aber der Scheck" stotterte Frau Kranz besorgt. Der Schalterbeamte verschwand hinter einer Holztüre. Als er nach einer Weile zurückkam meinte er, daß er den Scheck überprüfen habe lassen, dieser nicht gedeckt und daher wertlos sei. Klaus Brom und Anna Kranz verließen die Bank, wortlos.

 

Hallo Echnaton.

Boah, ich bin wirklich sprachlos (mal wieder, ich weiß :)); sehr grausam und menschenverachtend. Ich wußte zwar, daß es so ausgehen würde, aber das tut der Geschichte keinen Abbruch.

Die Idee ist zwar auch nichts Neues, aber auch das macht die Story nicht weniger gut.

Ein dickes Lob. :thumbsup:

Gruß,
stephy

 

Hallo Stephy,

freut mich, daß es Dir gefallen hat. Natürlich ist die Idee nichts Neues, was die Alten Römer schon erfunden hatten (die Spiele), wurde im Mittelalter ja noch "verfeinert", dank der Inquisition.

Jedenfalls denke ich, daß unsere Gesellschaft derzeit in die vollkommen falsche Richtung geht. Wenn wir so weitermachen ist's aus mit dem Humanismus.

liebe Grüße

Echnaton

 

Hallo, Echnaton!

Du zeichnest mit drastischen, starken Worten ein Bild von einer Gesellschaft, die sich so sehr gar nicht von der unseren unterscheidet. Grausamkeiten zogen die Menschen schon immer in ihren Bann und daran hat sich, leider, bis heute nichts geändert.
Sehr treffend, dein Beispiel, wie die Medien des Geldes wegen über Leichen gehen. Beifall!

P.S.: Realer Humanismus wird Wunschdenken bleiben.


Ciao
Antonia

 

Hallo Antonia,

danke für Deine Antwort. Die Geschichte ist mir eingefallen, als ich im Österreichischen Fernsehen eine Doku vorgesetzt bekam, in welcher man das kapitialistische System nach US-Vorbild als die allein glückseligmachende Lösung für die "Probleme" (im derzeit viertreichsten Land der EU, kann man Porblem ruhig unter Anführungszeichen setzen). Da wurde die Hochleitungsgesellschaft als die effizienteste dargestellt. Derzeit werden wir hier mit solchen Inhalten bombardiert, damit man getrost all die sozialen Errungenschaften wieder rückgängig machen kann, die man hier, wie überall in Westeuropa, mühsam jahrzehntelang aufgebaut hat.

Wenn der Privatisierungswahn die Gerichte trifft..., dachte ich, und hab die Geschichte weitergesponnen. Unrealistisch? An den Haaren herbeigezogen?

Allerdings hat man nach der Hochwasserkatastrophe eine Welle der Hilfsbereitschaft erlebt, die man bisher nicht kannte. Doch Hoffnung?

Derzeit läuft trotzdem alles in die falsche Richtung und das stimmt mich sehr traurig und pessimistisch.

liebe Grüße

Echnaton

 

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