- Beitritt
- 31.10.2003
- Beiträge
- 1.543
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 25
Pech gehabt
Das Brennen in meinen Augen ist da, noch bevor ich sie geöffnet habe. Ich lege die Finger auf die Lider und sauge zischend die Luft durch die Zähne.
Hatte das Handy geklingelt? Oder bin ich durch dieses Brennen aufgewacht? Ich versuche, zu blinzeln, erkenne kurz, dass es nicht mehr dunkel ist, presse die Finger aber sofort wieder auf die Lider, um diese todbringende Helligkeit nicht weiter in die Nähe meiner Pupillen zu lassen.
Ein wenig beruhige ich mich und atme tief aus. Ich habe mir vor einiger Zeit einmal beim Schälen einer Zitrone deren Saft ins Auge gespritzt, und fühle mich sogleich an diesen Tag erinnert.
Vorsichtig reibe ich mit dem Daumen über das Auge. Immer in Richtung Nase, das habe ich von meiner Mutter gelernt, damals vor über dreißig Jahren. Immer Richtung Nase, hatte sie gesagt, und meine Oma hatte zustimmend genickt.
Ich habe den Sinn darin zwar nicht verstanden, aber es ist haften geblieben. Wenn du etwas im Auge hast, dann reibe es in Richtung Nase wieder heraus. Das ist das Gesetz.
Heute kenne ich den Grund, deshalb tue ich es.
Ich taste neben mich und berühre das Kissen meiner Frau. Es fühlt sich kalt an. Logisch, ist sie doch vor zwei Tagen mit den Kindern gefahren. Nur kurz, aber besser so, hat sie gesagt. Einfach ein wenig Abstand, hat sie gesagt. Das Brennen in den Augen wird stärker.
Mühsam will ich mich aus dem Bett kämpfen, doch die Beine verheddern sich in dieser verfluchten Ikeabettwäsche, und beinahe wäre ich tatsächlich aus dem Bett gefallen. Ich atme tief und langsam aus, dann versuche ich, ohne Zuhilfenahme der Hände – die müssen schließlich dafür Sorge tragen, dass meine Augäpfel nicht aus ihren Höhlen springen – mich aus dem Wäscheknäuel zu befreien.
Als dieses nicht sofort gelingt, fluche ich lautstark, zapple mit den Beinen, als müsse ich mich in einem tiefen See aus irgendwelchen Algen befreien, und irgendwann – scheinbar Stunden später – schaffe ich es dann doch. Meine nackten Füße berühren den Boden, der sich genauso kalt anfühlt wie das Kopfkissen meiner Frau.
Jetzt spüre ich, dass mir Tränen unter den Fingern hindurch über die Wangen laufen. Ich reibe wieder – Richtung Nase – doch das Brennen lässt nicht einen winzigen Deut nach. Im Gegenteil, es wird mit jedem Atemzug schlimmer, scheint mir. Vielleicht sollte ich einfach das Atmen einstellen.
Ich verlasse das Bett und taste mich mühsam mit dem Körper an den Wänden entlang in Richtung Badezimmer. Als ich in den Korridor einbiege, stoße ich mit dem kleinen Zeh gegen den Türrahmen, was mir noch mehr Tränen in die Augen treibt. Mit dem Rücken lehne ich mich an die Wand. Mit Sicherheit ist er gebrochen. Jeder Mensch bricht sich zig Mal im Leben die Zehen, ohne es groß zu merken. Letzteres halte ich im Moment allerdings für ein Gerücht. Das Zehenbrechen als solches hingegen ist wiederum eine These meiner Mutter; brich dir mehrmals im Leben den Zeh und reibe dir die Augen immer in Richtung Nase. Aber bestimmt ist auch hier ein Funke Wahrheit enthalten.
Ich erreiche das Bad, drehe den Wasserhahn auf – kalt natürlich – und reibe vorsichtig über meine Lider. Für einen Moment stöhne ich erleichtert auf, doch dann meldet sich das Brennen zurück. Und diesmal um einiges intensiver als zuvor. Inzwischen habe ich das Gefühl, ein Glassplitter hat sich in meine Netzhaut gebohrt. Wieder fluche ich laut.
Ich schaffe es, mich zum Klo zu bewegen und zu pinkeln. Zum Glück bin ich seit meiner Hochzeit Sitzpinkler.
Meine Handflächen halte ich vorsichtig vor die geschlossenen Augen; zu viel Druck ist unangenehm. Mein Zeh pocht, als ich aus dem Schlafzimmer den Wecker höre.
* * *
„Soll ich es mir mal ansehen?“
Ich sitze auf dem Küchenstuhl und Melvin mir gegenüber. Zumindest hört es sich so an. Er ist vor gut fünf Minuten hier aufgetaucht und hat mich behutsam in die Küche geleitet. Beinahe so, wie bei unseren wöchentlichen Kneipenbesuchen. Inzwischen presse ich die Handflächen mit leichtem Druck auf die Lider. Anders ist das Brennen nicht mehr zu ertragen.
Irgendwie habe ich es nach meinem Toilettengang geschafft, mich anzuziehen und mich nach reiflicher Überlegung, wie ich zum Arzt komme, für Melvin entschieden. Er ist ebenfalls arbeitsuchend wie ich und kann mir somit gut als Blindenhund dienen.
„Soll ich es mir mal ansehen“, fragt er noch einmal.
Ich atme schwer. „Trink einfach schnell deinen Kaffee aus und fahr mich zum Doc.“
Ich höre ein Schlürfen. „Hast du es denn mal mit Ausspülen versucht?“
Ich schnaufe und würde ihn am liebsten umbringen.
Er schlürft und redet, irgendwas über Verblitzen der Augen, über kalte Waschlappen, über vorsichtiges Reiben. „Auf jeden Fall nur zur Nase hin“, betont er.
„Trink“, sage ich einfach nur und merke, wie sich Übelkeit in meinem Magen ausbreitet. Die Schmerzen werden unerträglich. Inzwischen ist mir, als würde mein Kopf auseinander bersten. Immer weiter anschwellen, immer weiter, pulsierend, bis er sich mit einem lauten Platsch durch die explodierenden Augäpfel entleert.
„Ich muss gleich kotzen“, würge ich hervor, weiß gar nicht, ob Melvin überhaupt noch da ist. Das Gefühl, hier schon Ewigkeiten am Esstisch zu hocken, entwickelt sich zu einer Gewissheit.
„So schlimm?“ Schlürf.
„Es wird immer schlimmer.“
Ich spüre, wie etwas meine Handgelenke umfasst und zucke zusammen. Melvin lässt nicht los. Sanft ist sein Griff, und erst jetzt spüre ich das Zittern, das durch meinen gesamten Körper zu strömen scheint. Mein Magen verkrampft sich. Ich huste und im selben Moment bricht es aus mir heraus. Glücklicherweise habe ich noch nicht gefrühstückt.
Ich höre, wie Melvin um den Tisch herum auf mich zukommt, kotze erneut sauren Schleim auf den Tisch, und spüre, wie er jetzt die Hände auf meinen bebenden Rücken legt.
„Alter Schwede“, sagt er mitfühlend. „Sag nicht, das kommt von den Augen.“
Ich schluchze und presse die Fäuste gegen das Brennen. Inzwischen ist es wie schmelzendes Eisen.
„Ich rufe den Notarzt.“
Jetzt schreie ich. Wenn ich noch klar hätte denken können, so hätte ich mir die Augen herausgerissen, nur um diesem Schmerz zu entfliehen.
Melvin reißt mir die Hände von den Augen.
„Oh, mein Gott!“, höre ich ihn.
„Was ist es?“, kreische ich ihn an. Ich kann ihn sehen, stelle ich fest. Schemenhaft nur, aber ich sehe, wie er mit auf den Mund gepressten Händen zurückweicht.
Ich blinzle. Ist der Schmerz erträglich geworden? Alles ist verschwommen. Richtig zu bekomme ich die Lider nicht. Aber es tut definitiv nicht mehr so weh. Wie der Schmerz nach einem Tritt in die Eier, der langsam mit jedem Atemzug einer unbändigen Erleichterung weicht.
Melvin stößt mit dem Rücken gegen die Küchenwand.
„Was ist es?“, brülle ich noch einmal. Ich höre, wie mein Freund sich ebenfalls übergibt.
Meine Finger tasten nach meinen Augen. Da ist etwas. Sie berühren es. Tasten. Vorsichtig. Ich keuche. Schmerzfrei. Blinzelnd. Irgendwie kann ich es nicht glauben.
Es sind Haare. Meine Fingerkuppen berühren eindeutig Haare. Und bei jeder Berührung zucken meine Lider. Die Haare fühlen sich borstig an. Mein Herz rast. Mir wachsen tatsächlich Haare aus den Augen.
Melvin deutet zu mir herüber. Immer noch unscharf, wie durch ein Vorhang hindurch, kann ich ihn dort drüben stehen sehen. Ich schließe die Lider und drücke dadurch die Haare hinunter. Sie fühlen sich nass an. Nass, wie meine Wangen.
„Sie …“, höre ich Melvin stottern. „Sie wachsen aus … deinen Augen.“
Ich sage nichts, atme nur stockend. Als ich die Lider wieder öffne, sehe ich Melvin noch immer an der Wand stehen, allerdings nicht mehr ganz so unscharf, wie noch vor wenigen Minuten. Ich sehe ihn einfach, als würde ich durch einen zu langen Pony gucken.
Wieder deutet er in meine Richtung. „Die Haare wachsen aus deinen Augen!“ Fast schon panisch.
Ich will aufstehen, stütze mich auf die Tischplatte und ziehe ruckartig die Hände zurück, als ich in das frisch Erbrochene fasse.
„Ich spüre sie“, sage ich leise.
„Und ich sehe sie, Alter!“ Er presst sich gegen die Wand. „Oh Gott, ist das eklig.“
„Setz dich.“
Er wischt sich mit dem Ärmel über den Mund. „Ich hab gekotzt.“
„Macht nichts. Ich auch.“ Ich habe das Gefühl, ständig blinzeln zu müssen. Die Erleichterung über den nicht mehr vorhandenen Schmerz lässt mich sogar ein wenig lächeln. Okay, mir wachsen Haare aus den Augen, aber im Moment ist alles besser, als dieser Schmerz.
Langsam nähert sich Melvin dem Tisch, zögert einen kurzen Moment, und nimmt dann Platz. Seine Hand zittert, als er nach dem Kaffee greift. Das kann ich erkennen.
Gerne würde ich den Vorhang wegwischen, doch als meine Finger über die Haare gleiten, ist es unangenehm. Ich widerstehe dem Drang, an ihnen zu zupfen.
„Tut es nicht mehr weh?“, fragt Melvin. Die Frage klingt vorsichtig.
„Nein, gar nicht.“ Ich huste.
„Wir müssen zum Arzt damit. Meine Güte, ich kann nicht glauben, was ich sehe.“
„Sei froh, dass du noch was siehst“, sage ich, will über den Gag lachen, doch ein Hustenanfall verhindert dieses. Mein Hals brennt noch immer von der Magensäure.
„Damit kannst du im Zirkus auftreten, Mann.“ Jetzt quält sich auch Melvin ein Lachen heraus.
Ich will etwas sagen, doch wieder muss ich husten. Ich räuspere mich. Irgendwas scheint da in meinem Hals zu stecken. Noch einmal versuche ich, es hinaus zu husten, doch es geht nicht weg ...